Pfeil und Bogen Pfeil und Bogen
  • Radar
  • Visier
    • Glätte und Reibung
    • Abgebogen
    • Die Beute
  • Sehnen
    • Pfeilchen und Bogen
  • Das Feld
    • Die Eleganz
    • Getroffen
    • Leipziger Buchmesse Lexikon
  • Radar
  • Visier
    • Glätte und Reibung
    • Abgebogen
    • Die Beute
  • Sehnen
    • Pfeilchen und Bogen
  • Das Feld
    • Die Eleganz
    • Getroffen
    • Leipziger Buchmesse Lexikon
  • Impressum / Datenschutz
Pfeil und Bogen Pfeil und Bogen
Pfeil und Bogen Pfeil und Bogen
  • Radar
  • Visier
    • Glätte und Reibung
    • Abgebogen
    • Die Beute
  • Sehnen
    • Pfeilchen und Bogen
  • Das Feld
    • Die Eleganz
    • Getroffen
    • Leipziger Buchmesse Lexikon
  • Pfeilchen und Bogen

Das große finstere Tor

  • 28. Juni 2021
  • Lena Marie Matzeit
Total
0
Shares
0
0
0
Triggerwarnung: Vergewaltigung, Gewalt gegen Tiere

Eines Sommertages sollte sie wieder die Gänse hüten und so trieb sie die Schoof vor sich her auf eine weite Wiese. „Und wenn sie auf der Wiese angekommen war, saß sie nieder und machte ihre Haare auf, die waren eitel Gold (…)“ Doch da sie sich umblickte, waren die Gänse nicht mehr zu sehen. 

Wenn meine Oma von früher erzählt, dann davon, wie ihr die Gänse in den Fluss geflogen sind und sie alle klitschnass herausfischen musste. Wenn wir Walderdbeeren zwischen den Berliner Gehwegplatten sammeln, erzählt sie, wie sie wilde Erdbeeren am Gaumen zerquetscht hat. Betrachte ich ihre Geschichten heute, fällt mir vor allem die fehlende Ambivalenz in den Erinnerungen auf. Das Erlebte spielt in einer eindimensionalen Welt und wird mit kindlichen Worten erzählt. Die Felder und Beeren sind unerschöpflich, alles sprießt und ist fruchtbar. Es wird nie dunkel in Omas Geschichten; es ist immer helllichter Tag und immer, immer Sommer.

Das, was ernst ist, findet erst in der heutigen Bundesrepublik statt. Meine Oma wuchs in einem Ort zwischen dem ostpreußischen Insterburg und Kuckerneese an der Memel auf, im heute an Litauen angrenzenden Russland. Zwischen ihren Kindheitsorten und Schalksmühle in Nordrhein-Westfalen, wo sie ihre Söhne aufzog, ist eine 1.400 Kilometer große Lücke, etwas mehr als 15 Stunden im Auto, B54, A45, A2, A12 … E22, S28.

Lupinen und Kerbel
Schalksmühle
Birnen aus dem Garten
Schalksmühle
Kastanienalleen, weite Wälder, Pilze sammeln
Schalksmühle
Klöße mit Specksoße
Schalksmühle
Schwimmen in der Pawe
Schalksmühle


Vor ein paar Jahren reiste ich dieser Lücke nach ins ehemalige Ostpreußen, um das Haus zu suchen, aus dem meine Oma als Kind 1945 mit ihrer Pflegemutter geflohen war. Ich fuhr in einer Reisegruppe durch eine Reihe der Länder, die zu Zeiten des Nationalsozialismus zum Deutschen Reich gehört hatten. Aus den Bus-Lautsprechern tönte Land der dunklen Wälder, ein Lied, bei dem meine Oma weinen muss. Während meine Mitreisenden die Lieder mitsangen und ihre ehemalige Heimat an uns vorbei zog, wurde mir bewusst, dass ich eine Geschichte bereiste, in die ich mich als Kind hinein gewünscht hatte.

Mit meiner Kamera nahm ich eine Mitreisende auf, wie sie eine Hand voll ostpreußische Erde von ihrem verlassenen Hof einpackte. Im Verlauf der Reise sprach ich mit acht Menschen, die in der Zeit, als Ostpreußen zu Russland, Litauen und Polen geworden ist, Kinder waren. Sie sind geflohen, wurden vertrieben oder evakuiert. Ich sammelte ihre Fluchtgeschichten, suchte biografische Kreuzungen und Zufälle in den Erinnerungen, die sich mit denen meiner Oma überlappen oder gleichen könnten. „In der Stadt war ein großes finsteres Tor, wo sie abends und morgens mit den Gänsen durch mußte (…)“. 

