„Angesichts der menschlichen Natur kapitulieren die Bäume.“ Das ist das Motto, welches Alexander Kluge seinem Buch Kriegsfibel 2023 voranstellt. Es ist ein Zitat aus den Lichtenbergfiguren des Dichters Ben Lerner, welchem Alexander Kluge diesen Text widmet. 126 Seiten – hochkonzentriert: der Autor hat sie aus seinem 400 Seiten langen Manuskript herausdestilliert, denn „Fibeln sollen kurz sein“ – voller Fragmente, Dialoge, Schrifttafeln, Bilder und QR-Codes, die Lesende zu kurzen Filmen Alexander Kluges führen.
Es ist, als würde er Spuren legen und gleichzeitig auf die Suche gehen: die Form wirkt wie ein Versuch, dem Wesen des Krieges (diesem „Dämon“) auf die Schliche zu kommen, es einzufangen. Die Unmöglichkeit dieses Vorhabens ist dabei sehr präsent, der Text steht nicht fest, er will kein Ergebnis. Es scheint, als wolle Kluge keinen Erkenntnisgewinn in Form einer Antwort, sondern vielmehr eine Denkbewegung provozieren, die sich über das Buch hinaus fortsetzt.
„Sie müssen immer weitererzählen“, sagt Alexander Kluge 2013 in einem Interview mit der NZZ und genau dies tut der mittlerweile 92 Jährige auf vielfältige Weise: er ist Filmemacher, Autor, Produzent, Philosoph und Rechtsanwalt. Die Kriegsfibel 2023 ist eine unter vielen und schon nicht mehr seine neueste Publikation. Trotzdem lohnt sich ein Blick in dieses dünne Büchlein, dessen Titel nicht umsonst auf Bertolt Brechts 1955 erschienene Kriegsfibel verweist. Denn „wenn Krieg ausbricht, so Bert Brecht, müssen wir aufs Neue Lesen und Schreiben lernen.“
Die Aktualität lehrt uns nach Kluge nämlich keine Zusammenhänge, es sind die Lebensläufe, in denen diese sich erzählen. Und so findet sich in Kluges Buch nur am Rande expliziter Text zum Krieg in der Ukraine. Es ist eine Wanderung durch und an Kriegen der Weltgeschichte vorbei. Berichte, Beschreibungen, Gespräche, die einen Akzent setzen, der erst einmal ungewöhnlich erscheint: Kluge evoziert Gefühle. Frustrierend kann es jedoch sein, wenn man sich im Verweisgeflecht verläuft und keinen Überblick mehr hat.
Dass das Lesen dieser Bruchstücke auch irritierend sein kann und schwer einen Lesefluss zulässt, macht nur Sinn. „Das Bild braucht Gegenbilder“, sagt Kluge und beschreibt damit sein dringliches Bestreben, bestehende Bilder durch Erzählungen aufzulösen und keine einfachen Wahrheiten zuzulassen. Lässt man sich auf die Lücken ein und nimmt in Kauf, dass nicht alles sofort verstanden werden muss, öffnet die Kriegsfibel 2023 einen Raum, der sich nicht so schnell wieder schließen lässt. Der sich mitunter sogar auf Ereignisse ausdehnt, die beim Druck des Buches noch in der Zukunft lagen.
So ernüchternd und brutal die Beobachtungen Kluges sein mögen, sie verweisen auch immer auf etwas Wunderbares, Schönes: „Eventuell ist es voreilig, wenn angesichts der menschlichen Natur die Bäume kapitulieren“.
Suhrkamp, 2023, 126 Seiten, Hardcover
Alexander Kluge
Alexander Kluge, geboren 1932 in Halberstadt, ist Jurist, Autor, Filme- und Ausstellungsmacher; aber: »Mein Hauptwerk sind meine Bücher.« Für sein Werk erhielt er viele Preise, darunter den Georg-Büchner-Preis und den Theodor-W.-Adorno-Preis, Heinrich-Heine-Preis der Stadt Düsseldorf und 2019 den Klopstock-Preis der Stadt Halberstadt.