Manche Menschen verstehen den Schriftsteller nicht. Das beruht auf Gegenseitigkeit«, begrüßt uns Safiye Can auf ihrer Website. Etwas abgehoben, denken wir, versuchen aber trotzdem, sie zu verstehen. Kinder der verlorenen Gesellschaft handelt von viel Sehnsucht und Traurigkeit und ist die dritte Lyriksammlung der tscherkessisch deutschen Lyrikerin. Erst wurde uns das Herz schwer, als wir den Titel lasen; er klingt so nach Entwurzelung, nach Geflüchteten, nach den Themen, vor denen wir Angst haben. Weil wir uns schämen. Weil wir froh sind, weil wir es guthaben und weil wir zu bequem sind. Tatsächlich sind es Gedichte einer Generation, unserer Generation vielleicht. Der Generation, die nicht mehr weiß, wofür oder wogegen sie kämpfen soll, weil alle Gedanken schon einmal gedacht wurden, weil alle Ideale morsch und pathosüberladen geworden sind.
Can beweist den Mut zum lyrischen Ich, erlaubt uns, mit den Augen einer personalen Erzählinstanz auf jemandes Welt zu schauen. Es sind unsere eigenen Gedanken, die wir dort erkennen, die sich immer und immer wieder im Kreis drehen und scheitern, wenn es darum geht, eine Lösung zu finden. Mit leichtfüßiger Selbstverständlichkeit gesteht Can auch alltäglichen Gegenständen ein Mysterium zu. Die Bilder ihrer Poesie sind oft urban. Eine warme Innerlichkeit bewahrt das moderne Setting aber vorm Kippen in alten Großstadt- Zynismus. In fast lapidarem, knappen Duktus Gefühle und Vorstellungen zu beleuchten, in denen wir uns wiederfinden, kann das überhaupt eine Dichterin, die Menschen nicht »versteht«? Wir wollen auch schweben, träumen, lächeln, erleben. Wollen uns auch in Wolken verstecken, uns die Hände an Strophen wärmen und Plastikblumen gießen. So viel fühlen, wie das lyrische Ich.
Und doch kommen wir nicht voran. Can reißt in ihren Gedichten immer wieder Themen an, um sich anschließend einem winzigen Bruchteil davon zu widmen und diesen dann mit der Schärfe einer Tattoonadel zu umrahmen. Ihre Gedichte sind so voller Gefühl, hinterlassen einen aber in einer merkwürdigen Starre. Wir finden uns darin wieder, ja, aber wir lesen und lesen und es kommt nichts Neues. Gerührt sind wir nur von der Stimmung, die Can durch den konstant melancholischen Ton in ihren Versen auslöst, sodass uns beim Lesen das Gefühl überfällt, nach jedem Gedicht einmal tief ein- und ausatmen zu müssen.
Hinzukommt, dass Can diesen Band auch scheinbar dafür nutzt, sich selbst darzustellen: Als kleines trotziges Mädchen, das sich vor ihren Onkel stellt, die Arme verschränkt und sagt: »Dichten ist meine große Leidenschaft« Dabei wirkt sie eher inszeniert, als rebellisch. So ehrlich die Aussage von einem Kind wirkt, so leicht kann sie, im Kontext eines reflektierten Gedichtbands elitär klingen. Zu leicht drängen sich Bilder vom Klischeepoeten auf oder von einer Schreiberin, die in der Straßenbahn oder im Park sitzt und ihren Blick über die Leute schweifen lässt, ohne dabei ihren leicht verträumten Gesichtsausdruck zu verlieren, um anschließend ihr schickes, aber schon leicht abgewetztes Notizbuch herauszuholen und ein paar Metaphern niederzuschreiben. Unverstanden von den Nicht-Dichtern. Wir haben versucht, Sie zu verstehen, Frau Can und hoffen, auch das beruht auf Gegenseitigkeit.
Safiye Can: Kinder der verlorenen Gesellschaft. 96 Seiten.