Lupinen und KerbelVor der Flucht den Hund erschießenSchalksmühle
Birnen aus dem GartenHinter sich den Hof niederbrennenSchalksmühle
Kastanienalleen, weite Wälder, Pilze sammelnSchreie der nicht gemolkenen KüheSchalksmühle
Klöße mit SpecksoßeTyphus im GefangenenlagerSchalksmühle
Schwimmen in der PaweVon Soldaten im Stroh vergewaltigt werdenSchalksmühle

Oma erzählt nicht, was in der 1.400 km großen Lücke passiert ist. Einiges lässt sich schließen oder erahnen, aber ich werde es vielleicht nie wirklich wissen. Denn diesen Teil der Geschichte erzählt sich meine Oma auch selbst nicht. Ihre erinnerten Erinnerungen handeln vom Leben in idyllischer Natur, wiederholen sich wörtlich, erinnern stark an die ostpreußischen Lieder. Es ist, als hätte sie sich irgendwann die Geschichten von sich selbst gemerkt. Als könne sie die inneren Bilder, die alles Dunkle überschrieben haben, nicht mehr bewusst genug erinnern, um sie mit neuen, eigenen Worten zu erzählen. Die Bilder und Ereignisse verbleiben in der Kinderwelt, aus der sie geflohen ist.

Kopfsteinpflaster, ein gelbes Haus wie eine Kulisse, drum herum braches Land. Wind pfeift um die losen Steine an der Rückseite des Marktplatzes 1, einige Meter dahinter der Fluss. Ich werde von den Mitreisenden beglückwünscht, dass das Haus noch steht, nun habe ich es ja gefunden. Ich versuche es so zu fotografieren, dass es zu den Geschichten meiner Oma passt. Obwohl sie das nie beschrieben hat, nie den Marktplatz oder die unbefestigte Straße dorthin. Ich hab mir gar kein Haus vorgestellt, nie das, was in diesem Haus passiert sein könnte, nur das Draußen und die wilden Erdbeeren. Auch wenn hinten das Haus wartet, meine Oma ist am Fluss. Wieder muss sie die Schoof aus dem Wasser holen, „(…) und so hüteten sie die Gänse, bis daß es Abend ward“1.

1 Brüder Grimm: Die Gänsemagd, Kinder- und Hausmärchen (KHM 89)

Bild mit freundlicher Genehmigung von Milena Maren Röthig | Pfeil und Bogen
Total
0
Shares
Share 0
Tweet 0
Pin it 0
Related Topics
  • Erinnerung
  • Haus
  • Leerstelle
Lena Marie Matzeit

ist 1995 in Berlin geboren, kam 2015 für die Philosophie nach Hildesheim und hat sich so in die Vermischung von suchendem Sprechen mit Praxis verliebt, dass sie hier auch ihren Master begonnen hat.

Voriger Artikel
Beitragsbild
  • Pfeilchen und Bogen

Über Wirkliches

  • 21. Juni 2021
  • Hannah Wendt
Weiterlesen
Nächster Artikel
Beitragsbild
  • Pfeilchen und Bogen

Mein Sessel

  • 9. Juli 2021
  • Anika Stooss
Weiterlesen
Dir könnte auch gefallen
Weiterlesen
  • Pfeilchen und Bogen

Märchenwelten

  • Jesse Hahn
  • 6. August 2021
Weiterlesen
  • Pfeilchen und Bogen

Heile Welt

  • Julia Schlicht
  • 26. Juli 2021
Perspektivwechsel
Weiterlesen
  • Pfeilchen und Bogen

Perspektivwechsel auf der (Märchen)Leinwand

  • Lea Frauenknecht
  • 16. Juli 2021
Perspektivwechsel
Weiterlesen
  • Pfeilchen und Bogen

Das Eigenheim

  • Judith Reith
  • 15. Juli 2021
Beitragsbild
Weiterlesen
  • Pfeilchen und Bogen

Mein Sessel

  • Anika Stooss
  • 9. Juli 2021
Beitragsbild
Weiterlesen
  • Pfeilchen und Bogen

Über Wirkliches

  • Hannah Wendt
  • 21. Juni 2021
Weiterlesen
  • Pfeilchen und Bogen

Existenz als Sammelbegriff

  • Alexander Schuchmann
  • 20. Mai 2021
Weiterlesen
  • Pfeilchen und Bogen

Kapitel 0: Die Kunst des Sammelns

  • Celine Stappen
  • 14. Mai 2021

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Viel gelesen
  • slow reading club 1
    Slow Reading Club 1
    • 26. Januar 2023
  • route 2
    Der Krieg, meine Oma und die Flucht
    • 16. August 2022
  • Krieg Ukraine 3
    Google: KRIEG [unvollständig]
    • 19. Juli 2022
  • Flieder heult 4
    Flieder heult
    • 19. Juli 2022
  • Titelbild zu Juri Andruchowytsch Roman "Geheimnis" 5
    Was ist das “Geheimnis”?
    • 19. Juli 2022
Neu
  • Topik
    Eine leere Topik oder: Entwurf einer Behauptung
    • 19. Juli 2022
  • mosaik
    Algen ·موزاییکМозаїка فسيفساء Mosaik
    • 19. Juli 2022
  • Wir verstehen den Krieg nicht
    • 19. Juli 2022
Pfeil und Bogen
  • Über uns
  • Pfeil und Bogen
  • Alle Autoren und Autorinnen

Gib dein Suchwort ein und drücke Enter.