Lücken im Zaun

An Marlenes Hand schlenkert ein dünner Stock.

Klack klack, macht er zwischen den grünen Drähten des Zauns.

Immer wenn wir am Zaun entlanggehen, zählen wir, wie oft der Stock klack macht.

 

„Wir müssen uns beeilen“, sagt Marlene und ich weiß gar nicht genau, ob sie eigentlich mit mir spricht. Sie guckt in den Himmel. „Gleich regnet’s. Dann sind die ganzen Spuren weg.“ Wir streuen Bleistiftpulver auf den Gartenpfosten und kleben Tesa drauf. Dann kleben wir die Fingerabdruckstreifen in unser Buch.

 

Wir wohnen mit anderen Leuten in einem roten Haus. Dahinter ist unser Garten. Darin werden die Sonnenblumen größer als Papa und man kann auf den Steinen Apfelsafteiswürfel lutschen. Es gibt einen vorderen Teil, wo wir im Herbst ganz kleine Kartoffeln aus der Erde pulen und Erbsen essen bevor sie gekocht sind. Und dann gibt es einen hinteren Teil, wo keiner Rasen mäht, damit ganz viele Schmetterlinge kommen. Und dann gibt es einen großen Haufen, in dem wir mal ein Gewehr gefunden haben.

„Unser Paradies …“, sagt Papa und Mama sagt „Kinder ham wir’s gut …“

Ein Steinbeet führt hoch genug, dass wir darüber in den fremden Garten springen können. Unsere Nachbarn haben im Herbst die schönsten Kastanien und die meisten Nacktschnecken.

 

Klack klack klack

 

Unsere Nachbarin hat viele Katzen. Die meisten sind drinnen.

Manchmal gehen wir zum Eisessen zu ihr. Immer dann, wenn Mama sagt: „Geht doch mal zum Eisessen zu Frau Siebe. Wenn ihr sie nicht besuchen kommt, kann sie nur mit ihren Katzen sprechen.“ Bei Frau Siebe ist es dunkel und die Vorhänge hängen schwer im Raum und riechen, als hätten Katzen an ihnen runtergepinkelt. Aber sie hat immer Eis da.

„Vanille mögen Katzen am liebsten!“, sagt Marlene. Marlene hasst Vanille.

Wir haben Fotos von unseren Besuchen bei ihr. Eins davon hängt am Kühlschrank. Darauf haben wir rote Augen und das Eis in unseren Glasbechern schmilzt schon zu einer neuen Farbe zusammen.

Gestern lag der Kater von Frau Siebe tot im Garten. Und zwar nicht wegen Altersschwäche. Dafür war er noch zu jung. „Tod ungeklärt“, schreiben wir in unser Buch. An dem Morgen stand Frau Siebe mit dem toten Mikesh vor unserer Tür. Er sah nicht echt aus. Er war platt und seine Pfoten hingen runter. „Mein Baby“, hat sie immer gesagt. „Mein armes Baby!“ Mama war sauer auf Frau Siebe. „Die kann doch hier nicht einfach reinkommen und uns ihre tote Katze vor die Nase halten.“

 

Klack klack

 

Der Zaun unserer Nachbarn ist hier vorbei.

Das Gras ist kurz und hellgrün. Man darf im Frühling nicht drauftreten, weil aus den Samen Grashalme werden sollen. Die Vögel haben aber trotzdem viele Samen gegessen und deswegen sind überall Lücken im Gras. Unsere Nachbarn haben Stühle mit Sitzkissen, die bei Regen rein müssen. Sie haben einen Sandkasten, auf dem ein Brett liegt, damit Frau Siebes Katzen da nicht reinpinkeln und damit Frieda nicht den Sand isst.

In Frau Siebes Haus wohnen noch Frieda und ihre große Schwester Saskia. Wir mögen Saskia nicht. Saskia geht reiten, macht Prinzessinnengeburtstage und föhnt ihren Pony rund, damit er nicht gerade runterfällt. Und manchmal redet sie ganz lange langweilige Sachen mit ihren Freundinnen am Telefon auf dem Balkon. Neben dem Schuppen sind die Kaninchen von Saskia. Wir bringen Flocke und Pünktchen manchmal Löwenzahnblätter mit. Man muss nur aufpassen, dass sie nicht am Finger knabbern, weil sie denken, das Blatt wär noch nicht zu Ende.

 

Klack klack klack klack klack klack

 

Marlenes Stock rattert zwischen den Zaunlöchern in den hinteren Teil von unserem Garten, wo die guten Kletterbäume sind. In unserem Garten sind die Bäume perfekt. Sie sind genau richtig hoch und nicht stachelig und es gibt viele Gucklöcher. „Wenn du meine kleine Schwester noch ein Mal zu diesen Wilden in den Garten lässt, bist du schuld, wenn sie tot unterm Baum liegt!“, hat Saskia ein Mal ihre Mutter angeschrien, weil Frieda bei uns zu Besuch war.

Hinten im Garten sieht man uns nicht. Da wächst das Gras höher als unsere Köpfe. Wir machen es platt, damit wir darauf sitzen können. „So …“, sagt Marlene und zieht ihre Kapuze runter. Ich habe Steine im Schuh und wir müssen wahrscheinlich wieder neue Fingerabdrücke machen, weil die nichts geworden sind.

Wir packen unseren Koffer aus. Da ist das Glas mit der Gewinnerameise drin. Wir haben mal ein Experiment gemacht. Rote Ameisen und schwarze Ameisen verstehen sich ja nicht. Also haben wir ein Nest mit schwarzen Ameisen und ein Nest mit roten Ameisen mit Erde in ein großes Glas getan. Und nach einem Tag war nur noch eine rote Ameise übrig. Als hätten sie sich gegenseitig angegriffen und nur eine rote hat gewonnen.

„Vielleicht wurde sie vergiftet.“

Wir notieren in unser Buch:

„Katze Mikesh. Gestorben am 10. Oktober. Tod ungeklärt.“ Wir kleben den Fingerabdruck daneben, der was geworden ist.

 

Klack klack klack klack klack

 

Es tropft auf meine Kapuze. „Okay, komm, wir müssen wieder beschatten!“, sagt Marlene. Vom alten Klettergerüst können wir aufs Garagendach. Nasses Laub klebt an meinen Schuhen und macht sie ganz rutschig. Im Zelt muss man die Schuhe ausziehen und den Kopf einziehen. Wir essen Salzbrezeln. Es regnet auf unser Dach, als würde jemand anklopfen. Das Licht im Zelt ist bunt. Deswegen sieht Marlenes Gesicht aus, als wäre ihr schlecht. Wir kippen unseren Koffer aus und sortieren die Beweise. Irgendwann hört es auf zu regnen.

 

Klack klack klack

 

Marlenes Stock ist nass geworden und glitscht jetzt durch die Zaunlücken. Unter dem Wasserhahn ist ein Stein und unter dem Stein sind immer die meisten Nacktschnecken. Manchmal zerschneiden Saskia und ihre Freundin eine Nacktschnecke in der Mitte. Dann mischt sich dunkles Blut mit Schleim und alles fließt in die Erde auf den kurzen hellen Rasen von Frau Siebe und versickert.

 

Klack klack klack klack klack klack

 

Wir gehen rein. „Schnecken auf der Haut rumkriechen lassen ist gut. Dann bekommt man nicht so schnell Falten!“ Papa lacht und zieht uns die Schnecken vom Gesicht. „Luzie hat heute ne Nacktschnecke geküsst!“, ruft Marlene.

Bilder mit freundlicher Genehmigung von © Jelena Kern und © Rüdiger Matzeit