Das Gras hinter dem letzten Haus
die horen – Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik, Ausgabe 275
Zur Frankfurter Buchmesse 2019 war Norwegen Gastland und die Kronprinzessin Mette-Marit ließ ihren Literaturzug am Frankfurter Hauptbahnhof einfahren. Zu diesem Zweck wurde ein ICE der Deutschen Bahn als Vorlesestube ausgestattet: modern, funktional, gemütlich. Mette-Marit präsentierte die norwegische Literatur im cremefarbenen Pullover, nahbar, mit der nötigen Mischung aus Wärme und Eleganz.
Wenn Mette-Marit diesen Zug ins Leben ruft, ist es ein repräsentativer Zug und es ist gleichzeitig bildungspolitische Aussage. In Norwegen fährt ihr „Literaturtog“ jedes Jahr in eine andere Region, als sei er ein Versorgungswaggon, um Geschriebenes in entlegene Gebiete zu bringen. Doch eigentlich weist die norwegische Buchindustrie keine Mangelerscheinungen auf. Die Literatur wird staatlich gefördert. Zudem liest der Norweger im Durchschnitt 15 Bücher pro Jahr.
Die Plätze im Abteil sind an die großen Autor*innen des Lan- des vergeben, die man in Deutschland ebenfalls kennt: Erik Fosnes Hansen, Maja Lunde ̧ Simon Stranger, Anne Sverdrup Thygeson, Herbjørg Wassmo u.a. Jostein Gaarder liest vor einer Klasse englischsprachiger Schulkinder, die Kleinen gebannt von philosophischen Fragen, Kinderaugen schauen zu den Fenstern hinaus.
Uwe Englert bietet keinen Literaturzug auf für die Zusammenstellung der horen-Ausgabe „Das Gras hinter dem letzten Haus – Neue Literatur aus Norwegen“, die zeitgleich zur Frankfurter Buchmesse erschienen ist. Die Zeitschrift, für die Englert drei Jahre lang Texte gesichtet und ausgewählt hat, entfernt sich von dem Konzept des Repräsentativen. Im Zentrum steht das Anliegen, Autor*innen zu veröffentlichen, die hierzulande nicht entdeckt sind. Manchmal sind sie in Norwegen bekannt, manchmal dort aber auch noch ungelesen.
Es geht um Vielfalt, darum, einen Diskurs zu eröffnen, der die norwegische Literaturlandschaft weitläufig zeigt. Im Fokus steht nicht, wer im Literaturzug sitzt, sondern was fernab der Gleise gesehen werden kann. Diese Herangehensweise bietet gleichzeitig eine Auseinandersetzung mit der Differenz zwischen Selbstbild und Außenwirkung, denn die Texte verlassen Klischees, die dem Ausland zum Thema Norwegen einfallen, weg von den Stereotypen, die von Schneelandschaft mit Fjord, Naturverbundenheit, Klimavorbild bis zu Norwegerhaus reichen.
Die zügelloseste Sprache
Schon die Entscheidung, der Originalsprache Raum zu geben, setzt an der Divergenz an. Der Band umfasst Beiträge aus dem Bereich Prosa, Lyrik, Essay sowie Darstellungen und Besprechungen Bildender Kunst. Viele der abgedruckten Gedichte sind zuerst im Original zu lesen, bevor die deutsche Übersetzung anschließt. Dies ist nicht nur eine exotische Reise ins Norwegische, sondern Englert positioniert sich damit gegen Stimmen, die 2017 eine Sprachdebatte im Land angefeuert haben.
Zum Verständnis ein Exkurs in die Landessprache: Es gibt nicht das eine Norwegisch, sondern die zwei offiziell anerkannten Sprachformen Bokmål und Nynorsk, wobei Bokmål dänische Wurzeln aufweist und Nynorsk mit einer Rückbesinnung auf „unverfälschtes“ Norwegisch in Zusammenhang steht. Dazu kommt, dass innerhalb des Bokmål verschiedene Varianten für die Schreibung ein und desselben Wortes gelten. Vergleicht man das mit der Übergangszeit der deutschen Rechtschreibreform, erhält man nur einen kleinen Eindruck. Vor zwei Jahren erschien in der Osloer Tageszeitung VG ein Artikel, in dem bekannte Schriftsteller ankreideten, dass gerade Bokmål zu einer „Wildnis“ herangewachsen sei und es ein für alle mal Ordnung in diese „zügelloseste Sprache“ Europas zu bringen gäbe.
