«Nein, da steht:
„David (Sohn) kommt morgen, 24.12. Gegen Mittag.»
«Sieh an, ich bekomme also Besuch, wie schön!»
«Er ist schon da, dein Besuch.
Ich bin’s doch. Ich bin dein Besuch. Ich bin dein Sohn!»
«Stimmt. Du bist es ja. Hatte ich kurz vergessen.»,
sagt er und schaut mich an,
als ob er sich nicht ganz sicher wäre.
Langsam und still, so entschwindet dem früher so starken Familienvater die Erinnerungen an sein Leben – an die Familie, die Freunde, die Arbeit. «Eine Familie, die einen Rollentausch erlebt», das beschreibt David Wagners autobiografischer Roman «Der vergessliche Riese». David Wagner, so heißt auch der Protagonist im Roman, nimmt seinen Vater an die Hand, eine Hand, die «[ihm] nun gar nicht mehr so groß vorkommt wie früher. Sie war mal riesig, jetzt fühlt sie sich an wie eine Kinderhand.»
«Du glaubst nur deiner Erzählung.»
«Du kennst dich in meinem Leben jetzt also besser aus als ich?»
Drei Jahre. Solange begleitet der Roman Vater und Sohn. Zwei Jahrzehnte haben sie sich kaum gesehen, jeder hat sein Leben gelebt, doch jetzt nähern sie sich wieder einander, erleben einen Neuanfang. David ergreift die Hand seines Vaters, nimmt ihn mit, ja, er kennt sich in dessen Leben nun wirklich besser aus. Er erzählt ihm von seiner ersten Frau, von seiner Zweiten, den Kindern, den Geschwistern, der Arbeit, besucht Orte, füllt zusammenhangslose Erinnerungen mit Leben. Stück für Stück sammelt er die Scherben des alten Leben des Vaters auf, fügt es zusammen wie ein Puzzle.
«Weißt du, Freund, ich vergesse alles.
Ich schreibe mir Sachen auf, damit ich sie nicht vergesse –
und dann vergesse ich, dass ich sie aufgeschrieben habe.
Es ist, wie Tante Gretl gesagt hat:
Die Dublany sind intelligent,
im Alter aber werden sie alle blöd.»
Mal erzählt der Vater von Terroristen, die Davids Mutter versteckt hielt, bis sie Jahre später in der DDR verhaftet wurden oder wie er um ein Haar an einer Straßensperre erschossen wurde. Dann ist er verwirrt, kennt den Ort, in dem er lebt, nicht, weiß nicht, wie seine erste Frau hieß, oder seine Zweite. Anfangs sind es nur Namen oder Orte, die dem vergesslichen Riesen nicht einfallen, anfangs kann er Zuhause wohnen bleiben, polnische Haushaltshilfen ziehen ein und aus, dann kommt der Vater in ein Heim.
«… ertappe mich bei einem miesen Überlistungstrick:
das Kind ablenken oder bestechen,
um es dazu zu bringen, etwas zu tun,
worauf es keine Lust hat.»
Das Leben mit einem an Demenz erkrankten Verwandten und was es aus einem macht, damit setzen sich in den vergangenen Jahren viele Romane auseinander. Ähnlich wie David Wagner beschreibt Arno Geiger in seinem Roman «Der alte König in seinem Exil», wie seinem Vater langsam sein Leben entgleitet und wie Geiger ihn auf diesem Weg begleitet. Und auch Saša Stanišić beschreibt in seinem mit dem Deutschen Buchpreis 2019 ausgezeichneten Roman «Herkunft» die Beziehung zu seiner an Demenz erkrankten Großmutter.
«Deine Mutter war meine erste Frau, oder?
Sie hieß … sie hieß … –
ja wie hieß sie noch mal?
Und wie hieß meine zweite Frau?»
«Sie hieß … – hab ich vergessen, Papa.»
«Fängt das bei dir auch schon an?
Ist das nicht ein bisschen früh?»
«Es fällt mir sicher wieder ein.»
Behutsam, aber eindringlich, so erzählt Wagner von Zeit und Abschied und Loslassen. Von der Vergesslichkeit des Vaters und von der Nähe, die es zwischen Vater und Sohn schafft. Hauptsächlich in Dialogen gehalten und mit leiser Komik. Wagner schafft eine beeindruckende, lebendige Lektüre, die trotz der schweren Thematik, leicht und mit Kraft erzählt wird und nicht umsonst Preisträger des Bayerischen Buchpreises 2019 in der Kategorie Belletristik ist. Der Sohn kann langsam Abschied nehmen und doch bleibt der Vater. «Der Vergessliche Riese» schafft tröstend und beruhigend ein gelungenes Andenken an ihn.