Natascha Wodin

Ein Stammbaum mit langem Schatten

Natascha Wodin – Sie kam aus Mariupol

47° 6′ N, 37° 33′ O. So lauten die Koordinaten der ostukrainischen Hafenstadt Mariupol. Hieroglyphen ohne Gesicht. Doch am 24.01.2015 schickten die Nachrichtensender Bilder von Angriffen prorussischer Aufständischer aus der Stadt auf die Bildschirme der Weltöffentlichkeit. Auch Natascha Wodin empfängt die flimmernden Signale aus der Heimatstadt ihrer Mutter, Jewgenia Jakowna Iwaschtschenko.

Dass es sich dabei um deren Heimatstadt handelt, ist abgesehen davon, dass Jewgenia 1944 mit ihrem Mann zur Zwangsarbeit nach Deutschland deportiert wurde und sich mit nur 36 Jahren das Leben nahm auch das einzige, was Natascha Wodin bis dahin mit Gewissheit über ihre Mutter sagen kann: Sie kam aus Mariupol.

Mit dem Drang der Autorin, mehr über das Leben ihrer Mutter vor ihrer Geburt zu erfahren und einer russischen Suchmaschine beginnt die Reise durch die Familiengeschichte. Und Natascha Wodin gelingt gleich ein zweifacher Treffer: Sie stößt nicht nur auf den Namen ihrer Mutter, sondern auch auf den Hobby-Genealogen Konstantin, der ihr von nun an auf ihrem Weg, die Vergangenheit ihrer Familie zu beleuchten zur Seite steht. Ihr einziger Kontakt besteht aus E-Mails, die sie sich in der Hoffnung auf Hinweise gegenseitig und hinaus in die Welt schicken. Und langsam wächst aus ihren spärlichen Informationen tatsächlich ein loses Geäst einer Familiengeschichte, die der Autorin hilft, sich in der Welt zu verorten. Gleichzeitig eröffnen sich mit jeder neuen Erkenntnis weitere Lücken, die es zu füllen gilt.

Wer ist die Frau mit den weißen Haaren auf dem Foto neben ihrer Mutter? Haben sich die Eltern womöglich freiwillig nach Deutschland deportieren lassen? Und wieso fehlen im Kirchenregister die Todesdaten ihres Großvaters; zieht sich der Suizid wohl doch durch das Schicksal ihrer Familie? Auf einige dieser Fragen findet sie schließlich Antworten. Manche sogar mit schriftlichem Beweis. Durch einen glücklichen Zufall fällt ihr der Lebensbericht ihrer Tante Lidia in die Hände, zwischen dessen Zeilen sie auch auf Spuren aus den ersten Lebensjahren ihrer Mutter trifft. Auch die ehemalige Arbeitskarte ihres Vaters, Unterlagen der amerikanischen Behörden und Berichte über das Leben der sowjetischen Zwangsarbeiter aus anderen Quellen tragen zur Verflechtung der einzelnen Stränge zu einem größeren Gesamtbild bei.

“Was hatte ich mir in mein Leben geholt? Was tat ich mir da an?” – Wenn Geschichte die Gegenwart einholt

In der als Protokoll einer Spurensuche beginnenden Erzählung bleibt die Autorin Natascha Wodin als erzählendes Ich die gesamte Lektüre über greifbar. Wir scheitern mit ihr, erfahren ihre nächsten Züge und haben Teil an ihren Reflexionen, wodurch sie nicht nur erzählendes Medium, sondern auch Protagonistin der Geschichte ist. So berichtet sie von einem persönlichen Schicksal, das gerade dadurch berührt, dass es in seiner Beispielhaftigkeit für unendliche weitere Geschichten markiert wird. Durch die Intimität des Ich-Bezugs wird bei uns Leser*innen eine besondere Betroffenheit geweckt, die zeigt wie historische Verhältnisse ganze Familienbiografien bestimmen. Ihr persönlicher Einblick öffnet uns die Augen, fordert uns heraus und lässt uns keine Möglichkeit, es uns in unserer Unwissenheit bequem zu machen.
Zum Ende des Buches vermischt sich der dokumentarische Stil zunehmend mit den Kindheitserinnerungen Natascha Wodins und wird zu einem Versuch, diese mit dem bis dahin Erfahrenen in Einklang zu bringen.

