Oder kapitulierendes Kapital in einer nacherzählenden Rezension von Michel Decars Künstlerroman Kapitulation
Es ging darum, dass ich keine Lust mehr hatte, eine Rezension zu schreiben. Ich hatte keine Lust mehr, in Hildesheim zu leben. Das war mir hier zu laut oder zu leise, zu weit oder zu eng, das war nichts mehr für mich.
Ich wollte mein altes Leben ausziehen, so wie man einen Wollpullover auszieht. Ich wollte raus aus dem Alten und rein in das Neue – diesmal wirklich – und lief am Morgen des 2. September 2017 die Lilienthalstraße hoch zum Südstern und von dort weiter zur Urbanstraße. Über meine Schulter hing mein Unirucksack, und in diesem Unirucksack befand sich Kapitulation von Michel Decar. Ansonsten hatte ich keine Bücher dabei. Sie hatten mich nie glücklich gemacht.
Es war viertel nach fünf, als ich die Haltestelle erreichte, und zwanzig vor sechs, als ich realisierte, dass ich den Bus verpasst hatte. Also ging ich nach Hause, wo keiner auf mich wartete. Carassin hatte mir nicht Bescheid gesagt, dass er fahre, so wie er niemanden Bescheid gesagt hatte. Er hatte seinen Schlüssel auf den Tisch gelegt und die Tür leise ins Schloss schnappen lassen, so als erkläre sich alles weitere, sobald er unterwegs war, dachte ich, und ich dachte, ja wieso nicht, wieso eigentlich nicht, einfach losschreiben, ohne nachzudenken, wird schon nicht so schwierig sein.
Jahrelang hatte ich Texte geschrieben, die niemanden interessiert haben. Jahrelang hatte ich geschrieben und geschrieben, ohne einen Cent Aufmerksamkeit mit meinen Texten zu verdienen und jetzt plötzlich – wie aus dem Nichts – sollte ich eine Rezension über Michel Decars Kapitulation schreiben.
Dabei – wer liest denn heutzutage überhaupt noch Rezensionen? Bestimmt nur irgendwelche Sparkassenheinis, die nichts von Literatur verstehen und weil sie nichts von Literatur verstehen, lesen die Rezensionen, um wenigstens etwas zu verstehen und dann kaufen die sich noch nicht mal die Bücher, sondern was weiß ich, irgendetwas anderes halt.
Und jetzt, wo ich zum ersten Mal einen angemessenen Lohn dafür erhielt, musste ich ausgerechnet eine Rezension über Michel Decars Kapitulation schreiben. Was für eine Gemeinheit, dachte ich, insbesondere weil ich es war, der es sich ausgesucht hatte.
Das dachte ich, während ich von Zuhause zu Tipico lief, und dann dachte ich wieder an den Lohn, an die mir versprochene Aufmerksamkeit, die schon bald in meiner Tasche knistern würde. Zuerst dachte ich an die Kapitulation, dann wieder an die Aufmerksamkeit, dann an die Kapitulation, dann wieder an die Aufmerksamkeit.
Als ich im Tipico auf der Sonnenallee ankam, war es inzwischen 18 Uhr und ich auf Ärger aus und László schrieb mir, dass er sich morgen bei mir melden würde.
In den nächsten zwei Stunden blätterte ich kreuz und quer durch Kapitulation, um herauszufinden, ob es hier irgendetwas zu sehen gab.
Ich blätterte also etwas ziellos durch die Seiten, und weil die Dezemberabende in Hildesheim schon ziemlich sibirisch waren, zippte ich mir die Trainingsjacke bis oben zu und nestelte mit den Händen in den Taschen herum, in denen sich noch die, von allen Seiten an geknickte, Zugfahrkarte und der zusammengefaltete Hundert-Euro-Schein befanden.
Und weil ich keine Ahnung hatte, was ich sonst mit dem Abend anfangen sollte, las ich Kapitulation. Ich dachte wohl, dass der Titel ein gutes Omen sei, auf meine Situation bezogen. Denn auch ich hatte ja vor, meine Rezension kapitulieren zu lassen. Nur auf welche Art, wusste ich noch nicht.
