Sie sah durch den Spion und wagte kaum zu atmen. Obwohl sie wusste, dass sie es nicht hören würden.
Sie stellten den Kinderwagen im Flur ab und sie nahm das Baby auf den Arm. Er nahm die Taschen. Heute trug er Shorts. Seine Waden waren gebräunt und muskulös.
Sie wusste woher. Er ging jeden Morgen laufen. Eine halbe Stunde. Dann kehrte er verschwitzt zurück und sie hörte durch die Tür das Echo seines schweren Atems im Treppenhaus.

Und wenn sie hörte, dass sie in der Küche waren, dann setzte sie sich ebenfalls in ihre Küche, an den schmalen Kieferntisch, und aß schweigsam ihr Brot, während über ihr gesprochen und gelacht wurde.


Sie trug ein langes Sommerkleid, das ihre Fesseln umspielte, als sie die Treppen hochstieg. Und eine Sonnenbrille im Haar. Wie die Models aus den Illustrierten.
Sie wohnten im ersten Stock. Über ihr. Und sie wusste, wann ihr Wecker klingelte, wann das Baby schrie, wann sie Besuch kamen und wann sie sich liebten. Das alte Haus mit den hohen Decken verheimlichte nichts.

Und wenn sie hörte, dass sie in der Küche waren, dann setzte sie sich ebenfalls in ihre Küche, an den schmalen Kieferntisch, und aß schweigsam ihr Brot, während über ihr gesprochen und gelacht wurde. Dann lächelte sie. Und stellte sich vor, sie würden sie eines Tages einladen. Dann würde sie ihren Blaubeerkuchen backen, den sie seit Jahren nicht mehr gemacht hatte. Und sie würde dableiben, bis einer von beiden sagte: „Du meine Güte, jetzt ist es ja schon nach Mitternacht.“ Und bei der Verabschiedung würden sie sagen, was für ein wundervoller Abend das gewesen sei und dass sie das bald wiederholen müssten.


Sie trat von der Tür weg, nachdem sie auf dem Treppenabsatz verschwunden waren. Im Flurspiegel sah sie ihre Haare, die von immer mehr grauen Strähnen durchzogen waren. Unmöglich ihre Vorstellung. Unmöglich, überhaupt länger im Flur mit ihnen zu reden.
Morgen war wieder der Tag im Kalender, der mit einem roten X markiert war. Der sich alle zwei Wochen wiederholte. Und sie daran erinnerte, dass sie kein Teil dieser Welt werden konnte. Der Tag vor dem sie sich besonders fürchtete. Und sie fürchtete sich vor vielem.

***

Vor einem halben Jahr waren sie eingezogen. Und sie hatte aufgeatmet. Der Nachbar, der gerne abends laut Musik hörte, stundenlang Computer spielte und dessen Zigarettenrauch durch ihr Schlafzimmerfenster zog, war endlich ausgezogen. Nächte hatte sie wegen ihm wachgelegen. In stiller Wut und Verzweiflung. Dann hatte sie sich vorgestellt, wie sie nach oben marschierte, gegen seine Tür geklopft und ihn angeschrien hätte. Aber allein bei der Vorstellung rauschte es in ihren Ohren.


Dann kamen sie. Sie hatten geklingelt, aber sie hatte nicht aufgemacht. Am Tag X hatte sie eine Karte in ihrem Briefkasten gefunden, auf der mit blauer Tinte und geschwungenen Buchstaben stand, dass sie sich für den Umzugslärm entschuldigten. Und ein paar freundliche Worte. Unterschrieben hatten sie mit ihren Vornamen: Bianca und Luca. Zwei perfekt zusammenpassende Namen. Und als sie die beiden das erste Mal gesehen hatte, am nächsten Tag X, an dem sie durchgeschwitzt mit den Einkaufstaschen zur Tür hereinkam, hatten die beiden im Treppenhaus gestanden und sie angelächelt. Sie hatten sich vorgestellt, und sie hatte mit Mühe ein paar Worte herausgebracht, bevor sie sich in ihre Wohnung geflüchtet hatte.


Seitdem drang ein wenig von ihrem Leben auch zu ihr. Durch den Dielenboden in ihre kleine Wohnung mit den Topfpflanzen in jedem Zimmer.
Eines Nachmittags, als sie dabei war, diese zu gießen, ertönte von oben ein Schrei. Er ging über in ein lautes Heulen. Sie verharrte in ihrer Bewegung und lauschte. Es war ihre Stimme, die nun abwechselnd heulte und schrie. Er war auch kurz zu hören. Viel leiser.
Während sie oben stritten, stellte sie die Gießkanne ab und setzte sich.
Und als kurze Zeit später die Haustür ins Schloss fiel, sah sie zwischen den Gardinen, wie er in sein Auto stieg und wegfuhr, während das Schluchzen oben leiser wurde.


Sie ging auf dem Wohnzimmerteppich hin und her, hob ein verwelktes Blatt auf. Wünschte sich, sie hätte den Mut, hochzugehen. Zu klingeln und sie zu fragen, ob sie etwas bräuchte. Einen Tee oder etwas Stärkeres. Und dann würde sie so etwas sagen, wie: Das wird schon wieder. Sie sind doch so ein schönes Paar. Das könne doch nicht sein, dass es daran scheitere. Aber sie blieb auf ihrem Teppich stehen.
Zwei Wochen später kam der Möbelwagen.
Und sie klebte einen Sticker über den Türspion.

Bild mit freundlicher Genehmigung von Milena Maren Röthig | Pfeil und Bogen