Daniel Kehlmanns Lichtspiel
Es gibt ein Erfolgsrezept beim Rowohlt-Verlag. Das Rezept ist einfach, aber funktioniert: Daniel Kehlmann plus historischer Roman plus einigermaßen bekannte Hauptfigur gleich Bestseller. Mit Die Vermessung der Welt gelang Kehlmann 2005 sein Durchbruch, mit Tyll knüpfte er 2017 an diesen Welterfolg an. Beide Bücher stellen historische Figuren und Ereignisse in ihren Mittelpunkt, beide standen wochenlang auf den Bestsellerlisten. Auf Widerstand dürfte Daniel Kehlmann also nicht gestoßen sein, als er dem Rowohlt-Verlag seinen aktuellen Roman Lichtspiel vorlegte. Auch dieser Roman verhandelt Historisches mit historischen Figuren. Und tatsächlich, auch dieser Roman eroberte prompt den ersten Platz der SPIEGEL-Bestsellerliste. Das spricht nicht gegen das Buch. Aber wie gut ist der neue Kehlmann?
Lichtspiel erzählt von der Karriere des österreichischen Filmregisseurs Georg Wilhelm Pabst im Nationalsozialismus. Ursprünglich hat G. W. Pabst kommunistisch angehauchte Sozialdramen gedreht und möchte auch nach seiner Emigration in die USA eben solche Spielfilme in Hollywood drehen. Doch ein Erfolg im amerikanischen Studiosystem will sich nicht einstellen. Das Licht der kalifornischen Sonne strahlt nicht über ihm. Also trifft Pabst eine eigenwillige Entscheidung: Er zieht dem Flüchtlingsstrom entgegen in seine alte Heimat Österreich zurück, die inzwischen „Ostmark“ heißt und Teil des Deutschen Reichs geworden ist.
Identität und Seele
Zwar versucht Pabst anfangs noch, sich aus der Politik herauszuhalten. Doch der Totalitätsanspruch der Hitler-Diktatur lässt das natürlich gar nicht zu. Also arrangiert sich Pabst mit den neuen Machthabern und geht einen sprichwörtlichen Pakt mit dem Teufel ein, in Gestalt von Josef Goebbels. Goebbels verspricht Pabst: „Jedes Budget, jeden Schauspieler. Jeden Film, den Sie machen wollen (…)“ – man könnte auch sagen: den totalen Film. Als Preis dafür fordert Goebbels Pabsts Gefolgschaft, seine politische Identität und Integrität. Wenn man so will: seine Seele.
Zunächst dreht Pabst nur eine harmlose Komödie. Doch schon danach assistiert er Leni Riefenstahl bei ihrem Spielfilm „Tiefland“ und erlebt dabei, wie Riefenstahl Zwangsarbeiter als Statisten einsetzt. Zwar hält Pabst die eitle Riefenstahl für völlig unbegabt, doch in der Tat: Warum die Möglichkeiten einer Diktatur nicht nutzen, wenn man schon in einer lebt! Pabst steigert sich sodann in ehrgeizige Filmprojekte und erhebt die Kunst zu seiner Ideologie: Alles, was dem Filmemachen dient, ist ihm willkommen. So wird aus dem einstmals „roten Pabst“ ein radikaler Opportunist, eine nietzscheanische Figur, die die Kunst als erhaben über allem Anderen ansieht.
„Ohne uns wäre alles genauso, niemand wäre gerettet, niemand besser dran. Aber es gäbe den Film nicht“, lässt Kehlmann seinen Pabst entsprechend sagen. Dass es den großen Film am Ende doch nicht geben wird, zeigt Pabsts Verblendung. Die Kunst steht natürlich nicht über allem und sie rechtfertigt auch keine Diktatur. Soweit, so richtig. Doch völlig neu ist der Gedanke nicht.
Die Geschichte eines Künstlers, der sich auf eine Diktatur einlässt – insbesondere den Nationalsozialismus –, darin nach Vollendung strebt und letztlich scheitert, bearbeiteten auch schon andere vor Daniel Kehlmann. Ob reale Figur oder erfundene, Bühnenkünstler oder Komponist, ob Stalin-Herrschaft oder Hitler-Regime – ähnliche Erzählmuster finden sich in Klaus Manns Mephisto (1936), Thomas Manns Doktor Faustus (1947) oder Julian Barnes’ Der Lärm der Zeit (2016). Nirgends rechtfertigt die Kunst die Diktatur. Nirgends hält die Kunst der Diktatur überhaupt stand. Natürlich muss ein Roman nichts völlig Neues erzählen oder erfinden, oft genug geht das überhaupt nicht. Doch man kann einen Roman an seinen Vorgängern messen, und in diesem Fall müsste man feststellen: Lichtspiel erreicht diese Vorgänger nicht ganz.