Ich hatte ja in Wirklichkeit gar kein Interesse, eine Rezension zu schreiben. Von Rezensionen hatte ich nicht die geringste Ahnung, ich hatte mir das nur in den Kopf gesetzt, um mich an den Sparkassen Heinis und an der Literatur im Allgemeinen zu rächen.
Als ich dann am nächsten Morgen unausgeschlafen vor dem Tipico stand, war mir jedenfalls klar, dass das mit der Kapitulation vor der Rezension eine schreckliche Idee war. Ich wusste gar nicht mehr, was ich mir dabei überhaupt gedacht hatte. 24 Stunden lang hatte ich mir diese Kapitulation als Sehnsuchtsort herbeifantasiert, nur um jetzt festzustellen, dass die Idee von Anfang an schrecklich gewesen war. Und während ich das dachte und vor dem Tipico eine Energydrinkdose der Marke Hell trank, um richtig wach zu werden, fiel mir plötzlich ein, was ich stattdessen machen konnte.
Dann klingelte das Handy acht – oder neunmal. László war dran.
- Mein lieber Diamantis, sagte er, gut, dass ich dich erwische, es gibt aufregende Neuigkeiten. Bei mir ist der Ruhestand ausgebrochen, auf totale und unwiderrufbare Art. Ich gedenke, mich in Zánka niederzulassen, und zwar für immer.
- Aha, brummte ich, und klang dabei wenig überrascht. Und was willst du da?
- Gar nichts will ich, ich bin im Ruhestand, hab ich doch schon gesagt. Und dir, mein Lieber, würde ich empfehlen, herzukommen und es mir gleichzutun.
(…)
- Hör mal, sagte er zu mir, dieses Arbeitspensum, das du dir in den letzten Monaten aufgehalst hast, ist total unnatürlich. Allgemein ist Arbeit unnatürlich. Weißt du, was natürlich ist? Freizeit. Arbeit dagegen ist ein Fetisch, den sich die Rechten ausgedacht haben. Arbeit ist kein essenzielles Bedürfnis, Freizeit ist es. Arbeit ist eine gesellschaftliche Fehlkonstruktion. Komplett aus dem Ruder gelaufen, gegen die Natur, kriminell. Und deswegen, mein Lieber, müssen wir hier ideologisch vorneweg marschieren und den sofortigen und absoluten Ruhestand ausrufen.
Ich fand die Idee unsolide und sagte ihm das so auch. Darauf konnten nur Schriftsteller kommen, die Schriftstellerei an den Nagel zu hängen, weil man einmal abkassiert hat, von den Heinis in der Sparkasse Celle-Gifhorn Wolfsburg, ausgegeben in 75 giftgrünen Hunderten und dass das so ein Eva beißt ins Gemüse, Seele gegen Mephistos Pudel Problem war, war ja wohl klar, denn die Sparkassen Heinis interessierten sich doch gar nicht für Kunst, schon gar nicht für Dinosaurierlyrik und Skoda Gedichte, die machten das nur für Steuersparzwecke und guckten dementsprechend teilnahmslos bei seiner Preisverleihungslesung, sodass ihm nichts anderes übrig blieb als sich aus der Schrecklichkeit, die sich Berlin schimpfte, zu verflüssigen.
Klar, eine Minigolfanlage in die bulgarische Riviera zu planieren, obwohl man immer der Schlechteste in Minigolf gewesen ist, war jetzt nicht die eine Million Euro Idee, aber das eine Marlene in der Taz schrieb, dass Carassin, für sich selbst undurchsichtig, für die Leser aber sehr offensichtlich, an Selbstüberschätzung und Selbsttäuschung litt, dass fand ich dann schon sehr hart. Ich hätte eher gesagt, Carassin, das ist ein an seinen Träumen Gescheiteter, einer, der sieht, wie es sein könnte, wenn nicht immerzu die Bank gewinnen würde.
