Es bliebe, ein Messer anzusetzen. Ein tiefer Schnitt in die Beine würde die Muskelstränge freilegen und jede einzelne Faser Zeugnis einer Erinnerung sein. Sie haben sich eingeschrieben in den Bewegungsapparat, sind überschrieben worden vom alltäglichen Vergessen und gehören in ihren einzelnen Fragmenten rekonstruiert.
Oder es bliebe, den Schreibtisch aufzusuchen. Das größte Archiv ist die Haut. In ihr lässt sich recherchieren und nachvollziehen. Zwischen den einzelnen Zehen, dem Schienbein und Knie, zwischen dem Bauch, der Brust und dem Gesicht vergilben die Erinnerungen Seite für Seite.
„Man kann Städte lesen.“, schreibt Karl Schlögel. „Städte als Texturen und Palimpseste dechiffrieren, ihre Schichtungen in einer Art urbaner Archäologie freilegen und ihre Vergangenheit so zum Sprechen bringen.“ Und man kann sich selbst zum Dokument dieser Städte machen. Die eigenen Erinnerungen und Empfindungen (wieder)lesen, den Gelbstich abschleifen und, sich entlang dieser Fragmente hangelnd, von einer urbanen Archäologie zu einer phänomenologischen Topographie, von den Augen bis zu den Füßen, gelangen.
Augen (Kiew)
Die Бабушки tragen ihre Datschen unter den Augen.
Das Gemüse drückt ihnen tonnenschwer die Falten ins Gesicht und quetscht ihre Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Die Wimpern spannen mühselig die Verkaufsstände und bieten letzten Schutz vor der sengenden Mittagssonne. Auf ihren Holztischen oder auf dem bloßen Straßenrand türmt sich, was ihre Hände noch am selben Morgen oder in dieser Woche geerntet haben: Zwiebeln, Tomaten, weiße und grüne Zucchinis, Kartoffeln, Paprika, Bohnen, rote Beete, Knoblauch, Chilis und Salatköpfe. Aber auch Äpfel, Birnen, Pfirsiche, Weintrauben und Eingekochtes sowie ganze Stände, die ausschließlich Melonen verkaufen, die größer sind als mein Oberkörper. In Höhe überrage ich die Бабушки um mehrere Köpfe, in der Breite hingegen unterliege ich den meisten um ein Vielfaches.
Jeder Weg aus der Wohnung in unserem staubigen Plattenbauviertel führt an ihnen vorbei und endet mit einer roten oder blauen Plastiktüte, die sie zwischen ihren dicken Fingern verreiben und in die sie das gekaufte Gemüse und Obst legen. Wir tragen die Tüten mit uns durch die Stadt, wie andere teure Markentaschen. Um die Бабушки speist sich ein Meer aus aufgeregt leuchtenden Supermarktfassaden und goldenen Kirchtürmen. Zu deren stündlichen Glockenschlägen schlägt der große blaue Wasserkanister, den wir mehrmals wöchentlich in einer Wasserstation um den Block auffüllen, rhythmisch an mein Bein. Das sind unsere 2,5 Liter Dnjepr. Der Sommer ist flirrend bunt in Kiew.
Magen (Ukrajinka)
Das Scheinwerferlicht schneidet die Bäume schroff in den schwarzen Nachthimmel. Die Boxen wummern Rammstein bis ins Wurzelwerk.
Der Wodka war zwischen unseren beiden Gruppen geflossen, als hinge das Leben von ihm ab und vielleicht war dem auch so. Kiew hatten wir am Morgen zu Fuß verlassen, waren viele Kilometer in der Sommerhitze über freie Flächen gewandert, bis uns ein Viertel von Oligarchen-Datschen pervers in die Zivilisation zurück katapultiert hatte. Die meisten von ihnen waren von Meter hohen, blickdichten Zäunen umgeben, weswegen sich der Reichtum nur an der Größe der Grundstücke und der Höhe der Zäune erahnen ließ. Je größer und höher, desto wohlhabender musste der Besitzer sein. Unter der brennenden Sonne und dem weit zurückliegenden Frühstück war mein Magen ganz klein und heiß geworden. Nur ein gelegentlicher Schluck Wasser kühlte ihn ab und hinderte ihn am endgültigen verschrumpeln. In einem Dorf vor Ukrajinka kauften wir uns alle ein Eis und hielten die dünnen Holzstäbe wie kleine Heiligenfiguren andächtig zwischen den Fingern. Wirft man sich in Kiew in den Dnjepr und wird südwärts verdaut, landet man unweigerlich in Ukrajinka und kann sofort in den Himmel fahren, nimmt man die prächtigen Kirchen beim Wort.
