Wir gestehen. Wir hatten mal Exfreunde, die hießen Kevin und Justin und Mirko und würden Rotlicht von Nora Bossong nur in die Hand nehmen, weil ihnen das Cover Sexszenen a lá Anja Baffours Im Puff war ich die Tiffany. Hurenreport. Eine Prostituierte packt aus! verspricht. Wobei, wahrscheinlich wäre ihnen bei Baffour bereits der Titel zu lang. Rotlicht aber würden sie todsicher spätestens nach dem Klappentext wieder zur Seite legen. Denn Nora Bossongs literarische Reportage beleuchtet das Thema aus einer ganz anderen, analytischeren Perspektive, als der Titel nahelegt.

Von dem »`nen Table-Dance-Club besuchen könnte ich auch«-Eindruck, den das Buch eingangs vermittelt, sollte man sich nicht abschrecken lassen. Die Autorin stößt von Kapitel zu Kapitel immer neue, unbekanntere Türen auf. Und je fremder und bizarrer die Orte dahinter werden, desto interessanter wird es, von ihnen zu lesen. Nach und nach setzt sich so ein vielschichtiges Mosaik der hiesigen Lustbefriedigungsindustrie zusammen, das gleichermaßen Sex-Messen, Sex-Kinos, Saunaclubs, Wohnungsbordelle und den Straßenstrich einschließt.
Mit klarer, nüchterner Sprache berichtet Bossong über das Milieu und die Szeneangehörigen: von den Prostituierten Bina und Angelina über Edi Stöckli, den Pornokönig der Schweiz, bis hin zu Fritz, dem Fremdenführer auf dem Kiez. Sie schildert ganz unterschiedliche Positionen rund um eine von Männern dominierte Szene aus Sicht einer jungen Frau, ohne dabei zur Klischee-Feministin zu werden. Ihren präzisen Beobachtungen entgeht weder die Rollenverteilung beim Gruppensex im Swingerclub, die Blicke der Männer im Sexkino noch die rhythmischen Trippelschritte der Prostituierten: »Drei Schritte vor, Drehung, vier Schritte zurück.«
Bossong ist eine hochaufmerksame, teilnehmende Beobachterin – nur leider mit zu wenig Teilnahme für unseren Geschmack. Zwar ergreift sie nicht gleich die Flucht, wenn sie ein versifftes Sexkino betritt und von den dort anwesenden Männern wie Frischfleisch gemustert wird. Immer wieder aber verhindern die im Text offen artikulierten Hemmungen der Autorin, dass sie den letzten Schritt ins Geschehen hinein wagt: „Wollt ihr eine Eintrittskarte?“ Hastig schüttele ich den Kopf und ziehe Daniel in Richtung Ausgang, vorbei an den Peitschen, in Penisform gebogenen Strohhalmen und Dildos, die dicker sind als mein Oberarm. „Das ist mir zu heftig!“
Es ist ein unentwegtes Pendeln zwischen Teilnahme und Distanz, das die episodisch aneinandergereihten Erlebnisberichte grundiert. Insiderinfos, persönliche Hintergrundgeschichten, die Gefühlslagen der Sexarbeiterinnen jedoch kommen sehr kurz: Wie fühlt sich die Frau auf der Sex-Messe beim Einführen eines Dildos vor Publikum? Was empfindet die von keinem Mann beachtete Tänzerin? Fragen wie diese bleiben offen. Verlässlich erfahren wir nur, was die Autorin selbst dabei denkt und fühlt.
Bossongs Ansatz als solchen finden wir mutig. Notwendig. Und in seiner Befangenheit authentisch. .
Dennoch: Bossongs Ansatz als solchen finden wir mutig. Notwendig. Und in seiner Befangenheit authentisch. Hätten wir noch Kontakt zu Kevin, Justin und Mirko, wir würden ihnen das Buch zum Geburtstag schenken. Nicht nur, weil sie nach der Lektüre den Unterschied zwischen einer Tantra-Massage und Prostitution kennen würden. Sondern vor allem, weil Rotlicht immer wieder zeigt, von wem und auf welche Weise hierzulande Begehren und Lust fabriziert wird. Und was diese Mechanismen und Inszenierungen letztlich über unsere eigene Sexualität erzählen.
Nora Bossong: Rotlicht. Hanser, 2017. 240 Seiten.