Pascal Richmann, ein ehemaliger Student der Schreibschule Hildesheim, hat im letzten Jahr den Roman-Essay Über Deutschland, über alles veröffentlicht. Das Buch war zentrales Thema eines Seminars im vergangenen Wintersemester, welches gleichzeitig auch ein Social-Reading Experiment war. Wir lasen das Buch auf der Website Mojoreads und hatten die Aufgabe, es dort zu kommentieren. Während der wöchentlichen Sitzungen besprachen wir die Kommentare und unsere Erfahrungen mit dem sozialen Lesen. Parallel begannen die Lesung zu planen, die am 24. April 2018 stattfindet. In dem Buch ist der Ich-Erzähler Pascal Richmann in ganz Deutschland und über die Grenzen hinaus unterwegs und besucht Orte und Menschen, denen man im Alltag (zumindest in meinem Alltag, ich weiß ja nicht, wo andere sich herumtreiben) weniger über den Weg läuft: Pegida, Hooligans und Burschenschaften, Heinrich Heine und Holger Apfel, New York, Mallorca, Helgoland und Hassloch und noch viel mehr.
Ich sitze morgens mit Kaffee am Tisch und, während ich mir stellvertretend erst Faulheit, dann Dummheit und schließlich Irrsinn vorwerfen lasse (Liebevoll gemeint. Es geht darum, dass ich mir lieber mehrere kleine Kaffee mache, als einen Großen), denke ich oder versuche ich zu denken. Ob ich überhaupt zuhöre, werde ich gefragt. Ich verneine wahrheitsgemäß. Wir schweigen eine Weile gemeinsam, dann bin ich schließlich allein. Ich sitze und brüte.
In den Händen halte ich mein gedrucktes Exemplar von Über Deutschland, über alles und blättere wahllos. In meinem Kopf kreist die falsche Frage, die in den Kommentaren (digital und analog) wieder und wiederholt wurde: Hat Pascal Richmann das wirklich erlebt? Zu anfangs gingen wir im Seminar davon aus, dass es so wäre, doch im Laufe der Zeit wurde uns nahe gelegt, es zu überdenken. Daraufhin folgte die nächste falsche Frage, nämlich, was wir davon hielten, dass der Autor Pascal Richmann nicht das erlebt hat, was er im Buch “vorgibt” getan zu haben. Man hatte fast das Gefühl, hereingelegt worden zu sein. Wenn er es nicht wirklich erlebt hat, wie sollte man dann seine Aussagen bewerten? Galten sie dann überhaupt?
Intendiert aufgestellt oder nicht, wir waren geradewegs ins Fettnäpfchen getreten und verwechselten frisch und frei Autor und Figur, nur weil sie den selben Namen trugen. Und wir waren nicht die Einzigen. Der Autor erhielt Anfragen zum Thema, wie man denn mit Rechten reden könne, da er das doch anscheinend so gut könne. Steht ja in seinem Buch. Nur steht da nirgendwo, dass es eine Autobiographie ist. Es steht sogar ganz zu Beginn: “Alles erfunden, na klar”. Na klar, nicht klar. Vielleicht hätte man in einer Fußnote dazuschreiben sollen “Die Personen und Handlungen sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten oder lebenden und verstorbenen Personen sind rein zufällig.” Jetzt klar?
Klar sind in dem Buch fiktionale Passagen geschickt bespickt und verwoben mit Fakten, Erwähnungen und Beschreibungen von Videos und Artikeln, Orten und Ereignissen, die man nachprüfen kann.
Das im Zusammenspiel mit den Situationen, die außerhalb der Recherchereichweite liegen (vermutlich weil fiktional), aber in so überzeugendem Stil verfasst sind, dass sie ein Bild malen, das absolut glaubhaft ist.
