Katrin Röggla begibt sich in ihrem neuen Roman Laufendes Verfahren in den Zuschauerraum des OLG München während des NSU-Prozesses.
Es ist fünfeinhalb Jahre her, dass das letzte Wort im NSU-Prozess gefallen ist. Der Prozess gegen die Hauptangeklagte Beate Zschäpe als letztes Mitglied der nationalsozialistischen Terrorzelle und die vier Neonazis, die ihr Beihilfe leisteten, war das wichtigste, längste, größte Verfahren der Geschichte der Bundesrepublik. Kathrin Röggla zweifelt, ob das Gericht das Geschehene überhaupt adäquat fassen kann — fällt nicht immer zwangsläufig etwas hinten über? Das Verfahren umfasst Ereignisse aus dreißig Jahren und über eine Millionen Akten. Der NSU-Prozess ist überkomplex. Wie kann ein Roman zu diesem Stoff funktionieren?
Das Gericht als Bühne, seine ritualisierten Abläufe, die Verhandlung als Inszenierung — diese Beobachtungen haben Röggla dazu gebracht, sich mit dem NSU-Prozess in Form eines narrativen Text auseinanderzusetzen. Ihre Recherchen begannen 2017. Ein Jahr vor Ende des Prozesses begab sie sich selbst in den Zuschauerraum, in dem ihr Roman spielt. Es folgten Gespräche mit Prozesszeug:innen, Rechtsanwält:innen, Journalist:innen und anderen Beobachter:innen.
Wer in Rögglas Roman dokumentarische, eindeutige Erzählungen vom Prozessablauf erwartet, liegt falsch (kann aber nachrecherchieren, dank der sorgfältigen Dokumentation jedes einzelnen Prozesstages). Die Beschreibungen der Vorgänge im Gerichtssaal sind vage, sie spiegeln den absolut unzureichenden Wissensstand der Beteiligten, die großen blinden Flecke, die durch das Schweigen der Zeugen und das der Behörden entstehen. Dieser „Zustand des nicht-ausreichend Informiertseins“ wird auf die Lesenden übertragen. Dass das unbefriedigend ist, liegt in der Natur der Sache.
Täter, Angeklagte und Komplizen werden zu „Jemand“, „dem einen“ oder „der anderen“. Dass das Trio unmöglich alleine gehandelt haben kann, dass die Ermittlungsbehörden in die Taten verwickelt waren, dass die Polizei zunächst gegen die Familien der Opfer ermittelte, die längst verstanden hatten was passiert — All das klingt an und bildet die bedrohliche Kulisse des Romangeschehens. Aber es geht diesem Text nicht um den konkreten Prozessablauf. Laufendes Verfahren ist eine Beobachtung der Beobachtenden.
Es erzählen diejenigen, „die man nicht wirklich wahrnimmt im Gericht, aber von denen man weiß, dass sie da sein müssen“. Die interessierte Zivilgesellschaft, die uninformiert Hereingestolperten, die Antifas auf Exkursion, die Gesinnungsgenossen der Angeklagten, die Juristen mit fachlichem Interesse. Alle, die dem Rechtsstaat beim Wirken auf die Finger gucken wollen, werden von Röggla zu einem „Wir“ zusammengefasst, das die Außenwelt in den Gerichtsraum trägt — und das durchaus buchstäblich.
Oft geht es um Naziparolen auf T-Shirts im Zuschauerraum, die vom Gericht geduldet und vom Wir übersehen werden. Darum, welcher Kugelschreiber jetzt genau mit ins Gericht genommen werden darf, wer einen Laptop mitnehmen kann und wer nicht. Der Gegensatz von draußen und drinnen, das Betreten des Gerichtgebäudes wird immer wieder thematisiert. Dabei wirkt das, was geschildert wird, oft unangenehm trivial gegenüber dem, von dem wir nicht erzählt bekommen, aber von dem wir wissen, dass es verhandelt wird.
„Wir werden diesen Ort, der unsere Demokratie absichert, betreten müssen, denn betreten haben wir bisher eher so ein Rechthabenwollen, […] und unsere Sehnsucht nach dem Urteil, die uns hierhergeleitet hat“.
