Kapitel 0: Die Kunst des Sammelns

Wieder einmal sitze ich hier in dieser dunklen, modrigen Wohnung und höre zu. Wieder einmal sitze ich hier auf dem wackligen Holzstuhl, einen Füllfederhalter zwischen meinen Fingern und ein Notizbuch auf meinem Schoß. Wieder einmal höre ich mir eine Geschichte an, eine, die bislang mehr traurig als spannend ist. Eigentlich interessiere ich mich für Geschichten, die nicht gespenstig und surreal genug sein können. Die Frau, die mir gegenüber sitzt, erzählt mir von einem Vermisstenfall. Normalerweise erzählt sie mir keine Polizeigeschichten. Die ältere Dame mit der vergilbten Kochschürze um den Hüften, erzählt mir normalerweise Geschichten, die mich zum schaudern bringen, die mir Gänsehaut bereiten und mich nachts wach halten. So wie letzten Monat, als sie mir von einer teuflischen Puppe berichtete, die in den 20ern nachts unter Decken schlüpfte, um Kindern ihre Fingernägel zu rauben. Trotzdem notiere ich mir Stichworte ihrer Erzählung. Neunjähriger Junge, mysteriös verschwunden, Mütze im Wald gefunden, nie wieder aufgetaucht, weder lebend noch tot.

„Wer hätte dem Jungen denn etwas antun wollen?“, frage ich weiter, da die Dame mir bislang keine Informationen lieferte, die für meine Märchen oder Geschichten in Frage kommen.
Die Frau wagt einen prüfenden Blick durch ihr verdunkeltes Wohnzimmer, ihre Vorhänge sind allesamt zugezogen, auf dem Esstisch brennt eine einzelne Kerze. Sie lehnt sich zu mir vor, ich komme ihr etwas entgegen.
„Nicht wer, sondern was.“
Das Ticken der massiven Standuhr hinter mir pocht in meinen Ohren.
Ich sehe sie stirnrunzelnd an. „Was?“
Die Frau namens Margret nickt vehement, ihr ist die Angst ins Gesicht geschrieben. Es ist eine echte Angst, das spüre ich.
„Und was war es?“
Mein Interesse ist geweckt. In Gedanken male ich mir sofort die grausamsten Wesen aus, wie sie den kleinen Jungen aus seinem Schlaf rissen und ihn in ihre Welt mitnahmen. Bei seinem Versuch sich zu wehren, verlor er die Mütze.

Jetzt beginnt Margret zu seufzen. Zu Beginn erzählte sie mir, bei dem Jungen handele es sich um den Sohn einer alten Freundin.
„Sie sagte, es war eine große Gestalt in schwarz, es… es hatte kein Gesicht und war eiskalt, sie weiß noch wie kalt es in dem Zimmer war.“
Während sie spricht, fokussiere ich mich auf meine Notizen, überlege, ob sich ihre Geschichte mit bereits gesammelten kombinieren oder ergänzen lässt. Ihr mehr Tiefe, mehr Facetten verleiht. Ihr noch mehr Angst und Schrecken einhaucht. Vielleicht das Märchen mit dem Titel Goldenes Haar?
Sammeln, das ist es, was ich jeden Tag tue. Geschichten, riesige Berge an Geschichten, die am Ende wenige gute ergeben. Geschichten, die dann weitererzählt werden sollen, die weiter verändert werden sollen. Es sind Geschichten vom Glück, vom Versagen, vom Übernatürlichem oder schlichtweg vom Leben. Geschichten, die das Leben schreiben. Ich glaube, ich habe gerade meinen vorübergehenden Arbeitstitel gefunden. Ich notiere mir, später im Büro nach möglichen Titeln zu forschen, die weniger pathetisch sind.

Während ich die Straße hinuntergehe, muss ich daran denken, wie oft wir Geschichten ausgesetzt sind. Gespräche und Erzählungen, die man am Rande mitbekommt, in der U-Bahn, in der Schlange vorm Starbucks, auf WhatsApp.

Ich bedanke mich bei Margret, versichere ihr, dass ich ihre Geschichte wie immer verwenden werde – aber nicht in welchem Maße – und das sie mich bei einer nächsten Interessanten bitte gleich wieder kontaktieren soll. Ich drücke ihr ein neues Visitenkärtchen zu, da unser Büro kürzlich umgezogen ist, dann verabschiede ich mich.
Während ich die Straße hinuntergehe, muss ich daran denken, wie oft wir Geschichten ausgesetzt sind. Gespräche und Erzählungen, die man am Rande mitbekommt, in der U-Bahn, in der Schlange vorm Starbucks, auf WhatsApp. Doch die meisten interessieren sich heutzutage nicht mehr für diese Geschichten, diese Erzählungen. Heutzutage überwiegt die Quantität siegessicher die Qualität. Meine Aufgabe ist es die Nadeln im Heuhaufen zu finden und sie zu einem Sammelband an Geschichten zu legieren, Geschichten und Märchen, die Interesse und Neugier wecken. Damit das Geschichtensammeln und Geschichtenerzählen nicht ausstirbt. Damit sie weiterleben. Damit sie überleben.

Bild mit freundlicher Genehmigung von Milena Maren Röthig | Pfeil und Bogen