Dann fragte ich ihn, ob es da wenigstens irgendwelche Schrödinger Girls gäbe?
- Irgendwelche Girls sind genau das, was wir hier nicht brauchen, sagte er streng. Das widerspricht komplett dem Grundgedanken, du hast echt gar nichts verstanden. Sex, Geld, Kunst, alles völlig uninteressant. Hier in Zánka gibt´s was viel Interessanteres abzugreifen, Einheit mit dem Universum, das ewige Leben!
Das fand ich schon sehr komisch, dass er das sagte, er, der erst vor kurzem aus der Lovestory mit der genialen Kaputtmacherin und Künstlerin Mercedes Czeminski ausgestiegen war. Und ich erinnerte mich, wie er damals zu mir gesagt hatte: Ich verliebe mich nur in Frauen, die völlig schrecklich sind, und dann erinnerte ich mich noch daran, wie er ihr, auf die Frage, ob er in ihrer Arbeit irgendwelche Wahrheit sähe, geantwortet hatte: Wahrheit ist nicht mein Genre. Leidenschaft ist mein Genre. Idiotie ist mein Genre, meinetwegen auch Irrationalität. Ja, vor allem Irrationalität.
Und während ich an diese Dinge dachte und am menschenleeren Ufer durch die Nacht schlich, wurde ich plötzlich ganz still und traurig und blieb einfach stehen und setzte mich ins Gras, um von da aus weiter in die dunklen Wellen zu schauen.
Ich fragte mich, ob er es schaffen würde, nie wieder an sie zu denken, wie er es sich vorgenommen hatte und wusste instinktiv die Antwort.
Und dann ist erst mal ein paar Tage gar nichts passiert. Ich kann mich nicht mehr im Detail erinnern, aber ich glaube, am nächsten Donnerstag und Freitag und Samstag ist wirklich überhaupt nichts passiert. Aber einer Rezension entkommt man nicht, selbst wenn man sich ihr zu entziehen versuchte, das merkte ich vor allem, als ich auf die Uhr schaute, die auch den Tag anzeigte und ich merkte, dass mir die Tage ausgingen, dass die mir wie Lászlós 75 giftgrüne Hunderter durch die Finger rannen, und von diesem Moment an dachte ich ständig über die Zeit nach, obwohl ich ja kapitulieren wollte, um nie wieder über die Zeit nachzudenken. Je mehr ich mich dazu zwang, nicht darüber nachzudenken, desto mehr dachte ich daran.
Ich war wütend. Mich kotzte es an, keine Zeit zum Kapitulieren zu haben. Warum wurden mir nur 57 Tage gegeben, warum nicht vier Monate, oder ein halbes Jahr. Mit einem halben Jahr hätte ich jetzt weniger Probleme. Ein halbes oder ein dreiviertel Jahr wären eine anständige Zeitspanne gewesen, aber nein, mir wurden nur 57 Tage gegeben, weil ich mit dieser absurd schiefen Summe gedemütigt werden soll.
Warum 57 Tage? Warum nicht 254 oder 487? Weil sie sich über mich lustig machen wollen, darum. Weil sie mir keinen Kunstpreis verleihen wollten, sondern einen Witzpreis. Nur darum haben sie mir diese Rezension aufgetragen. Aus einer tiefen Verachtung, die jedem innewohnt, der was mit Literatur zu tun hat. Um mich daran zu erinnern, dass sie mich an der kurzen Leine halten für den Rest meines Lebens. Und weil sie wissen, dass mir gar nichts anderes übrig bleibt, als eine Rezension zu schreiben. Obwohl ich diese Rezension am liebsten vor ihren Augen zerreißen würde.
Vor 25 C-&-a-tragenden FAZ-Männern und 25 Peek-&-Cloppenburg-tragenden FAZ-Frauen werde ich meine Rezension mit guter Miene zum bösen Spiel vortragen müssen, während noch der Chlorgeruch des Außenpools in der Luft hängt und sich der DJ schon bereit macht, einen Elektro-Remix on Crocodile Rock aufzulegen. Das, sagte ich zu Onkel Bernát, wird die größte Demütigung meines Lebens sein. Dafür bin ich nicht Schriftsteller geworden. Schriftsteller bin ich geworden, um auf Christian Krachts Rücken über die kasachische Hochebene zu reiten und wahnsinnig arrogante Schriftstellerinnen auf der Piazza di San Silvestro zu verreißen, aber sicher nicht, um hier als Rezensenten Clown aufzutreten, der an seinem Scheitern scheitert.
