„Bis der Trost eintritt, schimmert noch die Hoffnung.“ Olga Martynova wartet auf Trost, schreibt auf ihn hin. Olga Martynova schreibt in ihrem Tagebuch-Essay über den Tod ihres Mannes, dem Lyriker und Romancier Oleg Jurjew. Dann wieder Leerstellen im Essay, dann wieder „Via Wi-Fi ins Nichts“. Der Essay Gespräch über die Trauer ist nicht geschwungen, nicht klar, nicht einfach, nicht ohne Widerspruch.
„Der Kopf eines Trauernden ist nicht viel klarer als der Kopf eines Verliebten und jedem Quatsch ausgeliefert.“ Montaigne, Fjodorow und die Transhumanisten bewegen Martynova zu ausgiebigen Meditationen über den Tod, immer in Bezug zu Oleg Jurjew, der selber über seine Lyrik zur Sprache kommt. Jurjew wertet den Tod nicht aus, sondern rennt mit seiner Lyrik an die Grenzen der Sprache an, um etwas, was hinter dieser Grenze ist, zu beschreiben.
Martynova erlaubt sich, philosophische Positionen, die den Tod thematisieren, aufzunehmen und doch anzuerkennen, dass sie nicht hilft: „Die ganze Philosophie, die uns sterben lehrt, ist unwirksam angesichts der Trauer. Alle Argumente würden stimmen. Aber die Wirklichkeit der Trauer siegt über alle Argumente.“ Zwischendrin reflektiert sie eine weitere Zäsur, die neben ihrem Verlust nicht minder zu Boden schmettert: Den Kriegsbeginn in der Ukraine.
Ob es zum Tod etwas Wahres zu sagen gibt, ist einerlei, die Suche soll trotzdem angetreten werden. Martynova betrauert Jerjews Tod. Olga betrauert Olegs Tod. Sie kann ihn nicht loslassen, weil sie ihn nicht loslassen will. Ihr Ziel ist es wieder lügen zu können es gehe ihr gut. Olga Martynova vergisst manchmal wo sie ist und glaubt manchmal Trauern sei egoistisch. Sie will nur, dass er hier ist. Trauern zeigt uns, dass unsere Realität intersubjektiv ist.
Martynova zeigt, dass Intersubjektivität in verschiedenen Graden erscheint. In einem besonders hohen Grad zwischen Oleg und ihr. „Ich definiere mich durch Oleg und die von uns unabhängige Wirklichkeit, die »wir« war.“ Im Anhang listet Olga Martynova die Bücher auf, die wie Medizin für sie sind.
Das Buch zeigt die Verbindung von zwei Menschen und die klaffende Abwesenheit, die der Tod des einen hinterlässt. Nicht nur Trauernde sollten es lesen, weil es auch ohne Verlust auf das zeigt, was der Kitt zwischen uns Menschen ist. Auch wenn es hierauf keine Antwort gibt, die in Worten dargelegt werden kann. Martynova schafft es viele Stimmen einzufangen und bleibt bei ihrer Perspektive, ohne andere zu vergessen.
S. Fischer, 2023, 304 Seiten, Hardcover
Olga Martynova
Olga Martynova, geboren 1962 in Sibirien, aufgewachsen in Leningrad, wo sie in den 1980er-Jahren die Dichtergruppe »Kamera Chranenia« mitbegründete. 1991 zog sie zusammen mit Oleg Jurjew (1959–2018) nach Deutschland. Von 1999 an schrieb sie literarische Texte auf Russisch und Deutsch. Seit 2018 schreibt sie nur noch in deutscher Sprache. Olga Martynova ist Mitglied des PEN und der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung sowie der Akademie der Wissenschaften und der Literatur (Mainz). Sie erhielt u. a. den Ingeborg-Bachmann-Preis (2012) und den Berliner Literaturpreis (2015). Zuletzt erschienen bei S. Fischer: »Der Engelherd«, Roman (2016), »Über die Dummheit der Stunde«, Essays (2018), sowie »Gespräch über die Trauer« (2023).