Somit könnte die Verwirrung, die entstand, einerseits als Kompliment aufgefasst werden. Nachdem die Leser*innen den Fehler begangen und Autor und Figur gleichgesetzt hatten, kamen sie kaum dazu, dies zu bezweifeln. Das zeugt von Authentizität. Andererseits kann ich sehr gut nachvollziehen, wenn das mit der Zeit an des Autors Nerven nagt. Im vergangenen Semester habe ich gelernt, dass man als sich Autor*in aller möglichen Leseeindrücke bewusst sein soll. Vielleicht hat Pascal Richmann uns alle überschätzt. Der Vorsatz “Alles erfunden, na klar” jedenfalls reichte nicht aus.
Doch man kann die Schuld in Text und Autor suchen, solange man will. Im Endeffekt waren es wir, die Leser*innen. Nirgendwo wurde ein Wirklichkeitsanspruch gestellt. Den haben wir hineingelesen. Und sollten ihn auch schleunigst wieder herauslesen. Jetzt könnte man sagen: “Gut, ist notiert, nicht durch die Namensvetterschaft von Autor in Figur verwirren lassen. Kein Wirklichkeitsanspruch, alles erfunden. Ist klar.” “Aber nur weil etwas nicht wirklich ist, heißt noch lange nicht, dass es nicht wahr ist. Darum gibt es doch Geschichten, um darin eine Wahrheit zu verpacken!”, rufe ich und schrecke aus meinem Brüten. “Glaube nichts, weil ein Weiser es gesagt hat. Glaube nichts, weil alle es glauben. Glaube nichts, weil es geschrieben steht. Glaube nichts, weil es als heilig gilt. Glaube nichts, weil ein anderer es glaubt. Glaube nur das, was du selbst für wahr befunden hast.” “Morgen Siddhartha”, sage ich und schaue auf. “Auch schon wach?”
Der dicke Mann rollt vom Sofa, räkelt sich und beginnt den Morgengruß. Ich beobachte ihn und staune über seine Beweglichkeit. Als er fertig ist, setzt er sich zu mir an den Frühstückstisch. Im Meditationssitz versteht sich. Der alte Holzstuhl stöhnt protestierend auf. “Was meinst du dazu?” “Such nicht nach der Wahrheit, hör einfach auf, über alles eine Meinung zu haben”, meint Buddha gelangweilt. “Du widersprichst dir.” Er sieht mich mit gesenkten Lidern an und spricht: “Karma is a bitch:” Ich verdrehe die Augen. “Manchmal bist du echt nicht hilfreich.”
“Vielleicht kann ich helfen!”, verkündet Jürgen, der durch die Tür kommt. “Morgen übrigens!” “Morgen, Habermas.” “Morgen.” Ich überlasse dem alten Mann meinen Stuhl und lehne mich mit verschränkten Armen an den Herd. “Erzähl, wo liegt das Problem?”, fragt er. Ich berichte ihm von dem Seminar und der Fragestellung zu Wahrheit und Wirklichkeit. Jürgen kratzt sich am Kopf und sagt: “Tja, die Idee von Wahrheit lässt sich nur in Bezugnahme auf die diskursive Einlösung von Geltungsansprüchen entfalten.” “Konsenstheorie”, sagt Buddha. “Weiß nicht, ob ich damit einverstanden bin. Ich würde sagen -” “Aber hier geht es doch um dieses Buch, lieber Siddhartha Gautama”, unterbricht Jürgen, “Und deshalb möchte ich nicht abschweifen, so gerne ich das mit dir diskutieren will. Ein andermal. Zur Kunst möchte ich sagen, dass dort anstelle der Wahrheit und Schönheit die Authentizität, der Authentizitätsanspruch tritt.” “Moment Jürgen, so leicht lasse ich mich von dir nicht abweisen!”, ruft der Buddha. “Wie kannst du nur behaupten…” Ich seufze und stoße mich vom Herd ab. Ich mache mir jetzt noch einen Kaffee. Einen Kleinen.