Sowie sich nach und nach die einzelnen Bruchstücke der Vergangenheit ihrer Mutter und ihrer Familie zusammenfügen lassen so lässt Natascha Wodin schreibend, erzählend und erinnernd ein unüberschaubares Dickicht aus Eindrücken, Annahmen und Vorstellungen aus und über ihre eigene Kindheit entstehen. Spätestens jetzt zeigt sich, dass die Geschichte ihrer Mutter auch ihre eigene ist. Natascha Wodins Art zu erzählen bleibt im Gedächtnis haften. Sie geht in Bezug auf die Misshandlungen, die ihre Familie erleiden muss, nicht ins Detail und spart trotzdem keine schonungslosen Wahrheiten aus. Ein erschütterndes Familienportrait, das uns dazu bringt, uns mit unserer eigenen Vergangenheit und Herkunft auseinanderzusetzen.

“In meinem vielleicht letzten Buch zu sagen, was ich in meinem ersten hätte sagen müssen” – Biografie als literarische Lebensaufgabe

Am 8. Dezember 1945 als erstes Kind zweier nach Deutschland verschleppter ukrainischer Zwangsarbeiter in Fürth geboren, wächst auch Natascha Wodin als “Displaced Person” auf. Ihre ersten Lebensjahre verbringt sie in einem alten Lagerschuppen auf einem Fabrikhof, bevor sie und ihre Eltern gezwungen sind ins Valka-Lager in Nürnberg-Langwasser zu ziehen, nur um schließlich in “Die Häuser” umgesiedelt zu werden, eine fränkische Siedlung für all jene, die nun als “Heimatlose Ausländer” bezeichnet und an den äußersten Rand der Stadt sowie der Gesellschaft verdrängt werden.

Hier, wo der Verwesungsgestank einer Knochenfabrik die Luft durchdringt, wo der Fußboden der kleinen Wohnung niemals richtig sauber wird und wo keine zwei Nachbarn die gleiche Sprache sprechen, erzählt die Mutter Natascha die “geheimnisvolle Geschichte von der gläsernen Stadt”, einem utopischen glänzenden Gegenbild zu ihrer eigenen Lebenswirklichkeit.
Einer Lebenswirklichkeit, wie sie die Autorin schließlich auch in ihrem Debütroman Die gläserne Stadt (1980) nachzeichnet. Einem Buch über die Geschichte einer jungen Dolmetscherin, die als Kind slawischer Einwanderer in einer ebensolchen Siedlung groß wurde wie die Autorin. Auch in weiteren Romanen wie Einmal lebte ich (1985) und Nachtgeschwister (2009) dienen biografische Elemente und persönliche Erfahrungen als Folie für ihre literarische Arbeit.

Mit ihrem Buch Sie kam aus Mariupol setzt Natascha Wodin in diesem Sinne eine Klammer, indem sie explizit versucht, bisher verbliebene Leerstellen über die eigene Herkunft zu füllen. Als forschendes Ich liefert die Autorin schreibend ein Selbstportrait, das sich mit den ungeklärten Fragen über den Teil ihrer Selbst beschäftigt, der sich aus der Beziehung zu ihrer Mutter geformt hat. Vielen dieser Fragen kann sie jedoch nur mit Vermutungen beikommen. Was die Mutter wirklich mit der gläsernen Stadt gemeint hat, bleibt für die kindliche wie für die erwachsene Natascha Wodin ungeklärt.

Ist es dann Ironie des Schicksals, dass ihr für eben dieses Werk am 23. März 2017 der Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Belletristik in der Glashalle des Messegeländes verliehen wird? Auf jeden Fall ist es die verdiente Würdigung eines literarischen Forschungsprozesses, der ein biografisches Einzelschicksal in einen größeren gesellschaftlichen Zusammenhang stellt und sich so gleichzeitig in die Liste der Gewinner der letzten Jahre einreiht. So finden sich unter diesen Werken immer wieder ähnliche Themen: Verlust, Krieg und/oder einer Vergangenheitsbewältigung der (deutschen) Geschichte des 20. Jahrhunderts.

“Ein zutiefst körperliches Zugehörigkeitsgefühl zur Spezies Mensch schlechthin.” – oder: was bleibt

Wer also kommt nun aus Mariupol? Jewgenia Jakowna Iwaschtschenko, Tante Lidia und zu guter Letzt ja auch Natascha Wodin selbst. Aus Mariupol kommen auch die Geschichten unzähliger osteuropäischer Zwangsarbeiter, die unter dem grausamen NS-Regime von Unterdrückung, Gewalt und Leid geprägt wurden. So zeichnet die Autorin sich und uns mit ihrem aufwühlenden Bericht von ihrem Schreibtisch aus einen Stammbaum mit langem Schatten. Sie lässt uns zurück mit einem Gefühl der Ohnmacht und einem Verständnis für eine Welt, von der wir eigentlich nichts wissen.

Bild mit freundlicher Genehmigung von Rowohlt Verlag