drehe mich um
© Leander Schroeder

Drehe mich um

Glätte und Reibung 29

Ich drehe mich um, während vorne die anderen ins Auto steigen, sie haben die Koffer vorhin schon verstaut, die Gummistiefel liegen hinten, die Provianttasche zwischen den Jacken auf dem Rücksitz, wie immer. Und wie immer habe ich mich zurückfallen lassen, drehe mich um und lege die Hand über die Augen. Ich sehe den Ort, an dem wir sechs Wochen gelebt haben, das Haus mit seinen kleinen ungeputzten Fenstern, die Tischtennisplatte neben dem Schuppen, den Graben am Weg, in dem wir vorletztes Jahr die Frösche gefangen haben.

Das Strandgras fast orange dort, wo der Sand anfängt. Obwohl ich die Rufe der anderen höre, starre ich das Haus an, denn es wird verschwinden, sobald ich den Blick abwende. Ich will es nicht hergeben, es soll hier bleiben, geduckt und grau vom Salzwind, also muss auch ich hier bleiben, einfach stehen bleiben, mein Blick genügt, und wir können bleiben, einen Augenblick noch.

An diesen Ort, der uns berührt und in dem wir aufgehoben sind, erinnern wir uns, weil wir ihn nicht mehr erreichen können. Er ist kein Ort geworden, aufgehoben alle Bezeichnungen, die denkbar waren und nun nicht mal erinnert werden können. Deshalb komme ich zurück, “zurück auf anfang, in dem, wie die schrift sagt, das wort war.” (Barbara Köhler)

Was ich geschrieben habe, hebt das Wort auf und setzt es in einen Satz, der einen Anfang hat, sich an diesen Anfang klammert und erinnert, wenn er fortschreitet, aufgehoben in eine syntagmatische Struktur, die immer wieder, in jeder Atempause, die Wahl lässt, scheinbar, wie es weiter geht, weiter weg, vom “weh-ort, die schmerzstelle, ein neuralgischer punkt am ende, satzende, lebensende”.

Die Punkte hebe ich auf, wenn ich zurückgekommen sein werde und suche nach Fixierungen, nach allen Ausweissungen und Leerstellen, die mich still, ganz still auf den Punkt bringen, an dem ich aufgehoben bin, an dem ich aber nie bin oder bleiben kann, wohin ich nie gelangen will. Wenn zu kommen mein Wille wäre, wie könnte ich je wieder gehen. Was sich anfangs unterworfen hat und dann die

Vorgabe, die Voraussage macht, um sich gegen ein anderes zu werfen, bewegt sich nicht auf einer Linie, die nichts als einen Punkt braucht, um ein Satz zu sein, um nicht wieder zurückgekommen zu sein an jeden anderen Punkt, an jedes Kolon, das mehr als einen Weg aufmacht, das einen Anfang knotet, weil kein Satz bleibt in einem endlichen Reservoir an Sätzen, sondern immer wieder neu gebildet wird, immer wieder neu und verkehrt, als Gegenbewegung, “ein in die zeit ausgeweitetes gewebe”, in dem die Fäden vor und zurück schießen, kommen und gehen, die Knoten halten und lösen zugleich.

Für diese doppelten Bewegungen muss ich mich wenden, zurückkommen, immer wieder, muss ich zurückgekommen sein, vielgewandt und allein. Ich werde an den Anfang zurückgekommen sein, den ich nicht mehr weiß, den ich bestenfalls sprechen kann, anlauten mit einem ersten und mit einem letzten Buchstaben, die gleich sind in dem Nichts meines Namens, in diesem Versprechen, in dem ich aufgehoben bin, einzig nichts, ganz und gar uneindeutig, verzweigt und immer weniger als alles, was ich erinnern kann.

Also mache ich einen Punkt, ich mache Punkte, so viele, bis es nicht mehr geht, weil einer vom anderen nicht mehr zu unterscheiden wäre, als Linie, als Fläche. Ich mache, ich sehe einen Punkt, der knickt in der Bewegung des Satzes und ihn doch noch weitergehen lässt. Ein Satz, der doch nicht gerade ist und glatt. Ich knicke die Erschütterungen, das Stolpern oder Innehalten, die unbewegte Bewegung zwischen den Sätzen, wo die Punkte stehen wie ein stetiges Klackern und den Satz verwinkeln, nachträglich auch, ihn tunneln, die Richtung zuweilen ändern, verkehrt, kein Zurück, kein Bleiben.

