Ein unaufhaltsamer Prozess
Was bedeutet es, wenn Menschen verschwinden?
Nicht nur diese Frage stellt Helgard Haug mit ihrem Romandebut All Right. Good Night. und beleuchtet dabei autobiografisch zwei Vorgänge des Verschwindens.
Am 8.März 2014 hebt die Boeing 777 Flug MH370 am Flughafen Kuala Lumpur ab. 239 Menschen sind an Bord. Nur wenige Stunden später ist das Flugzeug von allen Radaren verschwunden. Bis heute konnte das Hauptwrackteil der Maschine nicht ausfindig gemacht werden. Bis heute gilt der Flug MH370 als vermisst.
Zeitgleich zeigen sich erste Anzeichen von Vergesslichkeit beim Vater der Autorin.
Sie schreibt:
„Der Vater sitzt nicht in diesem Flugzeug, und doch lässt sich der Flug der MH370 erzählen als wäre es seine Reise. Von nun an und über die Dauer von 8 Jahren versuche ich, den Prozess einer zunehmenden Ungewissheit festzuhalten.“
Ganz in diesen Dienst stellt sich die Lektüre, die dabei durchaus unkonventionell geschrieben ist. Der Roman liest sich fast als Protokoll. Oftmals stehen Sätze für sich. Die Seiten sind von Absätzen durchschürft. Dialoge kommen so gut wie gar nicht vor.
Acht Jahre lang beobachten wir den Vater. Was er denkt, was er versteht und was nicht, können wir nur vermuten.
Die Gefühlswelt der Erzählerin behandelt Helgard Haug nie mehr als nötig. Sie beschreibt, sie beantwortet nicht. Und ließ mich als Lesenden mit Fragen zurück, die Sie nur zum Teil auch selber stellt:
Ab wann ist ein Mensch nicht mehr zurechnungsfähig? Wann kann er nicht mehr für sich selbst verantworten? Für sich selbst Entscheidungen treffen?
Wann ist es genug?
Wie lange muss man suchen um die Suche aufzugeben? Wann ist eine vermisste Person tot?
Hier wird die Parallele zu den Passagieren der MH370 gezogen. Die Opfer des Fluges gelten jahrelang als vermisst nicht als verunglückt. Die Erzählerin beschreibt über ihre Recherche die Schwierigkeiten der Angehörigen. Genau wie sie selbst auch versuchen sie in einer aussichtslosen Situation einen geliebten Menschen nicht aufzugeben.
Knapp und erbarmungslos stellt Helgard Haug so die letzten 8 Jahre des Vaters dar.
Wir können mitansehen wie er Monat für Monat seine Zurechnungsfähigkeit verliert, in die Zweideutigkeit verschwindet oder wie er es selbst beschreibt „in Teile zerfällt“.
„Du bist fort, vielleicht aber noch hier.
Du bist hier, vielleicht aber auch fort.“
Der protokollierende Schreibstil mit den kurzen abgehackten Sätzen wirkte zu Beginn meiner Lektüre durchaus erfrischend. Die Spannung der oftmals nur aus vier bis acht Wörtern bestehenden Sätze kann sich leider nicht bis zum Ende des Buches halten. Meinen Versuch, das Buch am Stück durchzulesen, empfand ich als sprachlich repetitiv und ermüdend.
Sich die Zeit zu nehmen, kann sich aber lohnen. Während die Erzählerin immer wieder, zwischen Flug MH370 und ihrem Vater wechselt, ist das letzte Kapitel nur noch dem dementen alten Mann gewidmet. Genau wie auf allen anderen Seiten davor beschreibt sie präzise, ungeschminkt, und trifft damit zum Schluss doch ins Herz.
In Deutschland leben rund 1,8 Millionen Menschen mit einer Demenz. Ein Flugunglück wie das der MH370 wird einmalig bleiben.
Welches Phänomen unglaublicher ist, kann ich nach dem Lesen von All Right. Good Night. noch weniger sagen als vorher.
Rowohlt, 2023, 160 Seiten, Hardcover
Helgard Haug
Helgard Haug ist Autorin, Regisseurin und Mitbegründerin von Rimini Protokoll. Für ihre Arbeit wurde sie mit etlichen Preisen ausgezeichnet: mit dem FAUST-Theaterpreis, dem Europäischen Theaterpreis und, für das Gesamtwerk von Rimini Protokoll, mit dem Silbernen Löwen der 41. Theaterbiennale Venedig; sie erhielt den Hörspielpreis der Kriegsblinden und 2019 den Hörspielpreis der ARD. Die Inszenierung «All right. Good night» wurde im Januar 2022 zum Berliner Theatertreffen und zum Impulse Festival eingeladen; sie war für den Mülheimer Dramatikerpreis nominiert und wurde von der Kritikerumfrage von Theater Heute zur «Inszenierung des Jahres» erklärt. Das gleichnamige Hörspiel wurde von der deutschen Akademie der Darstellenden Künste als Hörspiel des Monats ausgezeichnet.