„Eine Göttin mit der Stimme einer Sterblichen.“
Circe, Tochter von Sonnengott Helios und der Nymphe Perse, unterscheidet sich von ihren Geschwistern und anderen Gottheiten: Sie bevorzugt die Gesellschaft der Sterblichen und bringt den Menschen gegenüber Mitgefühl auf. Erst nach ihrer Verbannung auf die Insel Aiaia lernt sie für sich selbst einzustehen, wilde Tiere zu zähmen und ihre Hexenkunst bei der Nutzung von Pflanzen auszubessern.
„Es ist keine göttliche Kraft, die durch einen bloßen Gedanken oder einen Wimpernschlag wirkt. Hexerei muss wohl überlegt werden […]. Und selbst dann kann sie scheitern.“
Circe wird zur Hexe von Aiaia und begegnet in ihrem langen Leben bekannten Figuren aus der griechischen Mythologie. Nicht jeder ist ihr wohlgesinnt. Oftmals muss sie sich alleine gegen die Wut von Männern und großen Göttern stellen. Um ihre Liebsten zu beschützen muss Circe als Hexe, Frau und Mutter, ihre ganze Kraft sammeln und für alle Mal entscheiden, ob sie ihre göttliche Existenz fortführen oder zu den Sterblichen gehören will, die sie zu lieben gelernt hat.
Nachdem Madeline Miller schon mit ihrem Debütroman „The Song of Achilles“ für Aufmerksamkeit gesorgt hat, erschien im August 2019 in Deutschland ihr zweiter Roman, mit dem Titel „Ich bin Circe“ und erzählt das Leben der Göttin Circe aus der griechischen Mythologie. Zwar nimmt Madeline Miller einen starken Bezug auf die ursprünglichen antiken Quellen, fügt jedoch immer noch eine eigene moderne Interpretation hinzu.
In ihrem Debütroman lässt sie Patroklos die Geschichte von seinem Freund Achilles erzählen, wobei beide Männer in dieser Version des Romans Geliebte sind. Im Falle von der mythologischen Figur Circe ist der bekannteste Urtext die Begegnung zwischen Circe und Odysseus in Homer´s Odyssee. Und obwohl die Göttin, insbesondere in der Kunst, nicht unbekannt ist, gibt es nicht sonderlich viele Quellen, die ausreichen könnten, um eine direkte Nacherzählung kreieren zu können.
Madeline Miller erschafft in „Ich bin Circe“ dennoch mit einer Mischung aus antiker Literatur und ihrer eigenen Interpretation eine moderne Protagonistin, mit der man sich auch heutzutage identifizieren kann. Das große Interesse der Autorin an der Antike, wird in ihrer Biografie deutlich. Sie studierte klassische Literatur an der Brown Universität und lehrte über fünfzehn Jahre lang Altgriechisch und Latein an einer Highschool.
Durch ihr erlerntes Wissen in diesem Bereich gelingt Madeline Miller ein spielerischer Erzählvorgang der Handlung, sodass keine sonderlichen Vorkenntnissen in der griechischen Mythologie beim Leser vorausgesetzt werden. Bekannte Figuren aus den Erzählungen von Homers Ilias und Odyssee wie Athena, Hermes, Dädalus und Odysseus, erhalten in diesem Roman eine eigene Persönlichkeit und eine Bildhaftigkeit, die beim Lesen für einen guten Überblick sorgen.
Schon nach den ersten Seiten entwickelt man beim Lesen eine Sympathie für Circe. Trotz der episodischen Erzählweise, der jeweils einzelnen Kapitel im Roman, und dem daraus resultierenden niedrigen Spannungsbogen, wird der Leser durch Circe selbst dazu angehalten weiterzulesen.
Vor ihrer Verbannung auf ihre Insel wurde Circe im Reich ihres Vaters von jedem nahen oder entfernten Verwandten grundlos verachtet, beim Lesen ist die größte Freude an diesem Roman die Charakterentwicklung von dem ungeliebten und verstoßenem Mädchen zu einer starken, selbstbewussten und mächtigen Frau mitzuerleben, die immer aufsteht, egal, wie viele Steine ihr in den Weg gelegt werden.
„Ein bisschen Stolz war mir geblieben. Wenn sie nicht weinten, würde ich es auch nicht tun. Ich presste mir so lange die Handballen auf die Augen, bis die Tränen zurückgedrängt waren. Dann gab ich mir einen Ruck und sah mich um.“ (S.102)
Circes Leben spielt in der Antike, dennoch sind die meisten ihrer Erfahrungen, insbesondere ihre Beziehungen und Begegnungen mit anderen Personen, auch in der heutigen Zeit für viele Frauen nichts Unbekanntes. Gerade, wenn es um die #MeToo-Bewegung geht, ist Circe ein Charakter, der erst im Verlauf des Romans lernt für sich selbst einzustehen. Sie schweigt nicht länger, wenn ihr Leid oder Unrecht widerfahren ist. Sie wehrt sich.
„Er glotzte mich eher ungläubig als wütend an. ‘Warum sollte ich das tun?’ Darauf hätte ich viele Antworten geben können. Weil ich die ganze Zeit über nur dein Spielsatz beim Schachern war. Weil du jene Männer ganz bestimmt gesehen hast und wusstest, wie sie sich aufführen würden, und sie trotzdem an meiner Insel hast anlegen lassen. Weil du danach, als ich verletzt am Boden lag, nicht gekommen bist.“ (S.467-468)
„Ich bin Circe“ von Madeline Miller zeugt von einer starken feministischen Stimme, mit einer ebenso starken Protagonistin, die in der heutigen Zeit beim Lesen eine sehr inspirierende Einwirkung auf den Alltag besitzen kann.