Dabei wissen alle, dass sie die Rezensionen im Tresor liegen haben – vorgefertigt und auf Halde, zu jedem Text, der bereits geschrieben und der noch zu Schreiben ist. Den hätten sie mir doch freundlicherweise zukommen lassen können, diese FAZ-Rezensenten werden doch sowieso nur geboren, um ausgebeutet zu werden, dachte ich, sie wollen es, sie wollen es. Das ist die Chance, es allen Feuilletonisten dieser Welt zu zeigen. Wenn ich das FAZ – Feuilleton nicht überfalle, wird es jemand anderes tun, und ich werde ohne Rezension bleiben. Und dann dachte ich wieder: Meinst du das etwa ernst? Außerdem hast du gar keine Waffe, willst du die FAZettis vielleicht mit dem Kugelschreiber bedrohen? Und selbst wenn du es schaffen solltest, sind die Rezensionen doch unterschrieben, Idiot!
Ich wollte mir mal ansehen, wie das gemacht wird. Deshalb blätterte ich durch Kapitulation und fragte mich, was wohl László an meiner Stelle tun würde. Was hab ich schon zu verlieren?, dachte ich. Räum doch einfach die verdammte FAZ aus, hinterher wirst du schon wissen, ob´s ne gute Idee war.
Am nächsten Tag saß ich gegenüber der FAZ-Zentrale an einer Bushaltestelle und machte mir unauffällig Notizen. – Da hast du alles, was du brauchst, sagte Onkel Bernát und legte einen Füllfederhalter und ein Blatt liniertes Papier auf den Tisch. – Aha, sagte ich, was soll das heißen? – Die Lösung deiner Probleme, hier ist sie. Das Einzige, was dir fehlt, ist eine Idee. (…) – Gut, also, was soll ich auf dieses Papier schreiben. – Die 1-Million-Euro-Rezension. – Die 1-Million-Euro-Rezension?, fragte ich. Was soll das sein? – Na, die Rezension!, sagte Bernát. Die überragende, alles pulverisierende, total geniale Rezension. Das wirst du da hinschreiben und dann werden die beim Verlag sagen, Mann! Dem geben wir einen Vertrag.
- Willst du es nicht wenigstens einmal versuchen?, sagte Onkel Bernát.
- Nein, sagte ich.
- Nicht ein Mal?
- Nein.
- Versuch´s doch wenigstens.
Und was, wenn Onkel Bernát Recht hat?, dachte ich. Was, wenn es wirklich möglich ist? (…) Wer soll das sonst schreiben?, dachte ich, während ich mich aufsetzte und in meine Jeans strampelte. Wenigstens könnte ich es versuchen. Immerhin das.
Ich feuerte mir ein Tässchen Espresso rein und dachte: So, wie ging das denn? Ach ja, richtig, und wollte diesen Gedanken gleich festhalten, wollte alles hinschreiben, aber da war´s schon wieder weg, da hatte ich es verloren.
Na ja. (…) Da fehlte es an allem.
Dann legte ich das Papier hin und schnappte mir den PS 5 Controller und während ich den Endgegner bei Donkey Kong Land III platt machte, dachte ich, ich fühl´s nicht und László rief an und sagte, ich solle herkommen und sagte,
- Seit Jahren erzählst du bei jeder Gelegenheit, dass die Literatur der einzige Ort ist, um glücklich zu sein.
- Ja, aber nicht für mich, Lászlólein. Ich kenn das doch alles. Hab ich schon alles angefasst und ausgetrunken und liebgehabt.