Sätze, in denen ich nichts und niemanden treffe und alles ins Passiv transformiert wird, ohne jegliches Zutun, weil die Sätze sich selber machen und denken, sich übersetzen und vollständig leeren. Ich mache einen Punkt und setze mich darüber hinweg. Ich komme nicht weit. Immer sind wir ganz nah am Anfang des Satzes. Davon gehe ich aus, gleichwohl ich dort nie war.

“Wo man nie ist, wo man nur herkommen kann, immer nur her, also -künftig ist, wo man immer nur war.” Diesen Punkt nehme ich nicht ein und bestimme nichts. Der Punkt bestimmt mich so weit, wie er könnte von dort aus, wo er nicht sein kann. Ich kann diesen Punkt nicht setzen. An dieser Unfähigkeit arbeite ich, von Punkt zu Punkt als Satz, als Sprung, als Riss. Der Riss ist die Verbindung, die passiert und berührt und nicht trifft, die Losigkeit meiner Punkte.

KILLING METHODS
Outside, after grieving for days,
I’m thinking of how we make stories,
pluck them like beetles out of the air,
collect them, pin their glossy backs
to the board like the rows of stolen
beauties, dead, displayed at Isla Negra,
where the waves broke over us
and I still loved the country, wanted
to suck the bones of the buried.
Now, I’m outside a normal house
while friends cook and please
and pour secrets into each other.
A crow pierces the sky, ominous,
clanging like an alarm, but there
is no ocean here, just tap water
rising in the sink, a sadness clean
of history only because it’s new,
a few weeks old, our national wound.
I don’t know how to hold this truth,
so I kill it, pin its terrible wings down
in case, later, no one believes me.
METHODEN ZU TÖTEN
Draußen, nach tagelanger Trauer,
denke ich darüber nach, wie wir Geschichten machen,
pflücke sie wie Käfer aus der Luft,
sammel sie, spieße ihre glänzenden Rücken
an die Tafel wie die Reihen geheimer
Schönheiten, tot, ausgestellt auf Isla Negra,
wo die Wellen über uns brachen
und ich liebte immer noch das Land, wollte
die Gebeine der Begrabenen bloß.
Jetzt bin ich vor einem normalen Haus
während Freunde kochen und sich vergnügen
und einander Geheimnisse einschenken.
Eine Krähe durchdringt den Himmel, bedrohlich,
klappernd wie ein Alarm, aber da
gibt es keinen Ozean, nur Leitungswasser,
das in der Spüle ansteigt, eine Traurigkeit ohne
Geschichte, allein, weil sie neu ist,
ein paar Wochen alt, unsere nationale Wunde.
Ich weiß nicht, wie ich diese Wahrheit aushalten soll,
also töte ich sie, spieße ihre schrecklichen Flügel auf
für den Fall, dass mir später niemand glaubt.
(Ada Limón)

Ich stürze, was ich nicht mehr gebrauche, was genug ist jetzt, was mir nicht mehr einfällt, da ich es aufgehoben habe. Genug, was besser war, genauer, was ich vergessen habe, während ich stürze oder so tue, als hätte ich vergessen, was mir hätte einfallen sollen. Ich schleife und stürze, schiebe und stoße das, was ich sagen wollte, während ich fliehe, weil ich nicht dabei bleiben kann, weil ich mich entschieden habe, nicht zuzulassen, was hätte möglich sein sollen. Es könnte sein, ich stürze.

Das ist, niemand ist das, also weniger als ich, niemand, der Aufhebens von sich machen kann, niemand, der bleibt und zurückgekommen sein wird, der sich entfernt, weil niemand in Bewegung bleibt.

Das ist Niemands Bleibe, die einzige, die möglich ist. Eine Bewegung, die nicht allein ist, die nicht die einzige ist, sondern eine von vielen, immer schon eine andere, weitere. Der gehe ich nach und sie folgt mir. Sie geht durch mich hindurch, kreuzt und schneidet mich, hebt mich auf und hält mich in Bewegung, damit ich nicht bleibe, nicht auf den Punkt komme, damit ich da bin für mich und andere, nur dieses für, auf Empfang, streuend und webend, das Muster in Mustern.

