„Jetzt geht se in den Westen“- Ein Gedankenstottern.

Wenn ich an den Osten denke, denk ich an Bananen, beziehungsweise an die Abwesenheit von Bananen und dagegen gesetzt die Anwesenheit von Trabis. Dann denke ich, was für ein Klischee und dann beginnen meine Gedanken zu stottern:

Ich komme aus dem Osten. Aus Dresden – geboren und aufgewachsen. Mein Vater genauso. Meine Mutter hat ihre Kindheit erst in Halle an der Saale und dann in Dresden verbracht, aber so viel Unterschied macht das jetzt auch nicht.  „Jetzt geht se in den Westen“, so hat mein Großvater die Wahl meines Studienortes kommentiert und ich verdrehte die Augen.

Ich verdrehe immer die Augen, wenn jemand so etwas sagt. Der Osten. Der Westen. So ein Quatsch. Ich bin 1996 geboren, da war das mit der Wiedervereinigung durch. Ich komme aus Deutschland. Aus Sachsen. Aus Dresden. Mehr Abstufungen brauch ich da nicht und schon bei diesen Orten ist die jeweilige Identifikation nicht wahnsinnig groß. Jetzt wohne ich eben in Hildesheim. Keine große Sache. Alternativen waren Hamburg, Halle, Hannover, Gießen, Leipzig und Berlin. Ost. West. Als ob ich mich über meinen Wohnort definieren müsste.

Wenn ich an den Osten denke, denk ich an einen Polylux, der hier Overheadprojektor heißt. Ich denke an mein Fahrrad. Ich denke deswegen an mein Fahrrad, weil ich es mir von meinem Jugendweihegeld gekauft habe und hier erst erklären muss, was eine Jugendweihe ist.

In meinem ersten Seminar stoße ich dann auf Unklarheiten. Wir lesen Faserland von Christian Kracht und ich habe keinen Schimmer was Salem sein soll, oder Fisch-Gosch. Den anderen hundert Leuten im Seminar scheinen die Begriffe aber etwas zu sagen und ich frage mich, ob es einfach westdeutsches Wissen ist und ärgere mich im gleichen Moment darüber. Die haben vermutlich das Buch schon gelesen oder lassen sich ihr Unwissen nicht anmerken.

Außerdem bin ich ja nicht die Einzige aus dem Osten. Das Stimmt. Allerdings denke ich mir zunächst ein Verhältnis von 50-50 und ich merke erst mit der Zeit, dass das nicht stimmen kann.

Wenn ich an den Osten denke, vermischt sich jetzt und früher. Und ich muss an meinen Geschichtslehrer denken, der stundenlang über die Vorteile von Gewerkschaften reden konnte und aus dem Dunkel meines Hirns kommen Zahlen und Daten: 7. Oktober 1949 –13. August 1961- 3. Mai 1971- 9. November 1989.

Das Thema des diesjährigen Projektsemesters ist 1968.  Ich bin nicht begeistert, kann aber nicht richtig definieren warum.  Ich spreche mit meinen Großeltern über das Thema: „Wie sich das auf mein Leben ausgewirkt hat, kann ich im Grunde nicht sagen. Ich war damals Offizier der NVA und hab kaum was davon mitbekommen.“, „Die 68er haben wir nur übers Radio mitgekriegt. Wir konnten uns eine Meinung bilden. Der Zeitung hat man nicht geglaubt. Dem Westradio so richtig auch nicht. Die Wahrheit lag wohl immer irgendwo dazwischen.“ Bei mir bleibt das Gefühl, dass 1968 ein westdeutsches Thema ist.

Wenn ich an den Osten denke, denke ich an Paddeln im Spreewald, an Zelten am Ostseestrand und an Spaziergänge in Fürstenwalde. Meine Sommerferien.

Es fühlt sich seltsam an in Seminaren zu sitzen, wenn es um den Osten geht. Was Moritz von Uslar im ersten Kapitel von Deutschboden schreibt, klingt, als würde er auf Expedition gehen oder in den Zoo. Besuch des natürlichen Lebenshabitats des Prolls. „Ich freute mich auf den Proll. Der Proll, erklärte ich der Berliner Runde, der könne gar nicht böse, widerlich, asozial, beinhart und abstoßend genug sein.“ Herablassung schwingt in jedem Wort und ich fühle mich gekränkt. Persönlich beleidigt. Auch wenn ich weiß, dass es kleinlich ist und ich auf den tollen Stil und die coole teilnehmende Beobachtung achten sollte. Obwohl ich genau die Orte kenne, die er beschreibt. Ich war dort im Ferienlager.

