Was ist mit den Falten? Die müssen immer raus. Gebügelt, gestrafft, geliftet, retuschiert. Du siehst ganz knitterig aus, Oma, sagte meine Tochter. Ich falte das Papier. Ich mache einen Knick hinein und schlüpfe in die Falte. Einige Buchstaben sind jetzt gestückelt und die Wörter rau. Da bin ich zuhause. Und ich suche in den Kartons nach Knicken und Falten. Die Kartons mit den Toten sind gestapelt, in mehreren Reihen, bis zur Decke hoch im gekühlten Raum. Manchmal sind sie leicht verschoben, doch alle gehen mit großer Umsicht an den unbeschrifteten, doch sorgfältig geordneten Kartons vorbei, damit ihre glatte Oberfläche nicht beschädigt wird. Ihre Oberflächen sind glatt, aber ihre Farbe spricht anders.
Wir haken uns unter und stoßen uns vom Geländer ab. Die frisch geschliffenen Kufen schneiden in den wässrigen Spiegel der frisch abgezogenen Eisfläche. Wir sind die ersten, unsere Linien schreiben sich in die Fläche, wir werden das Eis schreiben, allein wir beiden, denken wir. Als wir uns mitten auf der Fläche umdrehen, sind wir schon nicht mehr die einzigen. Von allen Seiten stoßen sie dazu, schmale schwarze Läufer, von den Rändern in die Mitte, die schon keine mehr ist. Sie bewegen sich vorsichtig, so wie wir, denn niemand weiß, wie fest die Eisdecke ist, wie tief der Frost reicht. Mit großer Umsicht beschriften wir die Fläche, hier draußen im Zufall.
Viele Falten schaffen Verbindungen. Mehr als wenige. Wir erwarten keine Vielfalt. Es sei denn, wir wollten sie konsumieren. Deshalb schafft Vielfalt rasch Zonen unangenehmen Engagements, in denen Wörter, die da hinein gefaltet werden, etwas anderes bedeuten. Kulturelle Reibung ist vorübergehend. Sie entsteht aus Begegnungen und Interaktionen. Sie taucht überall dort auf, wo wir sie eben nicht erwarten. Die Ereignisse wechseln. Wir beobachten Patchwork und Zufall.
Auftauchen und Abtauchen. Die Feuchtigkeit in der Falte.
Wir haben in unserer Lunge einen Schutzengel. Es ist unmöglich, sich willentlich zu ertränken. Ich muss mich mit Gewichten behängen, wenn ich in den Brunnen springe und vorsätzlich unter Wasser bleiben will. Oder so weit rausschwimmen, dass ich nie wieder zurück kann. Anders geht es nicht, denn etwas sitzt in unserer Lunge, ein Überlebenswille, eine unbezwingliche Lust am Atmen, die sich gegen jeden Willen durchsetzt. (Alexander Kluge)