
„Seit ich in den USA bin, sehe ich zuallererst die Hautfarbe der Menschen.
COOL.
Nein.
JETZT MACHST DU WIEDER DAS GESICHT.
LASS DAS BITTE, DAS IST DEIN WEISSES PRIVILEG-GESICHT.
Sorry, das war unbewusst.
IN ANGOLA HABEN SIE KOKOSNUSS ZU DIR GESAGT, ODER? AUSSEN BRAUN, INNEN WEISS. WENN DU DIESES GESICHT MACHST, VERSTEHE ICH, WIE SIE DARAUF KOMMEN.
Alle wollen ständig mit mir über Rassismus sprechen. Das ist doch nicht meine Lebensaufgabe.
DU HAST DOCH DAVON ANGEFANGEN.“
Olivia Wenzel in 1000 Serpentinen Angst, erschienen 2020 bei S. Fischer
Dieses Buch ist anders, als alle Romane, die ich bisher gelesen habe. Und nicht nur seine Form ist anders, erinnert stellenweise an ein Theaterstück, auch inhaltlich ist das Anders sein ein großes Thema. Damit kennt sich die namenlose Protagonistin, als Person of Color in Ostdeutschland aufgewachsen, nur zu gut aus.
Noch nie ist es mir so schwer gefallen, eine Rezension zu schreiben, den Inhalt eines Buches zusammen zu fassen, denn: 1000 Serpentinen Angst bietet mindestens 1000 Ansätze zum Nachdenken. Zum Beispiel über Rassismus, Privilegien, Mutter-Kind-Beziehungen, Familienkonstrukte, Freundschaft, Rollenbilder, Erwartungen, Psychische Krankheit, das Leben in der DDR, den Verlust eines geliebten Menschen und Sexualität.
Der Roman liest sich wie ein Blick in den Kopf der in Berlin lebenden Frau Mitte 30, wie eine Ansammlung von Gedankenfetzen und Erinnerungen, gespickt mit Dialogen und immer wieder mit Bezügen zu historischen Ereignissen oder Querverweisen auf die Popkultur.
Realität vermischt sich mit Fiktion, wenn die Protagonistin im Snackautomaten sitzt.
„Kürzlich hat jemand den Snackautomaten wie eine überdimensionale Bierdose zerdrückt. Sein Inhalt ergoss sich raschelnd über Bahnsteig und Gleisbett, samt mir, mein Aufprall war hart. Seither liegt zwischen meinem zerbeulten Körper und dem zerbeulten Automaten eine Spur aus Snacks, Exkrementen und kleinen Zellophantieren. Eine lustige Ansammlung, liederlich ausgebreitet zwischen den Schienen wie die Innereien einer überfahrenen Taube.“
Olivia Wenzel in 1000 Serpentinen Angst
Mehrere Handlungsstränge verlaufen parallel, es gibt Sprünge in die Vergangenheit, in die Zukunft, dann ist man wieder in der Gegenwart, in Vietnam, New York oder auf einem Bahngleis. Manch angefangene Gedanken werden überraschend an völlig anderer Stelle weiter erzählt, andere nicht. Der eine rote Faden fehlt, aber den sucht man ja auch im eigenen Kopf oft vergebens. Stetig wiederkehrendes Motiv ist die STIMME.
„WAS SAGST DU?“
…..
„WAS SAGST DU?“
Olivia Wenzel in 1000 Serpentinen Angst
Ich zweifele an meinem Verstand, kann die Stimme keiner konkreten Person oder Ebene zuordnen. Ist das die Protagonistin selbst? Ihr Über-Ich? Ihr Bruder? Eine Therapeutin? Aber vielleicht muss ich das auch gar nicht. Immer wieder bohrt die STIMME in Großbuchstaben unaufhörlich nach, stellt unangenehme Fragen, zwingt die Protagonistin zur Erinnerung.
Zum Beispiel an den Selbstmord ihres Zwillingsbruders. Oder an ihre Kindheit, in der sie durchgehend damit beschäftigt war, nicht aufzufallen. An den Abend, an dem sie Exfreundin Kim kennen gelernt hat und sie gemeinsam Bierflaschen vom Balkon geschmissen haben. An Gespräche mit ihrer Großmutter Rita, die sie bis heute manchmal noch „Schokokrümel“ nennt, und nicht versteht, was daran falsch ist; sie meine es doch liebevoll.
Die Protagonistin erzählt von ihren ersten bewussten Transaktionen im Kapitalismus (mit sieben Jahren der Kauf am Kaugummiautomaten) und der Überraschung des Klassenkameraden, als sie im Regen nicht „abfärbt“. Sie läuft Banane essend durch New York, startet von Marokko aus einen eher halbherzigen Versuch ihren in Angola lebenden Vater zu treffen und bemüht sich um das Gespräch mit ihrer Mutter, zu DDR-Zeiten eine rebellische Punkerin und im Clinch mit dem Staat. Nun lebt diese aus Angst vor dem Gesetz zurückgezogen im Wald.
Angst ist, wie der Titel schon verrät, auch für die Protagonistin ein Thema:
„Angst vor dem Einschlafen, obsessive Gedanken vor dem Einschlafen, Herzrasen, Schlaflosigkeit, Grübeln, Angst vorm Grübeln, Kreislaufprobleme, Angst vor der Angst, immer weniger Schlaf, schließlich Angst vor dem Einschlafen, immer mehr Angst.“
Olivia Wenzel in 1000 Serpentinen Angst
Auf Anraten ihrer Freund*innen startet sie einen Versuch, sich dieser in der Gesprächstherapie zu stellen, doch die größte Hürde ist es erstmal, überhaupt eine passende Therapeut*in zu finden, vor allem als Person of Color.
Mit 1000 Serpentinen Angst veröffentlicht Olivia Wenzel ihren Debütroman. Sonst arbeitet sie als Performerin, macht Musik, gibt Workshops für Kinder und Erwachsene und schreibt vor allem fürs Theater. Und das merkt man dem Roman auch an. Es ist fast, als würde das Buch sagen „Ich will auf die Bühne“. Aber erstmal sollte es einen Platz im eigenen Bücherregal finden, damit man es immer wieder hervorholen kann. Denn es ist kein Werk, um es in einem Rutsch durch zu lesen. Man will das Buch beiseite legen, um das Gelesene auf sich wirken zu lassen, um einem der 1000 Denkanstöße nachzugehen.