Niemandes letztes Wort ist mein Anfang, mein Einsatz. Was die Stimme berührt, kommt zurück, noch einmal, ein anderes Mal, eine andere Stimme, die über mich klagt, mich verweht und die niemandem gehört, und die Ich sagt als ein anderes Ich, das mir begegnet und dessen Form ich mich anpassen werde, anschmiegen, um mich aufheben und forttragen zu lassen in Erinnerungsfrequenzen, in etwas, das wächst.

Ich wende ein und drehe mich im Mund herum. Ich wiederhole, was ich erinnere, was ich gelernt habe, was mich betrifft und sich dreht, auswendig, was ich weiß. Ich stelle nichts fest, im Konjunktiv, in der Form einer Bewegung, die über Verbindliches hinausgeht, wo also ein Anfang gemacht wird, wo sich trifft, was nicht feststeht, wo es anders geht, immer auch anders, durch die Verbindung aller fremden Seiten, die sich in diesen Sätzen treffen und einander nahe sitzen.

Äußerlich unbewegt und doch zerrissen sprechen sie sich an, um sich zu zerreissen und nicht zu gleichen, was kein einfacher Fall, keine Schwerkraft, kein Sturz oder Ziel ist ohne jede Wahrscheinlichkeit, sondern “in der schwebe, der gleichzeit, am nicht-ort, im zwischen-, im freiraum: der bewegung, schwingung, im klang, gesang, im stimmigen, im puls, im impuls, in der unschärfe, der relation” (Barbara Köhler), die ich realisiere, seit Jahren, ohne damit an ein Ende zu kommen, einen Schnitt machen zu können und doch stets aufschneide, was geglättet, falte, was geglättet, breche, was glatt war, was ich nicht bin als das Eine, das nicht meins ist, nicht, wie es gehen könnte, als die Mehrzahl, in die wir kommen, wenn wir sagen schreiben zeigen.

Here I end this reel. Box–(pause)–three, spool–(pause)–five. (Pause). Perhaps my best years are gone. When there was a chance of happiness. But I wouldn’t want them back. Not with the fire in me now. No, I wouldn’t want them back.
Krapp motionless staring before him. The tape runs on in silence.

Samuel Beckett

Die Sprache, die wächst und fällt und dreimal spielt und spult, seit Jahren schon, als wir noch Hoffnung hatten und nicht alles in Stille brannte. Die Sätze, die sich an den Rand drängen, aneinander klingen und rühren und grenzen, dort, an diesen Grenzen, Reibung erzeugen und so zeigen, was sich unterscheidet.

Ähnlichkeiten auftauchen und verschwinden sehen.

Ludwig Wittgenstein

In einem aussichtslosen Kopf schauen die Ideen aus den Augen.

Das Ewiggestrige hat Fensterläden aus Porzellan.

Ich verharre in einer Eidechse, die sich klammer anfühlt als erwartet.

Sätze, die sich nicht gleich sind und die das Ungleiche rahmen, das, was ich ganz und gar nicht sagen, nicht beschreiben, nur gegenstandslos werden lassen kann, die sich nicht treffen, aber entgegenkommen, gewogen, verbunden, zerreissend. Sie gleichen sich, indem sie fallen, in alle Richtungen und gegen den Lauf, ohne Wahrscheinlichkeit, nichts ausschließend. Sie sind da, als wären sie nicht wirklich da, sondern für andere.

Aber ich kann nicht sagen, was stimmt, was sind die Möglichkeiten und Wendungen und Bedeutungen, was die Fehler, das Ende des Spiels, das ich nicht beherrsche, der Ort, den ich nicht erreichen kann, die Schwelle, sich drehend und schillernd, keine, die ich kenne. Also erwidere ich, entgegne, wechsel die Ziele von Satz zu Satz bis zum nächsten Wendepunkt. Damit breche ich die Fläche dieser Sätze, ihre relative Praxis, deren Wahrheit ich als Differenz annehme, ein Geheimnis, das ich verraten muss, etwas, wofür es nur die Möglichkeit gibt, es nicht zu tun.

Ich folge nicht und wende ein und drehe mir die Worte herum, ganz nah, ganz eng, ganz still, so wie es sein könnte.

Ende

Bild mit freundlicher Genehmigung von Leander Schroeder