Wenn ich an den Osten denke, denke ich an den Wahlerfolg der AFD, an die NPD im sächsischen Landtag und an PEGIDA Demos vor der Semperoper.

Einige meiner Freunde sagen, dass sie sich nicht vorstellen können in Ostdeutschland zu leben. Auch wenn sie teilweise selbst dort herkommen. Ich kann sie verstehen. Obwohl ich beginne mich zu fragen, ob es in irgendeinem Dorf an der Mosel oder in der bayrischen Kleinstadt wirklich besser ist?

Gleichzeitig schäme ich mich. Ich schäme mich für Menschen, die ich gar nicht kenne, mit denen ich nichts zu tun und nichts gemein habe. Beziehungsweise eine Sache eben doch: Wir sind die aus dem Osten.

Wenn ich an den Osten denke, denke ich an Schlagzeilen des Spiegels und der BILD. Dann vermischen sich Klischees über die neuen Bundesländer mit Urteilen über die DDR: MAUER IM KOPF, HARTZ4, UNRECHTSSTAAT in fett gedruckten Buchstaben.

In der Gesellschaft gibt es verschiedene Gedächtnisformen, in welchen heute an die DDR erinnert wird. Doch nur eine ist groß medial präsent: „Das staatlich privilegierte und im öffentlichen Gedenken vorherrschende Diktaturgedächtnis. Es fokussiert vor allem auf den Macht- und Repressionsapparat und den Täter-Opfer-Gegensatz.“

Wenn ich an den Osten denke, denke ich an Dokus im Dritten und somit an Aktenstapel, an Paraden und Plattenbauten und an ein alles umfassendes Grau.

Der Osten wurde an die BRD angegliedert und dann mit westlichen Strukturen übergossen. Meistens fällt es mir nicht auf und wenn stör ich mich nicht daran. Doch manchmal entsteht ein flaues Gefühl. Mehr Empfindung als Wissen. Die großen Medien sind westdeutsch, die angestoßenen Debatten sind westdeutsch und auch das Geschichtsbild ist westdeutsch. Ausschlaggebend für die Bewertung der DDR ist die Stasi.

Für meine Mutter war eine Flucht in den Westen nie eine Option, ja es gab die Stasi, die plötzlich an der Haustür auftauchte und einen geplanten Berlinbesuch verbot, doch mit der Idee des Sozialismus gab es ein System, das ihr viel gerechter vorkam. Ein System in dem es Probleme gab, aber auch Menschen, die sich für die Lösung dieser Probleme einsetzten. Für meine Mutter war der Westen grau.

Wenn ich an den Osten denke, denke ich an blaue FDJ-Blusen, die ich nie gesehen habe; Mosaikhefte, die ich nie gelesen habe; Pionierlieder, die ich nie gehört habe.

Mit Ostalgie kann ich nichts anfangen. Wie sollte ich auch?  Warum soll ich mich nach etwas sehnen, was ich nie kennen gelernt habe? Was ich jedoch kenne, sind Kindheitsgeschichten meiner Eltern. Geschichten vom Ausflug der Klassenbesten zur Pioniereisenbahn mit Pittiplatsch und Schnatterinchen. Geschichten vom Einkaufen im Delikat oder vom Urlaub in Bulgarien. Diese Geschichten kamen mir nie ostalgisch vor, auch wenn ich weiß, dass meine Mutter die damaligen Buchpreise vermisst. Meine Eltern waren nicht unglücklich und so sind ihre Geschichten nicht unglücklich. Diese Geschichten haben mich geprägt. Mein Bild der DDR. Sie kollidieren. Sie kollidieren mit dem Bild der DDR, das anderswo gezeichnet wird. Aus dieser Kollision der verschiedenen Bilder und Gefühle entsteht mein Bild des Ostens. Mein Stottern.

Wenn ich an den Osten denke…

Bild mit freundlicher Genehmigung von Saskia Scheffel | Pfeil und Bogen