Sprache und Sein
Sprache und Sein

Sprache und Sein

Eine 10 auf der Richterskala

Mir brummt ein wenig der Kopf von der Fülle an Themen, die Kübra Gümüşay in ihrem Debüt aufmacht und bespricht. Rassismus, Feminismus, Netzkultur, Bildung, Linguistik, Geschichte, das Private und Öffentliche – Sprache und Sein untersucht nicht nur Einzelfälle, Beispiele oder Phänomene. Sondern erzählt alles: Wie unser Leben, unser Miteinander durch unser Sprechen beeinflusst wird.

Es geht dabei um mehr als eine neu aufgelegte Sprachskepsis, nicht nur um den Wunsch nach einer neuen Art der Ausdrucksweise, der hier eindringlich vermittelt wird. Vielmehr sind es Machtverhältnisse und -missbräuche, Zuschreibungen und Ungerechtigkeiten, die Gümüşay aufzeigt und anhand derer sie deutlich macht: Sprache zu nutzen, heißt, sich Macht zu bedienen. Warum wir uns dessen bewusst werden und aufhören sollten blind zu sprechen, darauf hat sie eine Antwort gefunden: „Weil der Alltag Anlass genug ist“.

Ein Satz, den ich mir merken möchte, den ich mir früher gewünscht und gebraucht hätte, in vielen endlosen Diskussionen.

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Sprache und Sein berührt mich immer wieder tief. Und das nicht nur, weil ich mir bei der Lektüre immer wieder diese junge Frau, deren Lesung mir schon beim PROSANOVA 2020 so nahe ging, vorstellen muss, die einfühlsam und wütend von ihren Erfahrungen berichtet und „immer auf Abruf bereit“ war, „dem nächsten rassistischen Hinriss entgegenzutreten“. Sondern auch, weil sie mir meine eigenen Fehler vor Augen hält und ich mich selbst fragen muss, wann ich jemanden benenne, wann ich Macht ausübe, wann ich Dinge sage oder Gesagtes unterstütze, das ich nicht verstehe, will oder vertrete. Es ist ungewohnt, so viele Fragen, die ich mir oft stelle – und noch so viele mehr, an die ich noch nicht einmal gedacht habe – gedruckt auf diesen Seiten stehen zu sehen. Ungewohnt, bedrückend und gleichzeitig  wohltuend, obwohl Gümüşay an keiner Stelle versucht, universelle Antworten zu finden. Sogar eher davon abrät, absolut zu denken, sondern flexibel, frei.

Trotzdem betont Gümüşay immer wieder, dass zum freien Sprechen ganz besonders eines gehört: Zuhören! Und das vor allem jenen, die aus der Perspektive marginalisierter Gruppen sprechen, wenn sie beschreiben, „was im Schatten geschieht – wofür es manchmal noch nicht einmal Worte gibt. Sie sind Seismografen für Gefährdungen unserer Demokratie.“

Gümüşay macht dabei vor, wie es geht – denn neben den bedacht gesetzten Zitaten und Gedanken bekannter, „großer“ Namen, die schon in der Schule in aller Munde lagen (meistens, wie auch sonst, von weißen Männern), stehen viele, die ich noch nie gelesen, noch nie gehört habe, weil sie eben keinen Platz in unserem Wissenskanon haben. Hier aber stehen sie gleichberechtigt nebeneinander, ergänzen und unterstützen sich und die Autorin gegenseitig mit ihren Stimmen.

Der Bogen, den Gümüşay dabei schlägt –  über ihr eigenes Sprechen und Ländergrenzen hinweg, hinein in die Politik und die Kommentarspalten im Netz, die Talk-Shows und die Literatur und schließlich in den privaten Raum – spannt sich entlang eines Hasses, der immer wieder sprachlos macht. Wie wichtig es ist, trotzdem nicht zu schweigen, beweisen diese 190 Seiten, aus denen ich am liebsten jeden einzelnen Satz abschreiben und mit roten Ausrufezeichen versehen möchte.

Ich habe das Gefühl, was ich lese, ist notwendig.

Bild mit freundlicher Genehmigung von Hanser Literaturverlage