So kündigt sich das Wir im Gerichtssaal an. Da ist der konservative Gerichtsopa, der ohnehin immer schon Stammgast im Oberlandesgericht ist. Der O-Ton-Jurist, der das Geschehen im Zuschauerraum ständig auf seine Verfahrenskonformität prüft. Der Bloggerklaus, der immer alle Hintergrundinfos kennt. Die Vornamenyildiz, die später Grundsatzyildiz und noch später Antifayildiz heißt. Ihre Stimmen fügen sich zusammen zu einem vielstimmigen, sich selbst stetig widersprechenden Redefluss. Dass das Wir den beobachteten Prozess nicht einhellig einordnen kann, versteht sich von selbst.
Die Figuren sind zunächst Typen, sie repräsentieren bestimmte Positionen zum Geschehen im Gerichtssaal. Sie befreunden, unterhalten, streiten sich oben auf der Zuschauerempore. Das Wir wird kontinuierlich auf die Probe gestellt, durch seine eigenen Mitglieder hinterfragt und kritisiert. Gegen Ende halten die Figuren jeweils ihr eigenes Schlussplädoyer. An diesen Stellen ist der Text am konkretesten, und dadurch auch am stärksten.
„Wenn das Gericht beginnt, setzt automatisch eine Vergangenheitsform ein“, erklärt ein Jurist in Rögglas Roman. „Über Zukünftiges kann man nicht richten, das ist ja logisch, die Sache muss als abgeschlossen definiert sein“. Akteure der Zivilgesellschaft fordern hingegen: „Kein Schlussstrich!“. Das Gericht und der gesellschaftliche Diskurs gehorchen unterschiedlichen Grundsätzen. In der Hauptverhandlung des Gerichts sind „im Prinzip schon alle Würfel gefallen durch die Anklageschrift, die einen engen Zirkel gezogen hat um ein Trio, ein kleines fachmännisches Trio mit vier mutmaßlichen Helfern, das das alles alleine angestellt haben soll“.
Dieser Endgültigkeit setzt die Erzählstimme das Futur Zwei entgegen. Sie hat immer einen genauen Überblick darüber, was passiert sein und wer sich wie verhalten haben wird. Diese Erzählform, in der das Verfahren gleichzeitig entschieden ist und noch geschehen wird, wirkt unheimlich-prophetisch. Sie drückt die Spannung zwischen dem abgeschlossenen Prozess und den vielen offen gebliebenen Fragen aus, sie ermöglicht „Einschusslöcher des Realen“ in das sonst so hermetisch abgeschlossene Prozessgeschehen. Röggla nennt zahlreiche Bezüge auf rechte Gewalt in Deutschland seit dem Urteilsspruch.
Der NSU2.0 wird erwähnt, genauso wie Querdenken-Proteste und die Anschläge in Hanau und Halle. Zukunft und Vergangenheit laufen zusammen in der Gegenwart des Gerichts.In Laufendes Verfahren beschreibt Kathrin Röggla die Diskurse um den NSU-Prozess vielschichtig und komplex. Der Text erzeugt Spannungen — zwischen Gericht und Zivilgesellschaft, zwischen Urteilsspruch und Kontinuitäten, zwischen den Einzelnen und dem Wir — und löst sie nicht auf.
Ihre Erzählweise unterläuft die abgeschlossenen, ritualisierten Vorgänge des Gerichts. Die Leseerfahrung ähnelt vermutlich der, die die Prozessbeobachter:innen selbst immer wieder machten: offene Fragen, vage Eindrücke und das Wissen, dass der NSU-Aufarbeitungsprozess lange nicht vorbei ist. Und so kommentiert der Roman das Ende selbst: „Ihr könnt doch jetzt wirklich nicht behaupten, dass es das jetzt war“.
S. Fischer, 2023, 204 Seiten, Hardcover
Kathrin Röggla
Kathrin Röggla, geboren in Salzburg, arbeitet als Prosa- und Theaterautorin und entwickelt Radiostücke. Für ihre literarischen Arbeiten wurde sie mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Preis der SWR-Bestenliste (2004), dem Arthur-Schnitzler-Preis (2012) und dem Wortmeldungen-Literaturpreis (2020). Bei S.FISCHER erschienen zuletzt: die alarmbereiten (2010), Besser wäre: keine (2013) und Nachtsendung. Unheimliche Geschichten (2016). Kathrin Röggla ist seit 2015 Vize-Präsidentin der Akademie der Künste in Berlin und seit 2020 Professorin für Literarisches Schreiben an der Kunsthochschule für Medien in Köln.