Der horen-Band positioniert sich zu diesem populistischen Aufruf auf selbstverständliche Art, indem die Varianten nebeneinander gleichwertig veröffentlicht werden. So leichthin dies scheint, ist es intelligent, denn Vielfalt ist immer dann erreicht, wenn etwas ohne Kommentar und wie natürlich nebeneinander steht. Wenn von Vielfalt die Rede ist, stellt sich die Frage nach der Spannbreite der Themen. Die Unbekanntheit der Autor*innen hat mich neugierig gemacht, wie sich ihre Sichtweise auf aktuell Politisches darstellt und hat in mir die Hoffnung geweckt, Stimmen zu finden, die sonst in der Masse nicht gehört werden.
Der Blick ins Inhaltsverzeichnis weist in diese Richtung: Die Themen führen von der Wirklichkeit im Wohlfahrtsstaat, zu Wirklichkeit an sich, über Aufbruch, hin zu neuen Selbst- bildern. Überrascht hat es mich, dass innerhalb dieses Bogens politische Themen marginal sind. Nach der Lektüre war ich verwundert, dass wenig Autor*innen sich mit den Nachwirkungen und der unterschwelligen Bedrohung des Terrorismus beschäftigt haben, zumal diese in Europa mindestens durch erhöhte Polizeikontrollen in den Alltag des Einzelnen hineinreichen. Im Jahr 2011 verübte Anders Behring Breivik sein Attentat, das als Erschütterung im sonst so abgesicherten Wohlfahrtsstaat angesehen wurde.
Im Jahr 2019 wurde die Auseinandersetzung mit den Anschlägen in die Lehrpläne aufgenommen. Deutlich, zudem ungewöhnlich nimmt Cecilie Løveid in ihrem Gedicht „Strafe“ Bezug auf Breivik. Es wurde erstmals im März 2013 veröffentlicht. Wie die Autorin in dem vor ihrer Lyrik abgedruckten Essay andeutet, brauchte es für sie einige Zeit, um sich dem Thema anzunehmen, da auch sie zuerst mit Wortlosigkeit reagierte.
Die Geschirrspülmaschinen aller Eltern
Das Gedicht bestimmt eine Strafe für Breivik, die ins Surreale übergeht. Ein lyrisches Ich äußert, dass es „froh“ über das festgesetzte Urteil für Breivik sei, da es ihn an jedes einzelne Grab führen wird. Danach hat er die Geschirrspülmaschinen aller Eltern zu leeren, um die Pflichten der Söhne und Töchter zu erfüllen, um gleichsam einen Alltag zu ersetzen, der nicht ersetzbar ist. Løveid konstatiert die Strafe, so als sei diese unausweichlich, einer Sisyphusarbeit gleich. Løveids Zeilen sind mutig, dennoch angemessen, obwohl die Autorin nicht aus der Angst heraus schweigt, etwas Falsches zu sagen, das die Kollektivtrauer oder Angehörige verletzen könnte.
Im Gegensatz zu Løveid ist in der Zeitschrift sonst wenig von den Wellen des Terrorismus oder unterschwelliger Angst zu spüren. Die Erzählungen ziehen sich in private Welten zurück. Statt Kollektivschock werden individuelle Katastrophen geschildert, der Tod im Leben als langgezogener Schrecken, der freiwillig ausgehalten wird.
Einen interessanten Einblick für den Rückzug in die Innenräume hat sich für mich durch den Ausflug in die Bildende Kunst in der Mitte der Zeitschrift aufgemacht. Es geht um die Darstellung von Interieurs und Häusern als Tradition in der Malerei. Dargestellt sind Gemälde von Janne Gill Johannesen, Hanne Borchgrevink und Photographien von Hedevig Anker. Das Darstellen von Innenräumen wurzelt in der Kunstgeschichte. Während französische Impressionisten öffentliches Leben auf Plätzen oder in Parks einfingen, wurde im Norden das Leben hinter den Türen dargestellt.