Klaus Mann zeichnet in Mephisto das deutlich an Gustaf Gründgens angelehnte Porträt eines manischen Theaterschauspielers. Im Nationalsozialismus besticht dieser als Charakterschauspieler, doch als Mensch bleibt er charakterlos. Dagegen wirkt G. W. Pabst in Lichtspiel eher wie ein Schattenriss. Zwar bekommen wir seine Kindheit, seine Vaterbeziehung und seinen Weg vom Theaterschauspieler zum Filmregisseur referiert. Doch damit wird das ganze eher abgehandelt als in die Substanz einer Figur überzugehen. Was beispielsweise interessierte Pabst ursprünglich am Kommunismus? Wie sieht er seine sozialistischen Ideale im National-Sozialismus pervertiert? Davon beleuchtet der Roman allenfalls wenig. Mehr als um die Figur geht es also um die Themen, ähnlich wie in Doktor Faustus oder Der Lärm der Zeit.
Teufelspakt
In Doktor Faustus vergleicht Thomas Mann die strenge kompositorische Ordnung der Zwölftonmusik mit der strengen Gesellschaftsordnung einer Diktatur. Der fiktive Komponist Adrian Leverkühn wird im Roman zum Erfinder dieser neuartigen Kompositionstechnik und strebt mit ihr nach künstlerischem Weltruhm wie Hitler-Deutschland nach der Weltherrschaft. Mit diesem Grundmotiv verwoben werden zudem noch der mittelalterliche Faust-Stoff mit seinem berühmten Teufelspakt, biografische Anspielungen auf Friedrich Nietzsche, autobiografische Anspielungen auf Thomas Mann, die Verbindung von Krankheit und Kunst sowie der Wandel Münchens von einer kommunistischen Zelle hin zu Hitlers „Hauptstadt der Bewegung“.
Julian Barnes wiederum zeigt in Der Lärm der Zeit anhand bloß dreier Episoden, wie der Komponist Dmitri Schostakowitsch an der Stalin-Herrschaft zerbricht. Ursprünglich ein halber Dissident, fällt Schostakowitsch nach und nach in ein ohnmächtiges Mitläufertum. Lichtspiel erreicht weder diese Komplexität noch diese Simplizität.
Bleibt der Schreibstil. Kaum eine Rezension, die nicht die erwähnte Goebbels-Szene gelobt hätte. Und es stimmt: Beinahe surrealistisch, zugleich absurd und hochbedrohlich, sticht diese Szene aus dem Buch hervor. Doch der Perfektionseifer greift nicht auf den Roman als ganzen über; das meiste bleibt dagegen routinierte Schreibarbeit, Tagewerk eines geübten Schriftstellers.
Wenn etwa Pabsts Hausmeister in den Roman eintritt, nähert sich der Schreibstil eher Theodor Fontane an als der literarischen Moderne. Der Kapitelname „Hochland“ (wenn es um Leni Riefenstahls Film „Tiefland“ geht) wirkt eher wie ein schneller Einfall als eine ausgereifte Idee. Und statt mit letzter Tiefe endet der Roman in milder Verlegenheit. Einzelne Szenen und Kapitel werden immer wieder akribisch ausgeleuchtet. Doch was dazwischen liegt, bleibt eher Fernsehfilm als großes Kino.
Und zuletzt bleibt manches fragwürdig: Könnte ein Filmregisseur im untergehenden Nationalsozialismus wirklich noch ein unpolitisches Meisterwerk drehen? Zeigt nicht gerade Leni Riefenstahl, dass die hohe Filmkunst – wenn es sie im Nationalsozialismus gab – immer hochideologisch sein musste? Blieb das Unpolitische nicht, mit Goebbels voller Absicht, bloß seichte Unterhaltung ohne künstlerischen Wert? Und machten nach Kriegsende nicht eher fast dieselben Filmemacher fast dieselben Unterhaltungsfilmchen als dass an Sets mit einer weiblichen Drehbuchautorin und einem jüdischen Ton-Mitarbeiter mittelmäßige Aufarbeitungsfilme gedreht wurden?
Vergleicht man Daniel Kehlmanns Lichtspiel mit anderen aktuellen Bestsellern ragt der Roman mit großer Strahlkraft hervor – er ist ein verdienter Erfolg. Vergleicht man ihn jedoch mit vorangegangenen Romanen, die schon Ähnliches erzählen, sollte man diesen Romanen den Vorzug geben.
Rowohlt, 2023, 480 Seiten, Hardcover
Daniel Kehlmann
Daniel Kehlmann wurde 1975 in München geboren und erlangte mit „Die Vermessung der Welt“ internationale Bekanntheit. Sein Roman „Tyll“ wurde für den International Booker Prize nominiert, außerdem erhielt Kehlmann zahlreiche Preise, darunter den Kleist-Preis und den Thomas-Mann-Preis. Er lebt in Berlin.