Stattdessen gehen wir in den nahegelegenen Wald und spannen zwischen Birken und Kiefern unsere Zeltplane. Wir sammeln Holz, jemand macht Feuer und der Abend wird seiner selbst müde, bis das Unterholz zu einem PS-starken Geländewagen und die Käfer zu trinkfesten, jugendlichen Ukrainern werden. Wegen uns Deutschen spielen sie Rammstein und stoßen geschwisterlich auf die Völkerfreundschaft an. Sie sind die schönsten Menschen dieser Erde. Sie lieben ihr Land, hassen die korrupten Politiker und haben Angst vor der Zukunft. Die eine Hälfte von ihnen will nach Deutschland, die andere sich küssen oder prügeln, weil jemand jemanden küssen will. Irgendwann kotzt Felix am Lagerfeuer und ich vergrabe meinen Durchfall tief im Wald. Als die Ukrainer am Morgen in ihre Städte zurückfahren und wir im Dnjepr die Nacht von unseren Körpern waschen, vermissen wir sie bereits.
Handgelenk (Kiew)
Im Stein und Beton sitzt Stalin, wir sitzen auf dem Majdan. Sieben Mal spuckt er uns aus den Fassaden der klassizistischen Gebäude auf die Köpfe. Wir spucken zurück.
Vom Revolutionsführer Lenin ist nur der auserzählte Witz des Sozialismus geblieben. An seiner Stelle thront Берегиня dreiundsechzig Meter über ihrer Stadt in ukrainischer Tracht und mit ausgestrecktem Kalynazweig. Über dem Majdan schwebt ihr Bronzekörper wie eine zweite Sonne.
Den Morgen haben wir mit schwarzem Tee auf dem Kreschtschatik ertrunken und lassen uns gegen Mittag von den Menschenmengen auf den Majdan spülen. Überirdisch trennt der Kreschtschatik den Platz in einen nördlichen und einen südlichen Teil, unterirdisch wird er durch das Einkaufszentrum Globus zusammengehalten. Ich will irgendetwas über die Sinnbildhaftigkeit dieser Architektur sagen, würde aber auch nur das Offensichtliche aussprechen. Der Majdan ist ein architektonisches Zeugnis für den untergegangenen Sozialismus, den aufstrebenden Kapitalismus und den fortwährenden Unabhängigkeitskampf der Ukraine.
Über dem Platz weht die ukrainische Nationalflagge.
Um den Fahnenmast stehen kreisrund in regelmäßigen Abständen angeordnet meterhohe Metallschilder. Das obere Drittel ist zugunsten einer Reihe menschlicher Silhouetten ausgespart, die sich schattenhaft gegen den dahinter durchstrahlenden blauen Himmel absetzen. Vielleicht sind es die Schatten der getöteten Demonstrierenden, vielleicht aber auch die der mehrheitlich unbekannt gebliebenen Revolutionierenden. Auf einem der Schilder ist im unteren Teil eine großformatige Fotografie angebracht. Sie zeigt einen Demonstrierenden auf dem Majdan. Der fotografierte Majdan und der, auf dem ich mich befinde, sind nicht in eins zu bringen. Auf der Fotografie ist der Boden bedeckt mit Asche und dreckigem Schnee. Im Hintergrund brennt ein Fahrzeug vor einer undurchlässigen Nebelwand. Im Vordergrund ist der Demonstrant in eine dicke Mütze, Winterjacke und feste Stiefel gekleidet und richtet seinen Körper nach einem Ziel außerhalb der Fotografie hin aus. Seinen Oberkörper hat er geöffnet und den rechten Arm hinter die Schulter gezogen, um aus der Körperachse Schwung zu holen. Seine Hand umklammert einen Molotowcocktail.
Ich stelle mir vor, wie sich der Demonstrant aus seiner Erstarrung löst und den Molotowcocktail neben mir auf das gepflegte Pflaster des Majdans schleudert. Ich würde es vermutlich gar nicht begreifen und einfach weitergehen. Ähnlich, wie es mir jetzt unvorstellbar erscheint, dass auf diesem Platz hunderte Zelte, Barrikaden, Krankenstationen und Suppenküchen aufgebaut waren; dass an diesem Ort mehr als einhundert Menschen gestorben sind.
