Eva wird von einem Mann angegriffen, sticht ihn in Notwehr nieder und fliegt ins Ausland. Doch statt die Aufarbeitung eines traumatischen Erlebnisses zu erzählen, setzt Glas schon zu Beginn erste Irritationsmomente. Denn Evas Freundin Mirjam spricht von der vermeintlichen Flucht als Urlaub und scheint von dem Angriff nichts zu wissen. Womit Zweifel aufkommen, ob der Vorfall so überhaupt stattgefunden hat.
Endgültig kippt die Erzählung ins Ungewisse, als Eva bei einer Verkehrskontrolle angehalten wird und von einem Polizisten, der plötzlich ihr Angreifer ist, aus dem Auto gezerrt wird. Denn als sie nach Kampf und Ohnmacht wieder aufwacht, liegt sie zwar im Krankenhaus, doch für ihr Umfeld hatte sie einen Verkehrsunfall.
Von da an durchdringt Unsicherheit jede Szene, jedes Gespräch. Nie ist ganz eindeutig, was real ist, was Halluzination. Wobei sich die Ambivalenz bis in die Erzählperspektive hineinzieht, denn immer wieder schiebt sich ein Ich in die personale Erzählung, kommentiert oder gibt offen zu, Details vergessen zu haben. Die Verortung bleibt lange Zeit unklar. Handelt es sich um eine ältere Version von Eva, die auf ihre Vergangenheit zurückblickt?
Insofern findet Verena Prantl eine überzeugende Struktur für Evas zerfallenden Realitätsbezug. Auch indem er Passagen aus ihrem von Paranoia, Angst und Selbsthass geprägten Tagebuch in den Erzählfluss schaltet. Nie ist sie gut genug für die Beziehung mit anderen Menschen, für ihre Aufmerksamkeit und Liebe. Selbst als sie Aaron kennenlernt, spielt Eva die Beziehung primär in ihrem Kopf durch. Dabei verstrickt sie sich so lange in Verlustängste und Minderwertigkeitskomplexe, bis sie sich von Aaron trennt. Ein Schutzreflex, um nicht selbst verlassen zu werden.
Leider bleibt Glas in manchen Szenen merkwürdig detailarm. So ist ein Konzert schlicht „wunderschön“. Obwohl der Besuch für Eva eigentlich ein wichtiger Moment ist – sie hat ihn sich nach vielen Zweifel zugetraut. Und bei der romantischen Annäherung zwischen Eva und Aaron hat die Erzählinstanz vergessen, ob Aaron etwas gesagt hat oder nicht. Dadurch ist nicht klar, ob die Momente der Verwirrung, die beim Lesen auftreten, Absicht sind oder Ergebnis einer zu geringen sprachlichen Anschaulichkeit.
Hinzu kommen die Reflexionspassagen, die den Text, vor allem in Form der Tagebucheinträge, durchziehen. Diese kranken wiederholt an einem seltsam didaktischen Tonfall: „Also ist der Akt des Nichtsstuns, das Unterlassens einer egoistisch motivierten, vielleicht gut gemeinten Handlung, der größte und gleichzeitig am schwierigsten zu erbringende Beweis der Selbstlosigkeit.“ Oder auch direkt zu Beginn: „Er [der Mensch] ist zu unmündig in seinem eigenen Denken, um über die Grenzen seines Verstandes hinzublicken.“
Dadurch bleibt Evas Gedankenwelt, trotz intimer Einzeleinblicke, insgesamt auf Distanz. Ihre selbstverschlingende Paranoia wird angerissen, aber nicht ausreichend ausgeleuchtet, um sie wirklich nacherleben zu können. Womit Glas zwar spannende Ansätze für unzuverlässiges Erzählen findet, als Innenschau einer Person mit Wahnvorstellungen aber nicht restlos überzeugt.
Septime, 2023, 216 Seiten, Hardcover
Verena Prantl
Verena Prantl wurde 1996 in Hall in Tirol geboren und lebt seit 2016 in Wien. Sie schloss ihr Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaften an der Universität Wien ab und veröffentlicht seither auf ihrer Webseite zahlreiche Essays und Kurzgeschichten.