Dann erinnerte ich mich, dass ich einmal einen alles erklärenden Gedanken gehabt hatte, der nun ja wirklich alles erklärt hätte, aber den ich jetzt nicht mehr so ganz auf die Kette kriegte, und ärgerte mich, dass ich ihn damals nicht sofort aufgeschrieben hatte, aber ich ärgerte mich nur kurz, weil ich dachte, dass wenn ich ihn aufgeschrieben hätte, gemerkt hätte, dass er nicht so gut war, dass er nicht alles erklärte, womöglich nicht mal viel, beinahe gar nichts und dann dachte ich, dass ich das vielleicht schon beim Denken gewusst hatte, dass der alles erklärende Gedanke nicht so gut war, dass der nicht alles erklärte, womöglich nicht mal viel, beinahe gar nichts, und weshalb ich ihn quasi aus Selbstschutz nicht aufgeschrieben hatte und das beruhigte mich.
Dann aus Versehen, ich hatte selbst nicht mehr daran geglaubt, fing ich an zu schreiben.
Ich saß auf dem Klo und Kapitulation lag auf meinen nackten Oberschenkeln und ich dachte mir, ja genau so muss sich ein Buch auf den nackten Oberschenkeln anfühlen, dieser Rauheit, die hat nicht jeder, die allermeisten sind so glatt, dass man sie gar nicht fühlt, wenn sie auf den nackten Oberschenkeln liegen, aber dieses hier, das fühlt man, da weiß man, dass da was auf den nackten Oberschenkeln liegt, das liegt da nicht nur, das wärmt einen sogar, ja, das ist Haptik, dachte ich, Haptik ist das und wie ich sah, wie das Mondlicht durch die Vorhänge auf die Haptik fiel, dachte ich, genau das ist es, das ist, was ich seit drei endlos langen Wochen schreiben will, was sich aber auch nicht in 3000 Wörtern schreiben lässt, komplett unmöglich, nicht machbar, und warum auch, wenn ich es gerade erlebe (…).
Und vom Einband starrte mich so ein Typ vom Spielautomaten aus an, so als denke er, ja charmant, hässlich, aber charmant und so wie er halb auf den Spielautomaten gelehnt da stand und durch seine braun geränderte Sonnenbrille herüber sah und gleichzeitig auf eine Taste des Spielautomaten drückte, so als bringe da hinsehen auch nichts, so als mache es keinen Unterschied, ob man dem Glück hinterher sah oder nicht, weil es sowieso kommt und geht wie es will, kam es mir vor, als ob er sowas sagen will wie, sagen Sie mal, wieso gucken Sie mir eigentlich zu und das fand ich dann doch schon sehr scharf, dass er mich das fragte und ich stellte mir vor, dass Kafka an diesen Einband gedacht hatte, als er das mit den Rasiermessern sagte und ich sagte mir, dass ein gewisser Christian Kracht über einen solchen Mann bestimmt gesagt hätte, das er wie ein ganz schlauer Bursche aussähe.
Das ist ein Anfang, dachte ich, so könnte es beginnen, mit dem Einband. Ich las mir die Zeilen noch einmal durch und stellte fest, dass ich eigentlich gar nicht wusste, wer dieser Christian Kracht war.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, konnte ich den Einband-Prolog nicht mehr leiden. Ich (…) lief manisch im Studio auf und ab, und rief immer wieder: Nein, nein, nein!
Ich dachte, man müsste so einen scharfen Blick haben wie László Carassin, einen Blick, wie ein Peitschenhieb, Peng, der allen in die Augen schaut, um zu enträtseln, was dahinter los ist, um zu verstehen, was es bedeutet ein Schriftsteller im 21st Century zu sein, der mit einem Blick erkennt, dass Transformers 5 komplett schrecklich, dass der Mittelteil von Anna Karenina total verpfuscht und dass „Aus dem Leben eines Taugenichts“ komplett unrealistisch ist.
- Kennt ihr euch eigentlich?
- Wer?
- Du und Michel Decar?
- Wer ist Michel Decar?
