Topik
© Nikola Meiers

Eine leere Topik oder: Entwurf einer Behauptung

1Den Begriff der Topik verwende ich nicht als Begriffsdominanz – wenn lediglich anschneidend in seinen wissenschaftlichen Begriffsbedeutungen. Im Rahmen dieses Entwurfs verstehe ich ihn mehr als eine Art Ansatzpunkt, von dem ausgehend ich mich Yevgenia Belorusets ästhetischer Herangehensweise annähern und gleichzeitig diesen Essay ausloten und gestalten möchte. Die Unbefangenheit, die dieser Begriffsaneignung vorausgeht kann als bewusst eingenommener Ausgangspunkt gelesen werden und sich möglicherweise als erkenntnisbringend erweisen. In der unbefangenen Verwendung des Topik- wie Topos Begriffs sehe ich die Öffnung und Weitung eines Blick- bzw. Begriffsfelds ermöglicht, das selbst als ein Ort fungieren kann, um Begriffliches verändert sehen, verhandeln und miteinander ins Verhältnis setzen zu können. Der Begriff der Topik, abgeleitet vom altgriechischen τόπος tópos, das sich mit „Ort, Platz, Stelle“ übersetzen lässt, genügt – um es kurz zu machen –, diesem Text eine Chance zu geben.

Darüber, wieso Behauptungen nie wissen, ob sie funktionieren werden

Die folgenden Behauptungen, die mehr zeilenhaft als thesengrundiert aufgestellt werden,  beanspruchen für sich, das ästhetisch-visuelle wie poetologische Herangehen Yevgenia Belorusets  als eine Gestaltungsform von Kritik zu erkennen. Was die Sauberkeit der ebenfalls gewollt  wissenschaftlichen – sprich: versucht distanzierten Betrachtung – verunreinigt, ist die Überzeugung,  den (eigenen) lesenden und sehenden Blick in die Behauptung über etwas unmöglich neutralisieren  oder gar verbannen zu können. Darüber hinaus erscheint mir diese vergebliche Ausgrenzung durch  ihre Zwanghaftigkeit nicht attraktiv. Die eher subjektiven und bodenlosen Einschläge, die sich ab  einem bestimmten Zeitpunkt in dieser Abhandlung einen Platz frei-räumen, wollen jedoch nicht den  gesamten Entwurf für sich vereinnahmen. Dieser Wille geht dem Anspruch dieser Behauptung(en)  voraus. Die zweite und wesentlich relevantere Vorbemerkung betrifft das Verhältnis, das Yevgenia  Belorusets zu ihrer literarischen wie schriftstellerischen Arbeit einnimmt. Mich interessieren die  ästhetischen Strategien, die dieses Verhältnis implizieren und formen. Um zu „beweisen“, dass es  ästhetisch gestalteter Strategien bedarf, die den Untersuchungsgegenständen und ihren spezifisch  ästhetischen Dimensionen angemessen sein und zu diesen in ein Verhältnis gesetzt werden müssen,  versuche ich im Rahmen dieses Textes die methodischen Bewegungsformen Belorusets (die ich ihr  möglicherweise eher andichte als dass sie tatsächlich eindeutig markiert werden könnten) im  Umriss mimetisch nachzufahren. Der reine Blick, so der Kunsthistoriker und Philosoph Georges  Didi-Huberman existiert nicht: Das, was wir sehen, impliziert immer schon das, was wir wissen.2Judith Elisabeth Weiß, Der gebrochene Blick: Primitivismus – Kunst –Grenzverwirrungen, Dietrich 2 Reimer Verlag, Berlin 2007, S. 33.

Unser Blickverhalten auf unsere Umwelt ist so betrachtet immer mit einer visuell-begrifflichen  Einstellung verhaftet. Als Konsequenz lässt sich daraus natürlich sagen, dass unser Blickfeld immer schon vorkalkuliert – da produziert – zum Zugriff bereit liegt. Wir sehen nur das an Bildern, was  wir bereits als Repräsentation erwarten. Weniger desillusionierend ist hingegen die Behauptung,  dass die permanente Verstellung von „Wirklichkeit“ auch immer eine Lückenhaftigkeit in sich  wahrt, die einen potenziellen Rest, eine Überschusslogik verspricht, da sie das gewohnte  Blickverhalten überragt und ver-rückt. Genau dieses Restpotenzial begreift dieser Entwurf als  Hoffnung, die eine Weitung, Kreuzung und im besten Falle eine Sprengung unserer eingewöhnten  Blickverhalten bewirken kann.  

