„Niemand hat je bezweifelt, daß es um die Wahrheit in der Politik schlecht bestellt ist, niemand hat je die Wahrhaftigkeit zu den politischen Tugenden gerechnet. Lügen scheint zum Handwerk nicht nur des Demagogen, sondern auch des Politikers und sogar des Staatsmannes zu gehören. Ein bemerkenswerter und beunruhigender Tatbestand. […] Sollte etwa Ohnmacht zum Wesen der Wahrheit gehören und Betrug im Wesen der Sache liegen, die wir Macht nennen? […] Ist schließlich nicht Wahrheit ohne Macht ebenso verächtlich wie Macht, die nur durch Lügen sich behaupten kann?“1
So beginnt Hannah Arendts Essay Wahrheit und Politik. In dem Essay unterscheidet sie zwischen den „Vernunftwahrheiten“ und „Tatsachenwahrheiten“. Sie beschreibt die Politik als einen Bereich, der nicht über die Wahrheit bestimmen kann.
Es lässt sich seit dem Einzug rechtspopulistischer Parteien in Europa in die Landesparlamente ihrer Länder beobachten, dass es wohl ein verstärktes Bedürfnis der Menschen gibt, die Wahrheit wieder in die Politik einzubringen. Viele dieser Parteien warben eben damit, die Lügen der regierenden Politiker abzustrafen und für die Wahrheit insgesamt, vor allem aber für die partikuläre Wahrheit ihrer potentiellen Wähler, zu kämpfen. Mit dem Einzug der AfD in den deutschen Bundestag zieht auch ein scheinbar neues Verständnis von Wahrheit ein. Das Folgende ist der Versuch zu beobachten, einerseits, wie es sich mit dem Bedürfnis nach Wahrheit in der Politik verhält, und andererseits, welchen Wahrheitsanspruch die Politiker der einzelnen Parteien, insbesondere die der AFD, für sich in Anspruch nehmen, in welcher Form sie arbeiten und auf welche Tatsachen sie sich berufen.
Wer Hannah Arendts Beobachtung in ihrem Essay glauben schenkt, dass Wahrheit und Politik aus zwei unterschiedlichen Familien stammen, dürfte sich über das neuerlich verstärkte Aufkommen des Begriffs „Wahrheit“ im politischen Diskurs wundern. Nach Hannah Arendt mache sich derjenige, der in der Politik mit Wahrheit prangt unglaubwürdig, da die Politik kein Bereich sei, der über Wahrheit bestimmen könne. Dies sei nicht ihre Aufgabe, sondern die Aufgabe von Philosophen, Wissenschaftlern, Richtern, Historikern und Journalisten.
In der parlamentarischen Demokratie in Deutschland hat sich vorrangig eine Partei dem Kampf für den Wiedereinzug der Wahrheit in die Politik verschrieben: Die AfD attestiert sich selbst den „Mut zur Wahrheit“. Dieser Spruch fand sich im Wahlkampf zur letzten Bundestagswahl auf Plakaten der AfD, in Wortmeldungen einzelner AfD-Politiker, sowie als Untertitel in Artikeln auf verschiedenen AfD-Seiten im Internet. Dass Politiker dieser Partei sich vermehrt auf falsche Tatsachen berufen, sei es im Bezug auf den sogenannten Flüchtlingsstatus von Menschen, die nach Deutschland geflüchtet sind, oder Falschaussagen zu Stickstoffoxidgrenzwerten, ist nicht weiter verwunderlich, zudem auch nicht ungewöhnlich in der politischen Landschaft. Die Lüge in der Politik, schreibt Hannah Arendt, ist im Bereich des Politischen dem Handeln. Das heißt, sie entspringt derselben Quelle wie die Einbildungskraft und die Möglichkeit des Menschen, einen Anfang zu setzten.
In ihrem Essay Die Lüge in der Politik schreibt sie wörtlich:
„Die bewußte Leugnung der Tatsachen – die Fähigkeit zu lügen – und das Vermögen, die Wirklichkeit zu verändern – die Fähigkeit zu handeln -“, was Arendt als eines der grundlegenden inhärenten Versprechen der Politik sieht, „hängen zusammen“1.
Deutlich bedenklicher als die handelnde Tätigkeit des Lügens, ob durch bewusste Falschauslegung oder unbewusste Fehlinterpretation einer Tatsache, beispielsweise eines Gesetzes, ist der ausgesprochene Wahrheitsanspruch der Partei, den sie sich zunutze macht. Dieser Wahrheitsanspruch mutet ähnlich plump an, wie der Wahrheitsanspruch eines Pegida-Demonstranten, der von den lügenden Politikern und der lügenden Presse skandiert. Es ist ein Wahrheitsanspruch, der eine Gemeinschaft vermittelt. Die Gemeinschaft derjenigen wenigen, die die Lüge erkannt haben und aus ihrem Umkehrschluss die Wahrheit zu erkennen lernten. Diese Annahme lässt sich auch hier wieder in dem Wahlspruch „Mut zur Wahrheit“ erkennen, der impliziert, dass es da eine Mehrheit gibt, die sich der Wahrheit bewusst ist, aber sich nicht traut, sie auszusprechen.
Auch Hannah Arendt fiel in ihrem Essay Wahrheit und Politik auf, dass es Menschen schwer fällt, Tatsachen zur Kenntnis zu nehmen, sollten sie ihrem Vorteil entgegenstehen. Mit einem solchen Wahrheitsanspruch verkennt die AfD aber eben genau diese Sicht, die in der Politik unabdingbar ist. Die Sicht, dass alle Meinungen streitbar sind und der Austausch und das Streiten über Meinungen, nicht das Streiten über Wahrheiten, ein Grundprinzip des Politischen ist.
Wenn wir, wie Hannah Arendt, Lessings Argumentation folgen dass, wenn es eine allgemein bekannte Wahrheit gäbe, jedes Gespräch seinen Sinn verlieren würde, so wäre dies auch das Ende der Politik. Das Politische in seinem ursprünglichen Begriff spaltet sich laut Hannah Arendt in Reden und Handeln auf.
In ihrem Manuskript zur Frage Was ist Politik findet sich der prägende Satz:
„Politik beruht auf der Tatsache der Pluralität der Menschen.“1
Nach der Erklärung des Politikwissenschaftlers Tonio Oeftering von Arendts Begriff des Politischen in dessen Dissertation Das Politische als Kern der politischen Bildung – Hannah Arendts Beitrag zur Didaktik des politischen Unterrichts heißt das im Umkehrschluss, dass es ohne die Pluralität des Menschen keine Politik gäbe. Die explizite Erwähnung des Aussprechens der Wahrheit im Bezug auf eine Partei durch ebendiese Partei ist zutiefst apolitisch, da sie eine Diskussion quasi ausschließt. Oftmals hört man gerade aus dieser Ecke des Boxrings die Forderung nach der Legitimierung einer öffentlichen oder privaten Aussage, da diese unter dem Schutz der Meinungsfreiheit stehen würde. Der Wahlspruch „Mut zur Wahrheit“ scheint indes zur Haltung zu mutieren. Hier wird aus Meinungsfreiheit schnell Tatsachenfreiheit.