Michel Decar ist Verfasser der Werke Tausend deutsche Diskotheken (in dem, so munkelt man, repetitiv viel gesoffen wird) und Die Kobra von Kreuzberg, Vater zahlreicher Hörspiele unter anderem eines über Philipp Lahm (in dem weder Fußball noch sonstiges passiert und gleichzeitig alles), Fahrzeughalter eines taubenblauen Alfa Romeo Spider, Dauermieter im Residenztheater München, Schauspiel Frankfurt und Thalia Theater in Hamburg, Hauptdarsteller einer nach ihm benannten Realityshow, für Späße und Skandale nie zu schade, permanenter Unruheherd, öffentliches Ärgernis, Pleitegeier, Trunkenbold, Gegenpapst, Herumtreiber und Herumschrauber, freier Rhythmus, alte Seele, explodierender Stern und 1987 in Augsburg Geborener.
Ich besaß jetzt noch ein paar Wörter (…) und während ich die Kapitulation in der Hand hielt, wurde mir klar, dass ich auch diese Wörter loswerden musste.
Ich bestellte mir ein Taxi und fuhr damit (…) zum nächsten Wettbüro. Es lief gerade eine Übertragung aus Buenos Aires und ich riss die Seiten aus Kapitulation und setzte 100 Seiten auf einen Außenseiter. Natürlich verlor ich, aber jetzt ging es mir besser. Beim nächsten Rennen wettete ich auf den Favoriten und verlor wieder. Das war gut, sogar sehr gut, so konnte es weitergehen. Keinen Gedanken wollte ich mehr an die Rezension verschwenden.
Und überhaupt, wieso muss man immer alles bewerten? Das ist doch sowieso Wahnsinn mit dieser ewigen Bewerterei. Und dann, ganz kurz, überlegte ich, wieder zu verschwinden. Mich umzudrehen und einfach abzuhauen. Noch weiß niemand, dass du hier bist, dachte ich, noch kannst du gehen.
Und gerade als ich das dachte, dachte ich, dass ich das schon gedacht hatte und sowieso immerzu bewertete und ja vielleicht hatte das auch was mit dem Kapitalismus zu tun oder auch das mit den Träumen haben und ihnen nachjagen im Wissen, das die anderen Träume davor schon gescheitert waren – dieses an seiner Liebe festhalten, war das nicht der american dream, das, du kannst alles schaffen, was du willst, wenn du nur an den Balaton, Nikosia oder Odessa reist und dir zu jedem Ort ein neues Outfit zulegst, das, die Scheine müssen weg um jeden Preis, wo zehn linierte, mit 1-Million-Euro-Gedichten vollgeschriebenen Notizhefte wie ausgetrunkene Mescal Flaschen zurückgelassen wurden, weil das was Wert hatte 75 giftgrüne Hundert-Euroscheine waren oder 20 Jahrgänge des Uhren-Magazins und deshalb bekam man für Kritik auch Geld und wenn man Kunst schaffte, bekam man manchmal Geld und viel öfter keins, denn so ging das Business der Fleischtöpfe, ein ständiges Taxieren war das, dabei schrieb man doch um den taxes zu entkommen und wenn das nicht ging, blieb einem nichts anderes übrig als zum Gambler zu werden und ein gambling problem zu bekommen wie Onkel Bernát, ein paar Autos, ein paar Sparkonten und die Wohnung einer Ex-Frau in München-Harlaching zu verspielen und dazu Schulden bei einem Kredithai durch einen Kistenschlepperjob abzuleisten und trotz allem noch ans Glück zu glauben und ich dachte, ja genau, das ist der Kapitalismus und der hat sich die Literatur schon längst einverleibt, da hilft auch keine Kapitulation mehr.