Um es also kurz zu machen und das folgende etwas konkreter zu fassen: Glückliche Fälle stellt sich  mir als ein Buch dar, das auf eine solche Überschusslogik setzt. Yevgenia Belorusets Ansatz ist  insofern eigentümlich als dass er das Bild „der ukrainischen Bevölkerung“ in einer Art de konstruiert, die sich nicht vereinnahmend, nicht gewaltvoll oder übertönend auf die Menschen  auswirkt, deren Stimmen sich in Glückliche Fälle behaupten. Das textlich wie photographische  Material entzieht sich jeder Bildhaftigkeit. Die Textkörper in Belorusets Buch exemplifizieren diese  Überschusslogik, da sie die Idee von narrativer Identität auf eine Weise ins Rutschen bringen, über  die nicht unmittelbar verfügt und zugegriffen werden kann.

Der Körper als Blickfeld und Ort  

Ganz so, als ob es eine Topik der Liebe gäbe, von der die Figur dann ein Ort (topos) wäre. Das  Eigentümliche einer Topik ist nun aber, dass sie ziemlich leer ist: eine Topik ist ihrem Status nach zur Hälfte  codiert, zur anderen Hälfte projektiv (oder projektiv, weil codiert.)

Roland Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1984, S. 17.

Die Schriftstellerin und Fotokünstlerin Yevgenia Belorusets scheint diese Formen körperlicher  Grenzerfahrungen als eine Möglichkeit ästhetischer Zugänglichkeit zu verstehen, durch die  „mikroexistente“ Lebensrealitäten der ukrainischen Bevölkerung beschreibbar werden können. In  dem von ihr geschriebenen und 2019 in deutscher Übersetzung erschienenem Buch Glückliche  Fälle drückt sich der lesenden Person vieles als Ausdruck ein, hängen bleibt: der Körper als Feld  der Ent-Ortung, der Blick als verkehrte Spiegelung und textlose Fläche, die Schichtung und  Spaltung eines vermeintlich kollektiven Schicksals. Identität wird ständig verworfen, da die Autorin  sowohl mit ihrem Selbstverständnis als Autorin wie auch mit ihrer (ukrainischen) Identität  bruchlustig umgeht. Jeglicher Vergewisserung wird eine Absage erteilt, mehr noch: es scheint  Anspruch Belorusets Sprachform zu sein, eine solche Absage entschieden einzufordern. Konkret  heißt das, dass deduktive Verfahren, die auf dualen und linearen Strukturierungen wie Innen Außenwelt bzw. sozialtheoretischer Makrologie und ästhetischer Mikrologie aufbauen, durchkreuzt  werden. Die individuelle Verfasstheit kann nicht über ein kollektives und wesentlich nachträglich3Ich halte es mit den Begriffen „Makrologie“ und „Mikrologie“ hier wie folgt: Beloruset negiert in Bezug auf die Art, in der sozio-kulturelle Eigenschaften betrachtet, beschrieben und letztlich analysiert werden, weder die Existenz makrologischer noch die Existenz mikrologischer Gesellschaftsstrukturen. Vielmehr und das soll deutlich werden, geht sie mit diesem Spannungsfeld feingliedrig um. Sie operiert weniger mit ontologischen Zuschreibungen als mit Perspektiv-Verkehrungen. Allein ihr Vorwort stellt einen Zugang für diese Mehrschichtigkeit dar, die eng mit einer Forderung einhergeht, die Lust an der Lektüre als eine Lust am Suchen zu verstehen. konstruiertes Bild erklärt werden, umgekehrt kann aber auch nicht etwa das „Individuum“ an sich  vorgefunden werden, da es auf einen Körper und dessen physische wie psychische Schutzlosigkeit  zurückgeworfen bleibt. Gerade in dieser Schranke scheint die Haltlosigkeit des Versuchs, Identität  ausfindig machen zu können, begründet zu liegen.  

Koexistenz: kollektiver und individueller Erfahrungsräume  

Hier erklingen die Sprachen verschiedener Personen und treten miteinander in Konflikt,  mehr noch, Fotos und Texte treffen aufeinander, sind jedoch nicht in der Lage, sich  gegenseitig zu erklären oder zu illustrieren. Der Kunst der Designerin Uljana Bytschenkowa ist es zu verdanken, dass sie ko-existieren  müssen, und zwar vor allem deshalb, damit keine Idee, keine Stimme, insbesondere nicht  die der Autorin, die anderen dominiert.

