„Der Sack war wie eine Zeitkapsel. Ein Blick in Simones Gedanken und Gefühle. In die Geschichte. Ihre und meine. Ich wartete noch ein paar Minuten, vielleicht waren es auch nur ein paar Sekunden. Ich wusste, dass es nur zwei Möglichkeiten gab: vergessen oder erinnern. Dann riss ich den Sack auf.“
Mit dem Öffnen dieses Sacks, in dem sich Unterlagen, Briefe und Tagebücher ihrer Freundin Simone befinden, die sich vor mehr als zwanzig Jahren das Leben genommen hat, eröffnet Erzählerin und Verfasserin Anja den Lesenden das Ergebnis ihrer Recherche und somit eine komplette Lebensgeschichte.
Diese Lebensgeschichte von Simone, welche Anja in den 1980ern als kleine Schwester ihres damaligen Freundes André kennengelernt hat, lässt sie noch in der Generation der Großeltern beginnen, widmet sich in größerem Detail den Eltern und entfaltet dann Simones Kindheit und Jugend in der DDR sowie ihr junges Erwachsenenleben im wiedervereinten Deutschland, bis hin zu ihrem Tod 1996. Dabei kann fast jede Station dieses persönlichen Schicksals innerhalb einer weiterführenden Frage gelesen werden: Warum begeht ein Mensch Suizid und was sind die Gründe dafür – wer oder was hat daran Schuld?
In ihrem konkreten Fall suchen Anja, aber auch weitere Figuren wie Simones Mutter Dana, unter anderem schon in frühen Ereignissen in Simones Leben eine Antwort auf diese große Frage. Auch die Auswirkungen der Wendezeit auf die DDR-Bürger*innen werden zentral. Wie sich der Mauerfall auf Simone auswirkte, erscheint ambivalent. „Sie sah blendend aus, sie strahlte, sie freute sich auf die Zukunft, darauf, ihre Sprachkenntnisse anwenden zu können. Eine Weltbürgerin, der sich die Welt geöffnet hatte.“
Doch gleichzeitig werden auch ihre Schwierigkeiten beschrieben, sich in diesem neuen System zurechtzufinden. Diese Schwierigkeiten werden in einem gesellschaftlichen Kontext analysiert. Eine Expertin, die Anja dazu befragt hat, schildert, dass die Art und Weise, wie ein Mensch die Wende verkraftet hat, von der akuten Lebenssituation abhängig war, und dass „die Wende vor allem Menschen in tiefe Krisen stürzte, die über wenig innere Stabilität verfügten.“ Doch eine verlässliche statistische Auswertung zur Selbstmordrate gibt es nicht.
Ebenso uneindeutig ist die Antwort auf Anjas Frage, ob es sein könnte, dass Simone unter der Persönlichkeitsstörung Borderline litt. Typische Eigenschaften wie Impulsivität und Instabilität spiegeln sich in dem Bild, das der Roman von Simone entfaltet. Dieses Bild hat viele Facetten; es gibt Simones Neugierde auf die Welt, ihre mitreißende Freude und lebhaften Aktivitäten, aber auch versteckte Verzweiflung, Depression, Panikattacken, Eifersucht und das Abstoßen von Nähe, nach der sie sich eigentlich sehnt, viele Bekanntschaften, die sie aufbaut und die keinen Bestand haben, Beziehungen zu älteren, teils gewalttätigen Männern.
Nach einem Gespräch mit einem Psychiatrieprofessor über das Thema Borderline, schreibt Anja: „Als er aufgelegt hat, denke ich kurz: Das Rätsel ist gelöst. Simone war krank. Es gibt kein Geheimnis, keinen Täter, niemand ist verantwortlich für ihren Tod, nicht der Sozialismus, nicht der Kapitalismus, nicht die Abtreibung, nicht die Massenuniversität, nicht das Stasi-Haus. Nicht ich.“
Doch ihre Spurensuche ist an diesem Punkt noch nicht beendet. Auch ihr Beweggrund lässt sich hier wie an anderen Stellen ableiten: Die Frage danach, wer oder was an Simones Suizid Schuld hat, ist nicht nur eine, die im gesellschaftlichen Kontext betrachtet wird, sondern auch eine, die Anja persönlich betrifft, als Angehörige, die davon gequält wird und sich selbst im Zusammenspiel der Ereignisse einzuordnen sucht.