Bei der Betrachtung der Gemälde bin ich länger bei Janne Gill Johannesens Wohnräumen verharrt. Die Zimmer, in denen winterliches Licht herrscht, scheinen einsam, kein Mensch hält sich in ihnen auf. Sie wirken wie Andeutungen, abstrakt, fast so, als bestehe Gefahr, dass sie verschwinden. Mir erscheinen sie als Fragen nach dem, was Bestand hat. Auf ähnliche Art stellen die norwegischen Autor*innen der horen-Ausgabe das Gewohnte in Frage, das Gefüge in dem so viel heraufbeschworenen Wohlfahrtsstaat.
Der mangelnde Halt im Sozialen
Nach kurzem Wundern über das Verschwinden des Außen und der Knappheit politischer Themen haben sich für mich vielmehr Fragen aufgemacht: Wie reagiert eine Gesellschaft in Spannungssituationen? Welche Funktion haben diese Häuser als Schutzorte? Was sagt ihr Scheitern dahingehend aus? In den Texten wiederholt sich das Motiv des mangelnden Haltes der Personen im Sozialen.
Ein Text, der auf eindrückliche Weise eine Schnittstelle zwischen den Themen Terror und Heim aufmacht, ist Mikkel Bugges „Gute Aussichten für bewaffnete Konflikte“. Darin wird eine norwegische Frau irgendwo im Jemen gefoltert, da sie zuvor zu intensiv über Terrorismus recherchiert hatte. Abrupter Schnitt, dann ihr Rückflug und das Ankommen in der Heimatstadt, die Zusammenführung mit ihrer Familie auf dem Flughafen. Ihr Kind läuft ihr entgegen. Sie umarmt ihre Tochter, was befremdlich wirkt. Das Zurückkommen ins Heim ist verstellt, das Gewohnte erscheint wie hinter einer Glasglocke. Auch hier die Frage: Was macht die Bedrohung mit den Schutzzonen? Wie reagieren, wenn das eine ins andere einbricht?
Einige Texte nehmen flüchten aus diesen Schutzräumen des Alltags, mittels Wandlungen und Fiktion treten sie heraus. Und gleichsam wird der so vielfach beschworene Raum der Wirklichkeitsliteratur verlassen, unter deren Label norwegische Schriftsteller gerne subsumiert werden. In diesen Texten verbindet sich der Aufbruch mit Transformation, wird überhaupt erst durch Verwandlung möglich. Erstaunlich viele Tierwesen und Hybride treten auf: Minotaurus, Werwolf und Gestaltwandler. Selbst der Teufel entkommt der Verwandlung nicht. Die Orte, an die sie verdammt sind, gleichen Gefängnissen, aus denen sie Ausweg suchen.
Im Text „Der Minotaurus“ von Jan Grue begegnet uns dieser, wie er im labyrinthischen Amsterdam sein Unwesen treibt. Eigentlich möchte er dort nur ankommen, der Wunsch nach Ruhe, und dann kommt alles unerwartet. Ähnliches passiert in der Erzählung „Gib uns heute“ von Anders Lunde, in der ein Mann ein Untier in seinem Garten füttert, aus Furcht andernfalls getötet zu werden. Es gibt keinen Ausweg. Die Bestie ist er selbst. Es stellt sich die Frage danach, wer gewinnt: die Wirklichkeit oder die Verwandlung? Oder bleibt es dabei, dass beides als Hybrid besteht?
Die Literatur Norwegens wird häufig unter dem einheitlichen Begriff der Wirklichkeitsliteratur gefasst, so als bewege sich der norwegische Literaturzug nur auf einem Gleis und in eine Richtung. Die Ausgabe der horen „Das Gras hinter dem letzten Haus“ gibt für diese Route zum einen zwar Bestätigung, sie bricht diese Tendenz aber gleichzeitig auf. Fernab des Literaturzugs erscheint unbekanntes Terrain, beginnende Transformationen.