Yevgenia Belorusets: Glückliche Fälle, S.7

Belorusets scheint das Spannungsfeld zwischen einem kollektiven Gesellschaftsbild, das nur  schwerlich der Versuchung widerstehen kann, sich von vereinheitlichenden Erzählstrategien  absorbieren zu lassen und nicht-reduzierbaren Momenten, also intimen Erzählungen und  Geschichten, gleichzeitig aufladen und besänftigen zu wollen. Wiederholt entscheidend: Es bedarf  visueller Ankerpunkte, um dem Körper ein Gleichgewicht zu geben.4Ausgehend von der letzten Bemerkung in Fußnote 3 ebnet sich die Art, in der ich „Körper“ innerhalb 5 dieses Entwurfs verstehe und als Begriff behaupte, in das Spannungsfeld von makrologischer und mikrologischer Dimension ein. Der Körper scheint die Fläche zu sein, der alles an Widerspruch und Sprache – kurzum: Gewalt in sich vereinbaren muss. Welche Strategien, Körper sich aneignen, um funktionieren und sich ver-orten zu können, soll hier als Frage, die keine eindeutige Antwort finden will, umrissen werden. Körper sind notwendig auf das Arrangement anderer Körperfelder angewiesen. Gleichzeitig und dagegen scheint auch Beloruset anzuschreiben, lässt sich eine Gesellschaft und „Identität“ nicht durch das Bild eines Körpers abdecken, sondern lediglich überdecken.

Nicht wiederholend, aber entscheidender: Erst der Körper stellt her, was ihn visuell verankern  könnte. Unsere Körper sind nachvollziehbar als punktierte Texturen und als zufällig geworfener, im  Werden begriffener Wurf. In seinem Essay Die Helle Kammer verwendet Roland Barthes zwei für  seinen Untersuchungsanspruch konstitutive Begriffe: studium und punctum. Interessant ist, dass sie  nicht in einer notwendigen Bedingungsstruktur miteinander eingekapselt sind. Während das  studium, da es verwiesen ist auf kulturelle und gesellschaftsverbindliche Konventionen, mit einer  Selbstverständlichkeit eingesehen werden kann, ist die Existenz, das Er-Sehen eines punctums auf  die kontingente Verfasstheit des Blicks zurückgeworfen. In ähnlicher Weise geht Belorusets mit  dem Verhältnis von kollektivem und individuellem Erfahrungsraum um. Das Bild eines kollektiven  Körpers, konkret: „einer“ ukrainischen Identität wird von ihr bewusst entzerrt. Der Versuch, der  ihrem Photo- und Textband unterliegt, ist nicht, ein dokumentarisches Artefakt über die ukrainische  Gesellschaft darzulegen, sondern sich von der Intimität und Unerreichbarkeit verschiedenster  Blicke ergreifen zu lassen. Die Frauen in Glückliche Fälle werden nicht als Projektionsflächen5Auch wenn ich weniger die Bedeutung der weiblichen Stimme in Belorusets Buch thematisiere, so spricht 6 die Wahl, lediglich Frauen erzählen zu lassen für die grundsätzliche Behauptung dieses Versuchs, eine Art Gegen-Erzählen zu schreiben, die sich jeglicher Erwartung an eine narrative Geschichte widersetzt und jedes Bild ins Wanken manövriert. verhandelt, sondern als zufällig und glücklich erfasste Begegnungen. Bei Barthes’ punctum ist es ist  die Wechselhaftigkeit, die der Gegenstand der Untersuchung (die Photographie) zum betrachtenden  Blick unterhält, das interaktive Verhältnis, das Prinzip des Beziehens ist, was letztlich  konstituierend wirkt. Diese wirkende Beziehung zwischen punctum und studium ist in dem  Verhältnis von kollektiver Narration und persönlicher und punktueller Textur wiederzufinden. In Glückliche Fälle werden die Texte, die verschiedensten Sprachen nicht durch die Photos ausgestochen. Beides wirkt aufeinander ein, was hängen bleibt ist nicht der Eindruck einer  Entsprechung, sondern unheilsame Dissonanz.  