Vielleicht, dachte ich, (…) würde die Rezension nur aus einem Wort bestehen. Vielleicht auch nur aus einem Emoji. Ja, dachte ich, ein Daumen nach oben oder nach unten. So wie bei den Gladiatoren. Diese Rezension würde nur aus einem Daumen nach oben oder nach unten bestehen. Ein Daumen, der wie die Sonne am Himmel steht. Eine unkontrollierbare Gewalt, die in Form von Schönheit, Energie und Love auf den Planeten niederregnet und die Menschen vergessen lässt, was sie sind: (…)
Mehr brauchte es nicht. Eventuell müsste noch ein Wort folgen. Vielleicht ein knackig gesprochenes „Kaufbefehl“ oder ein zackiges „Ja“ oder ein kumpelig nickendes „Hm“.
Angetrunken und abgerissen, in meinem weißen Mohairpullover, zufrieden vor mich hin brummend, kam ich auf ihn zu, Carassin, er stand an der Tür und sah so aus, als überlege er, einfach wieder zu verschwinden. Wir schauten uns für ein paar Sekunden an, als hätten wir ganz vergessen, wie wir aussehen. Und dann sagte ich:
- Und wie war die Reise?
Und er seufzte wie ein Mann, der die Welt gesehen hat, jedenfalls Zánka, Nikosia und Odessa.
Und ich sagte, Michel Decar, der hat Stil, der schreibt so etwas mit Leichtigkeit und Freddo Espressos und Brandy Sours und zum Frühstück eine Ibu und Carassin sagte, also gut, dann werde ich jetzt mit einem Baseballschläger zu Michel Decar seinem Auto fahren und die Windschutzscheibe und die Heckscheibe und vielleicht auch alle Seitenfenster plus die beiden Rückspiegel komplett kaputt hauen. Bist du dann glücklich?
Nein, sagte ich, denn mir war ein Licht aufgegangen, ich hatte sozusagen eine Erleuchtung. Schau, sagte ich mir, ist dieser Michel Decar nicht genauso Teil der schrecklich schönen Welt? Einer Welt, in der es guter Ton ist ständig effektiv zu sein, ständig produktiv. Das ist Teil der kapitalistischen Logik des stetigen Wachstums, ob im 9 to 5 Job oder in der Kunst und auch du, Lászlólein entkommst dem nicht. Du bist dazu gezwungen immerzu in immer neuen Schaffensphasen Gedichte zu produzieren, obwohl, seien wir doch ehrlich, Schreiben noch langweiliger ist als Philipp Lahm, und deshalb ist es so wichtig einen Freund wie Michel Decar zu haben, der einem die Tür aufschließt, auch wenn er selbst keinen Schlüssel hat.
Und ich dachte mir, wenn es diesen Michel Decar nicht geben würde, müsste man ihn erfinden.
In diesem Zustand, erschöpft und vollkommen leer, sank ich zurück und las die 25 oder 30 Seiten, die ich an diesem Tag geschafft hatte, noch einmal durch und dachte sofort: Katastrophe, totale Katastrophe, unbrauchbar, komplett unbrauchbar, und strich die Seiten entweder ganz oder teilweise durch, bevor ich das Schreibheft in einem Wutanfall gegen die Tischkante knallte.
Fuck it of
Und Carassin sagte, neben Mercedes Czeminski bist du der zweitgenialste Kaputtmacher.
Und danach: Erinnerst du dich noch, als du an meine Tür klopftest und vollkommen aufgewühlt warst, weil du gerade ein Buch zu Ende gelesen hast, ich glaube, es war Kapitulation von Michel Decar und das du wolltest, dass ich das auch lese, weil es so todtraurig und toll gewesen ist?
Und erinnerst du dich, dass ich sagte, dass du in Zukunft besser nur noch Sachen liest, wo überhaupt nichts passiert. Wo alle zu Hause bleiben und früh ins Bett gehen?
Und?, fragte er. Hast du den Ikea-Katalog gelesen?
März, 2023, 217 Seiten, Hardcover
Michael Decar
Michel Decar, geboren 1987 in Augsburg, ist Autor und Regisseur. Er schrieb die Romane Tausend deutsche Diskotheken (2018) und Die Kobra von Kreuzberg (2021), zahlreiche Hörspiele für Deutschlandfunk Kultur sowie Theaterstücke für das Schauspiel Frankfurt, das Residenztheater München und das Thalia Theater Hamburg.