Zitronen

Zitronenwasser mit Gurke

Hofcafé mit Penne Arrabiata, in weißen Suppentellern auf dem Tisch, daneben eine Club-Mate Flasche mit Leitungswasser. „Das tut Deutschland nicht gut“, sagt die Stimme, „12 Jahre dieselbe Kanzlerin“, sagt sie, „das führt zu Stillstand und Verfall, das tut niemandem gut.“ Sie trägt einen cremefarbenen Kaschmirpulli, dessen hochgeschobene Ärmel blasse, dürre Handgelenke freilegen, während sie mit der Gabel unter die halbe Walnuss auf ihrem großen Kuchenstück fährt, sie an den Tellerrand legt. Sie sitzt schräg vor mir, ihr Blick huscht zwischen ihrem Teller und ihren gegenübersitzenden Freundinnen hin und her. Sie spricht lauter, als die beiden anderen, mit einem melodischen Klang, der ihre Stimme verständlicher macht, während ich die Freundinnen nur bruchstückhaft verstehe. „Wie lief es eigentlich im CT? Noch nichts Neues? Achje. Wie schmeckt denn der Soja-Mint? Meiner ist dann doch etwas trocken.“

Ich werfe einen Blick auf meine Lektüre, „Über Deutschland, über alles“,von Pascal Richmann, das nun zugeklappt vor mir auf den Tisch liegt. Mehrere Lesezeichen ragen zwischen den Seiten hervor. „Es gibt ja auch immer mehr Menschen, die adipös sind. Das kommt davon, dass die Leute nicht zu geregelten Mahlzeiten im Sitzen essen, nein, die müssen immer laufen und sich unterhalten und Fernsehen und dabei IMMER essen. Das kommt alles von diesen amerikanischen Serien.“ „Und in diesen amerikanischen Serien“, fährt sie fort, „da bekommt man gezeigt, wie Menschen auf der Toilette ihr Geschäft verrichten, sowas will ich nicht sehen, das ist beschämend. Es gibt einfach keine Tabus. Und die ganze Intimität geht verloren. Die junge Generation hat dadurch überhaupt kein Schamgefühl, weil die durch diesen Medienfluss manipuliert werden“, sagt sie. Vor ein paar Tagen, ein älteres Ehepaar wartet an einer roten Ampel und sie reden darüber, es sei eine Unverschämtheit, wenn Kinder ihnen auf dem Gehweg keinen Platz machen. Der Mann würde nicht zur Seite gehen, selbst wenn dies bedeutet, dass das Kind gegen ihn prallt. Ich stelle mir vor, wie der kleine, alte Mann und das noch kleinere Kind mit ihren dick gepolterten Winterjacken wie zwei Softbälle gegeneinanderstoßen und zurückfedern.

Ich nippe an meinem Glas, das Wasser riecht nach Gurke, obwohl nur eine dünne Scheibe Zitrone darin schwimmt. Jetzt erzählt einer der Freundinnen etwas, die Frau vor mir hält ihre Kuchengabel mit merkwürdig weit zurückgebogenem Handgelenk in der Luft, während sie zuhört. Nahrungsmittel, Discountgeschäft: „Ja. Da sind wir ja auch alle von Helmut Kohl erzogen, ‚Wir müssen den Gurt enger schnallen‘“, antwortet sie gerade und zeichnet Gänsefüßchen in die Luft. Auf den Nägeln ein mattes Dunkelrot, fast Braun.  „Deswegen ist alles billig, ‚Geiz ist geil‘ und so weiter“ – erneut Gänsefüßchen – „und man kauft nur noch Billigfleisch und Billigware und gute Waren werden überhaupt nicht mehr wertgeschätzt.“

Jetzt zieht sie ihren Stuhl ein wenig nach vorn, um einen Typen mit großem Rucksack und einer übervollen Tasse durch zu lassen. Er setzt sich ans Fenster, die Flüssigkeit in der Tasse schwappt über, als er sie auf den Tisch stellt. Ich sehe, wie der Milchschaum in der Tasse in sich zusammensinkt. „Die SPD habe ich ja alleine schon nicht gewählt, weil die Hartz IV eingeführt haben, etwas so Peinliches und Unmenschliches….“ Verlegen streicht sie sich eine Strähne ihres dunklen Pagenschnittes hinter das Ohr. „Und dann kommen die hier her und bekommen Sozialhilfe. Ein Deutscher muss, um Hartz IV zu bekommen, sich erst einmal komplett nackig machen vorm Staat und die kommen hier her, haben haufenweise Geld und bekommen noch Sozialhilfe?“

Auf dem Block, auf dem ich mit schräger Kulischrift einzelne Sätze der Frau mitschreibe, habe ich in den letzten Minuten im Strichmännchenstil meine Eltern und meine Schwester beim letzten Familienurlaub skizziert. Aber jetzt will ich aufpassen und weiter mitschreiben. Die Frauen stapeln ihre leeren Teller aufeinander, legen die Kuchengabeln parallel auf den Obersten. „Weil wir eine europäische Kultur und europäische Wurzeln haben, sind wir mit den Arabern nicht verwandt. Und dieses ‚Alles-in-einen-Topf-schmeißen‘ ist eine Beleidigung. Aber deswegen würde ich trotzdem nie zu einem Polen oder Tschechen ‚Ausländer‘ sagen. Ich würde sagen, das ist einer aus der EU.“ Das Café ist voll, mein Zitronenwasser, das nach Gurke riecht, ist leer, mein nächster Kurs beginnt in wenigen Minuten.

 

Bild mit freundlicher Genehmigung von congerdesign