Blick als Verkehrung

Interessanter, aber auch undurchsichtiger wird es, wenn ich versuche, tiefer vorzudringen in den  ästhetischen Zugang, die Gestaltungsform Belorusets Methode. Spätestens bei einer wiederholten  Lektüre macht sich ein Prinzip, eine Art von Bewegung bemerkbar. Der Ausgangspunkt dieser  Bewegung kann nicht ver-ortet werden, es gibt sozusagen keinen Bildgrund, wenn überhaupt so  etwas wie ein Versammeln von Sprachstoff. Diese Bewegung vollzieht sich durch eine de-zentrale  Struktur, die auch als ästhetische Strategie der Autorin bezeichnet werden kann. Bereits im ersten  Vorwort lässt sich dieser de-zentrale Ausgangspunkt als Voraussetzung dafür, was sie zu vermitteln  versucht, erkennen:

Die inhaltlichen Linien dieses Buches, von denen zwei fotografischer Art sind, widmen  sich nicht den Umbruchsgeschichten der Gegenwart, sondern, wie man beim flüchtigen  Hinsehen glauben könnte, ihren Rändern.

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Dem Vorwort auch zu entnehmen ist ein spezifisches und bewusst eingenommenes Selbstverhältnis,  denn der nachgestellte Satz scheint die vor-gestellte Randhaftigkeit und Belanglosigkeit als solche  kritisch zu kommentieren:

Genauer gesagt einem tieferen Eindringen der traumatischen historischen Ereignisse in die  Fantasie und Alltagserfahrung. 

Seite 6

Der Blick, der dem vorherigen Satz noch als Einstellung vorausging, wird durch die unmittelbare  Nachstellung des letzteren ver-stellt: Die vor-gestellte Randhaftigkeit wird als Trugschluss  ausgestellt, wenn nicht sogar verworfen. Gerade diese wechselnden Blickeinstellungen wirken  innerhalb des Buchs als Verkehrungsstrategien, als Kippbewegungen, die sowohl die Lesenden, als  aber auch die Autorin selbst daran hindern, eine Perspektive, einen Ort zu bewohnen, um eine  Vergewisserung für sich beanspruchen und behaupten zu können. 

Eine Topik als Voraussetzung zu nehmen, die keinen festen Grund, sondern lediglich zähe  Grundierungen aufweist und die Einarbeitung eines permanent brechenden Blicks, scheinen daher  als integrale Momente für Belorusets „Vermittlungsanspruch“ zu fungieren. Nicht weniger relevant  ist der Eindruck, der sich bei mir als Leserin einstellt: auch wenn sich Belorusets nicht eindrängt in  das, was sie sprachlich ausstellt, situiert und bezieht sie sich dennoch ein in diese leere Topik, die  durch die einzelnen Geschichten verschiedene Gestalten annimmt. Dieser Einbezug vollzieht sich  indirekt, aus einem subtilen Abseits. Belorusets scheint mit ihrer Rolle als Autorin und  Dokumentarfotografin als eine Art Zwischenraum umzugehen, der es ihr ermöglicht, keine der  Geschichten durch einen dokumentarischen und literarischen Blick zu vereinnahmen.

Sie haben eine Sammlung von Texten vor sich, die eine fotografische Tiefe haben, etwas,  das sich der endgültigen Kontrolle durch die Autorin entzieht: die Materie von Gewesenem,  von Begegnungen, Gesprächen, Geschichten. Wenn ich fotografiere, sehe ich es  grundsätzlich nicht als meine Aufgabe an, technische Bilder in dem Sinne herzustellen, wie  Vilém Flusser Fotografie charakterisiert. Mich interessiert die Arbeit mit Erinnerungen, mit  der Möglichkeit, diese Erinnerungen mit Hilfe eines Fotos zu formen, das zwar den  Anspruch auf Wahrhaftigkeit erhebt, zugleich jedoch jemandes Idee, Zugang,  Eindringlichkeit in den Alltag repräsentiert.