Ich muss einige Zeit in die Fotografie versunken gewesen sein, als eine Frauenstimme mich wieder auf den Majdan des Jahres 2018 zurückholt. Sie spricht schnelles Russisch und will nicht verstehen, dass ich sie kaum verstehe. Sie spricht vom Krieg und einem Lazarett für verwundete Soldaten. Mit dem Finger zeigt sie immer wieder in die Luft, vermutlich Richtung Osten, dem Donbass, nehme ich an. Für eine Spende will sie mir eines der blau-gelb geflochtenen Armbänder geben, die sie in einer Plastiktüte um ihre Schulter trägt. Ich verstehe nicht, für was genau ich spenden würde und wer sie eigentlich ist, halte der geteilten Präsenz ihrer Person und dem eingefroren Demonstranten aber nicht länger Stand und überreiche ihr ein paar Hrywnja. Später mache ich mir mit meinen Freunden einen Spaß daraus und wir stellen uns vor, dass ich ein Lager ukrainischer Nazis finanziell unterstützt habe.
Das Armband hatte ich ein paar Mal getragen und ließ es dann im Kleiderschrank bei meinen Eltern verstauben. Erst am 24.02 kramte ich es wieder hervor und bemerkte, wie es mich die ganze Zeit aus seinem Versteck heraus angestarrt hatte.
Füße (Odessa)
Johanna, Joram und Hannah liegen am Schwarzen Meer auf dem Bauch. Ihre Fußsohlen schauen nach oben und ihre Köpfe nach unten, versteckt und vor der Sonne geschützt zwischen den ausgebreiteten Armen. Die obersten Sandschichten sind zu heiß für die bloßen Füße und so lagern wir sie auf der Decke oder vergraben sie tief in der Erde. Das Meer schmeckt nach verbranntem Urlaub und Salzvergiftung.
Am Morgen hatten wir im klimatisierten Supermarkt Brot, Фасоль, Аджика und Obst gekauft, auf unserer Stranddecke ausgebreitet und in wenigen Minuten verschlungen. Jetzt liegen Johanna, Joram und Hannah unbeweglich auf unserer kleinen Enklave und bevor mir das Hirn garkocht, lege ich Geschichten aus Odessa von Isaak Babel, Heiligem der Stadt am Schwarzen Meer, beiseite und gehe die Promenade entlang.
Die Promenade teile ich mir mit tausenden ukrainischen Touristen und Millionen von streunenden Katzen. Die Touristen verbrennen sich die Füße auf dem kochenden Asphalt, während die Katzen entspannt in den Schatten liegen. Niemand scheint irgendwo hin zu müssen. Seitdem Russland die Krim annektiert hatte, war die Zahl der inländischen Touristen rasant gestiegen. Die Millionen von Katzen waren hingegen schon immer hier gewesen.
Eine von ihnen lebt in Jorams Treppenhaus und gehört einer älteren Nachbarin. Sie begleitet jeden unserer Schritte auf der Treppe und fängt an, sich hörbar zu beschweren, wenn man ihr die Tür vor der Nase zuschlägt. Auf den staubigen Treppenabsätzen hinterlassen ihre Pfoten kleine saubere Inseln.
Am Abend irren wir besoffen vom Tag durch die Gassen. Wir steigen die 192 Stufen der Potemkinschen Treppe rauf und runter und verstecken unseren Alkohol in braunen Papiertüten. In unsere sonnenverbrannten Ohren flüstern wir uns, wie wunderschön Odessa ist und dass wir nie wieder nach Italien reisen wollen. Wir rufen ein Taxi und lassen uns aus der Stadtmitte raus an das Meer fahren. Am Strand ziehen wir unsere Kleidung aus und schmeißen uns nackt in das dunkle Salz. Nach einigen Tagen bemerkt Johanna, dass in ihrem Reisepass der Einreisestempel fehlt. So wie es aussieht, werden wir Odessa wohl niemals verlassen können.
nach Lwiw
In Berlin steigen wir nachts in den Flixbus, der uns für sechzig Euro in zwanzig Stunden nach Lwiw bringen soll. Nach wenigen Minuten beginnt sich mir das Essen im Magen zu stauen und die Haare unangenehm an der harten Kopflehne zu kleben. Die Klimaanlage summt einen gleichmäßigen Takt und lässt die Luft kalt auf der Stirn pappen. Johanna ist neben mir kaum zu erkennen. Ein Teppich russischen und ukrainischen Geflüsters spinnt sich Faden um Faden durch die Nacht und navigiert den Bus auf seiner Strecke. Um uns sitzen ukrainische Frauen, Männer und Kinder. Sie fahren nach Hause.