Jeden Tag unterbreche ich die Routinen. Mein Herz. Ein Gang die Straße hinunter, den Hügel hinauf, die geflickte Straße, die gefällten Bäume, die Schottergärten, der Parkplatz. Vorbei an dem Feld, wo sonst Blumen stehen. Über Verbundpflaster hinunter einem kleinen Bach und bald zurück. Gehen im Kokon, um auszublenden, um nicht zu aktualisieren. Die endlose Sorge. Die Sonne blendet und ich höre erst das Grummeln, dann den Mann, der mir entgegen und gefährlich nahe kommt. Es grummelt, was nicht artikuliert ist, was hinter der Maske verborgen ist.
Kann sein, ich habe ihn schon mal gesehen. Oder er mich. Einen Namen weiß ich nicht. Geblendet kann ich nicht rechtzeitig wie sonst kalibrieren, wie mein Körper den Abstand bewahrt. Also muss ich rasch über den Bordstein tänzeln, erschreckt und geblendet, aber auch eingebrannt der Ausdruck seiner schwelenden Augen. Ich als Feind, plötzlich anwesender Tod. Als ich mich noch einmal umdrehe, ist er weg.
Ich kann die Routinen nicht unterbrechen. Sie sind vertraut und so neu zugleich. Vertraut, weil ich tue, was ich immer tue, nicht anders kann und will. Neu, weil es die Unterbrechungen nicht mehr gibt. Ununterbrochen verfolge ich meine Arbeit, in meinem Kokon, draußen blendet die Sonne, und gelegentlich hebe ich den Kopf, fasse mir in den Nacken. Ich habe vergessen, wie ich mich unterbreche. Die anderen, die mich unterbrechen könnten, sehe ich schemenhaft, ihre Bewegungen hinter dem aufgespannten Netz, durch die Löcher höre ich ihre Rufe, aber sie meinen nicht mich.
Dass diese Welt überhaupt etwas Physisches hat. Wir brauchen Nähe, um übertragen zu können. Wir sehnen uns nach Übertragung. Wir tasten uns, wir knirschen mit den Zähnen, lehnen uns an, wir flüstern. Dann kennen wir die Welt. Eine Umarmung, ein Ausatmen, ein Händedruck machen den Unterschied aus. Ein Leben und ein Tod, hundert, tausend. Auf das, was sich entfaltet, sind wir nicht vorbereitet, hier und jetzt.
Wir sind nicht damals und dort und überall. Wir sehen Nachwirkungen, aber wir sehen es nicht. Wir hören ein raues, trockenes Husten. Wir hören nicht, wie etwas in unser Selbstbewusstsein eindringt. Bleiben wir also in aller Stille. Die Erinnerungen an früher verschwimmen bereits. Wir lassen uns im Jetzt nieder, erlernen neue Feinheiten und schalten uns stumm, ohne gefragt zu werden. Eine Frage ohne Antwort. Die Folgen dieser Stille werden als Armut beschrieben werden. Mit dem Vokabular unserer Verwirrung. Aus der Ungenauigkeit, der Melancholie der Distanz.
Mein Herz fällt
Wir spüren die Desorientierung und bemühen uns, allein zu sein. Wir leisten uns den Widerspruch. Soziale Verzweiflung als Privileg. Das Privileg der Müdigkeit, der verpixelten Schaltungen, Stottern statt Gespräche, eingefrorene Bildschirme, die Verbindungen abhalten. Alle sind wir unter Wasser, aber lau, und die Konturen der Welt werden zum Trost durch einen Kompressionsfilter geschickt. Wenn wir uns begegnen, führen wir nicht nur einen Tanz auf, wir ahmen aus sicherer Entfernung die Handlungen der anderen nach. Mein Herz fällt.
Warum wird eigentlich so wenig getrauert? Wie lange würde es dauern, die Namen all der Toten auszusprechen? Wenn man bei der Bestattung nicht dabei sein kann, muss man ihre Geschichten erzählen. Wir haben sie verloren. Ein Reichtum an Geschichten für unsere Verluste. In den Geschichten findet sich ein gemeinsamer Raum. Dort können wir die verwundbaren, die verletzten Körper durch unsere eigenen Körper abschirmen, mit einer temporären narrativen Immunität: “and a couple from Wauwatosa, Wisconsin, married for seventy-three years, who died within a few hours of each other, their hospital beds moved close together so that they could hold hands.”
Meine Zukunft ist statisch. Kannst Du mich lesen? Ein Keil fängt leicht den Ton, die elektrische Nacht, aufgeraute Schattentat versteckt. Fern ändert sich was und dreht und rutscht und singt und dehnt bis zu dem Punkt, an dem ich aufhöre, mir Sorgen zu machen. Wie ein dünner Draht, auf dem ich mich nicht bewege und schrumpfe. Mein Herz.
Ein helles Glas auf einem Stuhl, der um uns gewickelt wird mit müßigen Händen und blinkenden Augen. Diese Spirale dreht ganz alleine in den Stein, eine Gleichung, inselgebunden, eine Motte im Auge, luftlos. Ein Vakuumkind außer Sicht, während sich die Tage seitwärts drehen. Eine feuchte Rolle von Scheinen im Mund, Finger im Haar, mit Sahne gekämmt. Was kommt zuerst, der Klang oder das Wort? Wir spielen Wachsamkeit und Ordnung.
„Die gelöste Relation, das, was als Sinnreferenz nicht mehr funktioniert, validiert die Erfahrung der Erschütterung. Daraus kann ich mir über das Vernachlässigte klar werden. Vielleicht gibt es irgendwo Verbindungen, die ich nicht nur herstellen muss, sondern auch solche, die zu kappen sind. Eine Verbindung ist ja nicht per se positiv. Ich ertappe mich ja zum Beispiel auch manchmal in einer Relation zu rassistischem Gedankengut und denke, fuck, das habe ich ja auch. Das sind nicht immer bewusste Verbindungen. Zum Glück kann man sich darüber klar werden, eine Korrektur eintragen, wachsam sein.“
(Monika Rinck)