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Sichtbar wird Belorusets kritisches Verhältnis zur dokumentarischen Methode, das letztlich nach  einer abwandelnden Umgangsform mit dem „dokumentarischen Wert“ verlangt. Eine veränderte  (Blick-)Einstellung auf die Art, in der wir etwas von einer dokumentarischen Fotografie oder einem  Text erwarten, wird hier strategisch von ihr in einen visuell wie textlichen Kippmoment gestoßen.  Die lesende Person gewinnt kein einheitliches Bild: weder von „der ukrainischen Bevölkerung“  ausgebreitet in makrologisch ausgearbeiteter Akribie noch von einer methodischen Schreibform, die  sich eindeutig beschreiben ließe. Es gibt keine Narration, einzig ein Spiel mit Irritationen. Anders  formuliert: das De-zentrierte, das Randständige sticht als wirkendes Zentrum hervor. Als leere  Topik, in der die Menschen als eigentliche Orte, in ihrer Verweisung aufeinander einen  unterbrochenen Topos bilden, der jegliche Erwartung, jeden Versuch, sich zu vergewissern, in eine  Auflösung versetzt. 

Sowohl mit den Fotoreihen als auch mit den Texten möchte ich zeigen, wie das  Aufeinandertreffen unterschiedlicher Kontexte die Sprache auflädt und umformt, was in einer Absage an den Einsatz von jeglichen Instrumenten der Vergewisserung resultiert. 

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Wodurch Belorusets letztlich die „reine“ dokumentarfotografische Methodik nicht nur auslotetet,  sondern auch unterläuft, ist die Einarbeitung der Unmöglichkeit, sich überhaupt zu vergewissern.  Anders formuliert: es gibt nicht ein Bild, sondern einige Bilder, nicht einen Korpus als  Wissenskörper, sondern viele Körper.  Die Form, die sie einzunehmen scheint, ist lesbar als eine, die sich als einen de-zentrierten und  prozess-anhaftenden Nachvollzug beschreiben lässt. Als eine Haltung, die der Verführung  widersteht, Text zu verkörpern – heißt: versucht, Text in und durch die Stofflichkeit eines Körpers  zu ver-rücken, den Ort selbst zu verkörpern. Körper in ihrer kontingenten und immer unverfügbaren  Verfasstheit aufzufassen – diese Zerbrechlichkeit und Unerreichbarkeit – er- und ein-arbeitet  Belorusets als Blickfeld und ästhetischen Ausgangspunkt in ihre Prosa.

Verdoppelter Zugriff  

Mindestens drei separate Themen, die indirekt mit dem Konflikt im Donbass zu tun haben,  behandeln nicht den eigentlichen Konflikt – sondern seine dialektische Überwindung –  durch Phantasmagorie, Erzählung, Gespräch und Ausstellung der Situation.

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Belorusets ästhetische Verfahrensweise ist insofern als eine Form lesbar, die den Text als  permanenten Gestaltwandel verwirft, als ihrer Schreibweise nicht einfach ein doppelter Zugriff  zugrunde liegt, der – wie Daniel Graf schreibt – auf „dieselbe Wirklichkeit“ ausgerichtet ist.6Daniel Graf, „Aufruf zum Selberdenken –Yevgenia Beloursets“, siehe: https://www.republik.ch/ 7 2022/03/12/sie-erzaehlen-vom-krieg?fbclid=IwAR1AKqIq4s2GCmInlndxMrO0oVKyzM Texoqi0KniaBHg5le-Cmk3B3Yn3g/ (abgerufen am 30.4.2022).

Vielmehr macht Belorusets in der Art, in der sie auf mikro-ästhetische Lebensrealitäten zugreift,  eine Verdopplung des Blickfeldes auf. Dies lässt sich zum einen daran erkennen, dass weder die  Texte noch die Fotos aufeinander in komplementärer Weise einwirken: Der Text geht nicht im Foto  auf und das Foto nicht im Text, die zufällige und ungeregelte Setzung und Anordnung der  Photographien unterstreicht diesen Eindruck. In dieser gesetzten Irritation lässt sich eine gewisse  Programmatik erahnen, die sich darin versucht, gewohnte Blickeinstellungen zu verschieben. Doch  es greift noch tiefer: Auch im Text operiert Belorusets mit einer Verdopplung des Blickfelds. 

In Andreas Gegenwart versuchte ich mir oft vorzustellen, was passieren würde, wenn ich  ein anderer Mensch wäre, wenn ich, anstatt mit einem Fragenkatalog von Stadt zu Stadt zu  reisen, selbst eine Figur, ein Beispiel, eine bearbeitbare Stimme wäre, die einen bestimmten  Inhalt illustriert.