Die Recherche, in welche Gespräche mit Expert*innen und mit zahlreichen Menschen aus Simones Leben, sowie die Lektüre diverser Unterlagen eingeflossen sind, ist eben keine, die von außen geschehen ist. Vielmehr liest sie sich auch als Teil eines Trauerprozesses. Anja Reich geht in ihrem Roman ganz offen mit dieser Rolle im Text und mit ihrer emotionalen Entwicklung während der Recherche und dem Schreiben um. Die Frage, ob die Anja des Textes und die Autorin dieselbe sind, muss sich aufgrund dieser Offenheit gar nicht stellen, wird aber spätestens in der Danksagung geklärt, die auch an diverse Menschen gerichtet ist, die als Figuren im Buch vorkamen.
Der Rechercheprozess wird also im Text zwar nicht unsichtbar gemacht, aber er wird auch nicht strukturiert nacherzählt. Während die Chronologie des Lebens von Simone klar bleibt, kann die der Ebene der Gegenwart, in welcher Erzählerin Anja jahrelang recherchiert hat, manchmal etwas verwirrend sein, wenn sie hin und wieder erwähnt wird. Ebenso kann es manchmal willkürlich wirken, wenn sie an ein paar Stellen ausholt, um eigene Erinnerungen einzubringen, die nicht in Bezug zu Simones Vergangenheit stehen, sondern mehr wie ein losgelöstes gedankliches Abschweifen wirken.
Doch letztendlich sind auch diese beiden Aspekte damit verknüpft, was dieses Buch nun einmal ist: Nämlich eine höchstpersönliche Erzählung, sowohl über Simone, die man immer näher kennenzulernen scheint, als auch über die Erzählerin bzw. Verfasserin. Und in dieser persönlichen Nähe, in der Intimität, liegt auch die Stärke des Romans.
Da die Autorin sich zugesteht, ihre eigenen Gefühle und Entwicklung an wenigen, aber prägnanten Stellen einzubauen, kann man besonders gegen Ende das Bedürfnis ihres erzählten Ichs, zu einem Abschluss zu kommen, gut nachvollziehen. „Ich wollte die Realität ändern, Simone noch einmal ins Leben zurückholen, die Zeit zurückdrehen, noch nicht Abschied nehmen“, reflektiert sie im vorletzten Kapitel. Sie schiebt das Beenden des Buches vor sich her.
Doch die Tatsache, dass es nun vorliegt, zeigt, dass sie es geschafft hat, den Sack auch wieder zu schließen. Letztendlich konnte die Spurensuche weder ihr selbst noch den Leser*innen eine eindeutige Antwort darauf geben, warum Simone Suizid begangen hat und wer oder was oder ob jemand daran Schuld hatte. „Sie werden den Tod ihrer Freundin nicht mehr aufklären können“, sagt ihr auch ein Suizidforscher.
Aber sinnlos war der Versuch und sein Ergebnis dennoch nicht.
Aufbau, 2023, 304 Seiten, Hardcover
Anja Reich
Anja Reich, geboren in Berlin, ist Autorin und Journalistin. Seit 1996 arbeitet sie für die »Berliner Zeitung« und berichtete ab 2001 als Korrespondentin aus New York und von 2018 bis 2020 aus Tel Aviv. Für ihre Reportagen erhielt sie den Deutschen Reporterpreis und den Theodor-Wolff-Preis. Im Aufbau Verlag erschien zuletzt von ihr »Getauschte Heimat. Ein Jahr zwischen Berlin und Tel Aviv« (zusammen mit Yael Nachshon Levin). Sie lebt in Berlin.