Eine Rezension zu Anne Beckers Debütroman : “Die beste Bahn meines Lebens”
„Ich drückte mir meine Brille auf die Augen, ließ das Gummiband gegen meinen Hinterkopf schnalzen und schwamm los.“
Wenn Jan ins Wasser taucht, sind seine Probleme vom Land vergessen. Der Streit mit den Eltern, die schreckliche neue Wohnung, die nervige Nachbarin und, das Schlimmste von allen: seine Lese-Rechtschreib-Schwäche – unter Wasser löst sich das alles auf.
Nachdem Jan mit seinen Eltern in eine neue Stadt umziehen musste, will er nur noch für das Schwimmtraining das Haus verlassen. Auf alles andere hat er keine Lust, erst recht nicht auf die neue Schule. Denn Neuanfang hin oder her, Jan hat ein altbekanntes Problem, das er nicht abschütteln kann und das ihn begleitet: Jan hat Schwierigkeiten mit dem Lesen. Seine Strategie: „Lehrerwahrnehmung beeinflussen“, konzentriert gucken, sich nur in den ersten Stunden ganz oft melden – und hoffen, dass niemand etwas merkt. Luftanhalten, Abtauchen.
„Du tropfst“
Es ist aber unmöglich unsichtbar zu bleiben, wenn man eine neugierige Nachbarin hat, die auch noch auf die gleiche Schule geht. Florentine ist die beste Matheaufgabenlöserin in ihrer Klasse, malt gerne Diagramme in ihr Tagebuch und hat zwei Hühner im Garten. Ihren ersten Eindruck von Jan hat Flo in einer Pro-Contra Liste festgehalten, und ihm dabei immerhin zwei Pluspunkte für seine Locken und seinen coolen Sprung von der Badeinsel verpasst.
Doch genau wie Jan hat auch Flo ihre Geheimnisse und Sorgen, zum Beispiel dass ihre Mutter in London arbeitet und die Familie nur sehr selten besuchen kann. Abgesehen von Mathe liebt Flo ihre beiden Hühner, über die sie jedoch auch gehörig schimpft, wenn sie mal wieder in Jans Garten abhauen. Und Vicky, eindeutig das frechste Huhn, das je gelebt hat, spielt dann auch noch Cupid: Jedes Mal wenn Jan das ausgebüchste Tier zurück zu Flo bringt, lernen die beiden sich nämlich ein bisschen besser kennen.
Nicht nur mit Hühnern gibt es Ärger: In der Schule macht ein fieser Klassenkamerad, Linus, Jan und Flo das Leben schwer und die Situation eskaliert weiter, als Jan Linus seine “Poolposition” im Schwimmteam streitig macht. Im Wasser ist Jan ein Star, aber in der Klasse hält Linus ihn für einen „Nichtskönner“. Wenn das Leben in der Schule so einfach wäre wie unter Wasser, dann könnte Jan vielleicht endlich den fiesen Linus loswerden, dann könnte er vielleicht Flo sagen, dass er sie mag, müsste seine Lese-Rechtschreib-Schwäche nicht verheimlichen- und würde die Beste Bahn seines Lebens schwimmen. Ausatmen, Auftauchen.
Der Debütroman “Die beste Bahn meines Lebens” von Anne Becker ist im Juni 2020 im Beltz & Gelberg- Verlag erschienen und gilt als einer der Favoriten für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2020. Vor allem wird es aber auch, und darin zeigt sich die große Stärke dieses Buches, in einigen Rezensionen von jungen Leser*innen gelobt. Hier handelt es sich ganz klar nicht um einen Kinderroman für Erwachsene, sondern um einen Roman für Kinder, den auch Erwachsene gut finden können. Denn: Das Buch erzählt eine Geschichte, die so glaubhaft ist, als wäre sie uns selbst passiert, und als würde sie manchen von uns noch passieren.
Ein Tortendiagramm, um sich selbst zu verstehen
Wie viel Prozent bin ich heute in Johannes verliebt, wie viel Prozent ist er wohl in mich verliebt? Die Antworten auf solche und ähnliche Fragen haben wir wohl alle als Teenager*innen fein säuberlich in unseren Tagebüchern festgehalten. Genau so schnell wie Johannes darin aufgetaucht ist, ist er vielleicht auch wieder verschwunden, als wir gesehen haben, dass er seine Popel isst.
In ihrem Tagebuch entwickelt Flo ein sehr viel komplexeres, ausgetüfteltes Protokollsystem. Es ist der Versuch, zu kategorisieren, was oft unkategorisierbar bleibt und Wünsche festzuhalten, die nicht erfüllt werden, sich aber auch verändern. Das, was positiv ist, ist auch gleichzeitig negativ (Jan, zum Beispiel), das, was der Sommer sein sollte, wird er am Ende nicht. Es ist der Versuch der Sichtbarmachung des Innenlebens, sowie der eigenen Identität, die sich stetig verändert. Denn Flo befindet sich, wie Jan, zwischen zwei Lebensabschnitten, nicht mehr Kind und doch noch nicht Teenager, und trotzdem schon auf der Schwelle zum Erwachsenwerden.
Das Buch, das uns aus Jans Perspektive von einem Sommer der Veränderungen erzählt, wird auf den gegenüberliegenden Buchseiten immer wieder von diesen Grafiken und Diagrammen aus Flos Tagebuch unterbrochen, die uns einen Einblick auf ihre Sichtweise geben. Auch das macht “Die beste Bahn meines Lebens” zu einer so aufregenden Lese-Erfahrung: wir sehen die dargebotene Welt aus beiden Perspektiven und in den eigenwilligen Sprachen ihrer Protagonist*innen.
Ein großer Clou ist, dass Flos Diagramme auch für Menschen, die eine Lese-Rechtschreib-Schwäche haben, entzifferbar sind, dass die Welt der Buchstaben verbildlicht und sichtbar gemacht wird. Es ist insgesamt vor allem die Sichtbarmachung dessen, was verborgen werden soll, was Anne Becker hier besonders gelingt. Einfühlsam erzählt sie davon, warum und wie gerade Kinder und Jugendliche Dinge verheimlichen – aus Angst, nicht dazuzugehören. Und wie Angst insgesamt eine Rolle spielt, allen voran die Angst vor Veränderung.
Nicht nur oberflächlich verändert sich für den elfjährigen Jan mit dem Umzug eine ganze Menge. Erwachsenwerden, die erste Verliebtheit und Fragen wie ‚Was kann ich eigentlich richtig gut?’ und ‚Wer will ich sein?’ spielen eine mindestens genauso zentrale Rolle wie die neue Wohnung oder der neue Sitznachbar in der Schule. Da hilft nur: sich zu behaupten, sich den eigenen Ängsten zu stellen und zusammen zu halten.
Man glaubt Anne Becker, dass sie noch ganz gut weiß, wie sich das anfühlt, diese Grenze zwischen Kind und Teenagerdasein und das Teenagerdasein an sich. Kein Wunder also, dass das schamvolle Erröten von Jan beim Hühnereinfangen uns an unser eigenes Rotwerden erinnert, dass uns Flos Tagebucheinträge an eigene Erlebnisse, an beispielsweise Johannes, Ebru und Adna erinnern.
In ihrem Debütroman erzählt Becker mit ausdrucksstarken, vielschichtigen Charakteren von Akzeptanz und Mut, von der Suche nach der eigenen Stimme und bestärkt uns darin, zu zeigen, wer wir sind. Denn Flo und Jan haben mindestens eines gemeinsam: sie haben beide Stärken und Schwächen, aber wenn sie weiterschwimmen wird am Ende alles gut.