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Das Projizieren einer Bevölkerung als bildhaftes Kollektiv spielt sich reibungslos ab, wenn der  Maßstab an die Lektüre niedrig angelegt ist. Oder anders: wenn der Maßstab sich selbst nicht ernst  nimmt, keinen (Selbst)Anspruch enthält, läuft das Gefühl leer. Roland Barthes beschreibt die  Lektüre eines Bildes, das auf der Folie eines studiums betrachtet wird als Hingabe an eine Sache,  die lediglich einer Art allgemeinen Beteiligung genügen muss. Die Einstellung eines kulturell  ausgeformten Blicks versetzt das Bild in das präskriptive Wissen einer spiellosen  Erwartungshaltung. Das Bild wird durch die Art, in der ich studiere, heißt: in der ich es einordne7Gerade hier wird die Ambivalenz, die Gespaltenheit und die Unentscheidbarkeit, das dem Ich wie ein 8 abgetragener Rest zu unterliegen scheint, erspürbar. Denn das Ich ist immer schon Projektion durch Codierung und Codierung durch Projektion. Ich: Das ist immer bereits ein Bild. Das Ich ist ähnlich gestrickt wie die Liebe, ein Nicht-Ort und gleichzeitig ein Ort, verzogen und unfähig, sich der Grundlage von Sprache und Ver-ortung zu entziehen. Die kollektive Lektüre ist dem Ich eingeschrieben, umso vergeblicher ist sein Versuch, sich abseits von all jenen Einschreibungen lesen zu können. Aber dennoch: Der ist auf keinen festen Ort zentriert. Sein Bruch, alle jeglichen Einbrüche auf ihn sind zugleich auch die Ermöglichung neuer Verkörperungen. Die Veränderung selbst stellt sich als inhärentes, als körperliches Grundmerkmal dar. und codiere zu dem Bild als das ich es sehe. Das barthe’sche punctum spielt dem auslotend  entgegen, da es es meinen Blick ver-setzt, ich jegliche begriffliche Inventarliste, die Norm der  Maßstäbe vergesse. Mein Blick auf das Bild geht wesentlich aus der Bodenlosigkeit des Bildes, der  Abwesenheit jeglichen Bildgrundes hervor. Ich sehe ver-setzt und dennoch habe ich zum ersten Mal  das Gefühl, tatsächlich zu sehen. Das, was „wie ein Pfeil aus seinem Zusammenhang [hervor  schießt]“ – wie Barthes das punctum beschreibt – erschließt sich mir nicht etwa durch den8Roland Barthes, Die Helle Kammer, Bemerkungen zur Photographie, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1989, 9 S. 35.

Wissenskörper einer Kultur, sondern durch etwas, das man als die Außer-Ordentlichkeit eines  Eindrucks beschreiben könnte. Diese Konstellation bietet sich auch im Ansatz Belorusets dar, nicht  einen bestimmten Inhalt zu illustrieren, den Text, wie die Fotos nicht in die Pferche sozio kultureller Maßstäbe zu pressen.  

Ich konnte mich nicht konzentrieren und Andrea redete weiter in dem Glauben, jetzt sei die  Zeit für pathetische Ausführungen über die Ukraine gekommen. Zuerst warf sie mit Liebesbekundungen um sich, beteuerte, sie sei in das ukrainische Wesen verliebt, und sagte  im gleichen Moment, die Ukraine sei irgendwie das „Land der entbehrlichen  Erscheinungen“. Was so viel heißt wie: Was wichtig ist, verlässt das Land; zurück bleibt der  Bodensatz, all jene, die zufällig nicht woanders gebraucht werden, jene sehnsuchtsvollen,  rastlosen Existenzen, von denen die ganze übrige Welt nichts wissen will. Sie zeigte auf sich  und sagte: Mikroexistenz.

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Der Ansatz dieser Nicht-Entsprechung wird von Belorusets in ihrer Rolle als Autorin und als  gesellschaftsinterne Persönlichkeit immanent verhandelt: Andrea – ein Name, der bereits im  Vorwort auftaucht, scheint grundlegend und sprachformend für diesen Aushandlungsprozess zu  sein. Andrea: wandelt als diskontinuierliche Linie durch das Buch. Andrea: das ist die sprachliche  Fläche, auf der die Autorin ihr Selbstverhältnis zu ihrer Arbeit als Künstlerin, als politische  Persönlichkeit und zum Begriff der Identität kommentiert. Auf Andrea wird das merkwürdige  Gefühl von Dissonanz erkennbar, das sich zehrt von Fragen nach politischer (Ver)-Haltung,  Identität und politisch-persönlichem Selbstverhältnis.  

Ver-rücktes Blickfeld  

 „Die Protagonistin des Fotoprojekts, mit deren Worten ich dieses Vorwort eingeleitet habe,  taucht im Buch wieder auf. Es ist einfach und zugleich unmöglich, sie zu erkennen, denn die  Art zu sprechen, die sie für sich entdeckt hat, ist zur Grundlage meines eigenen Sprechens  geworden.

Seite 7, (Autorin als „Autorin“)

Damit ich Ihnen dafür hieb- und stichfeste Beweise liefern kann – ich sehe ihr  heuchlerisches Gesicht, Sie nicken, obwohl Sie mir kein Wort glauben –, habe ich  beschlossen, für eine Zeitlang bei Ihnen zu wohnen, um sozusagen Ihr Leben zu leben und  mir anzusehen, wie es um Ihren ganzen Einsatz tatsächlich bestellt ist [..].

Seite 15, („Andrea“ zu „Autorin“)

Andrea stellt als ästhetische Figur auch die leere Topik dar. Andrea: das ist das verkehrte  Spiegelbild der Autorin. Andrea: das ist das Medium, durch das die Autorin nicht nur spricht,  sondern sich verspricht. Andrea: das ist die Wunde einer Erinnerungslandschaft und die Tragik  davon, dem Vergessen nicht entweichen zu können. Andrea: das ist der dokumentarische Beweis  dafür, dass es kein Erkennen ohne Sehen geben kann und der reine Blick nicht existiert. 

Mehr muss nicht gesagt werden, um zu behaupten, dass sich die Sprechende als eine Suchende  begreift, die sich zwischen Gesprächen bewegt, die zugleich auch immer Selbstgespräch sind. Die  brüchige Stimme, die sich der lesenden Person einspielt, ist eine, die sich permanent als gespiegelt  begreift: im Blick der Anderen. Die Hoffnung und was die Gewalt letztlich schält, ist, dass jede  Spiegelung eine Verkehrung ver-spricht. Die Suche nach dem visuellen Anfangspunkt stellt sich  nicht. In der Abspaltung vom Punkt und in der Zerstreuung, im Chaos des Beziehens auf-einander,  aus dem wir ständig herausstoßen, ohne jemals vollständig über unsere Spuren verfügen zu können – darin scheint die Haltlosigkeit dieser Suche begründet zu liegen.  

In einem Interview sagt Belorusets:  

Ich versuche immer, wenn ich schreibe oder wenn ich arbeite an einem Fotoprojekt, ich  versuche immer zu kommen von dem Ort, wo ich bin, zu einer Realität, die ich überhaupt  nicht kenne. Es ist immer eine Reise in ein anderes Land für mich, auch wenn dieses Land  nur eine Nachbarschaft oder ein nächstes Haus ist.

Literarisches Colloquium Berlin, Open : closed borders – grenzgänger festival September 2020, „Yevgenia Beloursets über die Rolle der dokumentarischen Fotografin“9siehe https://www.youtube.com/watch? v=6-cEiWinMO8/ (abgerufen am 3.5.2022)

„Du bist immer ein Gast in irgendwelchen Gesellschaften, in irgendwelchem Ort, auch  wenn dieser Ort nur eine andere Person ist, ist es manchmal auch ein Ort.“

Literarisches Colloquium Berlin, Open : closed borders – grenzgänger festival September 2020, „Yevgenia Belorusets über die Bedeutung ihres Lebens in zwei Ländern für ihre künstlerische Arbeit“, 10siehe: https:// www.youtube.com/watch?v=O6HkdnkB9io/ (abgerufen am 3.5.2022).

Das Fremde fordert keine Allgemeinbeteiligung ein, es verhält sich körperlos zum eigenen Körper,  indifferent zu dem, in das es eindringt. Das, was das Fremde interessiert setzt gewissermaßen in der  Nicht-Erwartung an. So scheint auch Belorusets mit einer Form des indirekten Sprechens zu arbeiten, das keine Geschichte abbildet, sondern versucht, die als „ungeschichtlich“ gelesenen  Erzählungen zu vermitteln. Verdichtet wird diese indifferente (Ver-)Haltung durch das literarische,  ich möchte eher sagen: poetologische Selbstverhältnis der Autorin. Die sich selbst ebenso als  fremden Ort begreift, existierend neben anderen. 

Bild mit freundlicher Genehmigung von Sophie Radde | Pfeil und Bogen