Unfreiwillige Bewegung
Die ganze Reise ist wie ein Film in meinem Kopf gespeichert, ich erinnere mich an alles.
(A.H.)
Die Erde mitgenommen, die Stimmen in ihr gespeichert, von · Wind Regen Schnee Würmern Käfern · verschoben und vermengt, wer nimmt eine Hand auf in sein Gepäck, welches eng geschnürt kein zusätzliches Gewicht mehr tragen kann. Wie diese Stimmen in das neue Land, wo die Erde angereichert mit ihren eigenen Ungehörten, die aufgelockert aus ihrer Dichte die unbekannte Materialität aufnehmen. Hungrig, da sie der eigenen Geschichte müde, der Wiederholung einzelner Wahrheiten, die sich längst vereinen zu Erzählungen, immer noch fremd in den Geschichtsbüchern. Unser Boden ist sich seiner selbst müde, schließt die Oberfläche vor neuen Worten, die herabsinken, eindringen ohne eingeladen, eine Last mehr, die nie mitnimmt, aber ungefragt gibt, wo sich doch nur ein Ohr in den Staub legen müsste.
Dort bleiben wäre wie langsames Gift nehmen. (A.H.)
Hier bleiben wäre wie langsam aus Ort und Zeit verschwinden.
Diese Erde hat ein fahles Gesicht bekommen, aus dem für die Fliehenden Ort und Zeit verschwunden ist. Seit ich zum ersten Mal aus dem Krieg fliehen musste, verloren Orte ihre geographische Bedeutung. Seit Beginn der Flucht, greifen viele von uns auf Google Maps zurück, um virtuell durch die Straßen zu gehen, die wir einst kannten und die unsere Füße kannten. Wir starren lange auf die Bildschirme, wir fühlen die Geografie unserer Gesichter.
In einer der Anzeigen auf Facebook fand ich einen leeren Platz auf einem Schlauchboot, das die Stadt Izmir auf der türkischen Seite verlassen würde, um Griechenland zu erreichen. „Die Reise ist morgen zu 100% sicher. Wir geben dir sogar eine kostenlose Schwimmweste und Informationen über alle logistischen Details“, hieß es in der Ankündigung des anonymen Accounts des Schleppers. Das Schlauchboot war mit Treibstoff betankt, aber nur um internationale Gewässer zu erreichen. Wir waren mit einem Satellitentelefon sowie der Telefonnummer der griechischen Küstenwache ausgestattet. Wir waren angewiesen, einige Stunden nach dem Auslaufen einen Notruf abzusetzen. Sie haben uns versprochen, dass wir gerettet würden. Man verkaufte uns nutzlose Schwimmwesten zu einem Aufpreis. Unsere einzige Hoffnung bestand darin, dass eine Luftmission uns findet, die zufällig über den Ort oder ein vorbeifahrendes Schiff fliegen. Wenn diese Schiffe identifiziert werden, werden die Koordinaten an die Such- und Rettungsboote gesendet, aber es dauert oft Stunden, bis ein Rettungsboot eintrifft. Bei Schlauchbooten, wie unserem, werden 45 Menschen in ein Boot gepfercht, das normalerweise eine maximale Kapazität von 12 Personen hat. Sie pferchten ältere Menschen und Kinder in die sogenannten „sicheren“ Bereiche des Bootes – in der Mitte des Schlauchboots. Dies sind jedoch die tatsächlich gefährlichsten Bereiche. Denn bei starkem Wellengang sinkt das Boot V-förmig ein. In einem Szenario, das ich zufällig nicht erlebt habe, sind einige der Geflüchteten in der Mitte des Bootes unter Wasser geraten, während die anderen Geflüchteten – aus ihrem Instinkt zu überleben – auf deren Köpfe traten und diese als Stelzen nutzten, um aus der Mitte zu entkommen, während das Boot nach außen brach. Bei meinem Szenario waren die Wellen rau, das Boot schaukelte auf und ab und das Wasser begann, ins Boot zu schwappen. Dann sahen wir das Rettungsboot. Plötzlich erhoben sich viele Leute und fingen an wild zu winken.
Irgendwie sind wir zur Grenze gekommen, dort haben wir die ganze Nacht gewartet, all unsere Sachen waren nass. Irgendwann in der Früh, so gegen 7 Uhr, kam dann eine Mann. „Iran, Afghan, Europe?“ – „Ja.“. Zwei Stunden in einem Kastenwagen, mit dem haben sie uns zu einem Haus gebracht, dort haben wir auf 60 qm mit den anderen gewartet. Alle Männer waren bewaffnet, haben uns bewacht, bis sie ihr Geld bekommen haben. 2 Mio. Toman, das sind € 700 – 800,-. (A.H.)
Hier bleiben wäre wie langsam aus Ort und Zeit verschwinden.
Nicht auf den Meeresgrund gespült, werden wir, sondern hinein in
Neonlicht und Pvc-Böden.
In den kahlen Gang vor unseren Zimmern stellen wir nichts mehr. Lass nichts stehen, nein nicht mal deine Schuhe. Wir haben sie früher hier ausgezogen, und für drinnen hatten wir Hausschuhe. Aber die Eingangstür dort ist immer offen. Einmal kamen welche rein, nachts als alle Flure leer waren und wir geschlafen haben. Sie haben in die Schuhe gepisst. Wir konnten unsere Schuhe nicht mehr tragen. Uns überwachen sie doch bei allem was wir tun. Von der Nacht gibt es keine Aufnahmen der Überwachungskamera. Genau von der Nacht keine. Wir wurden mit Kopfschütteln weggeschickt, die stinkenden Schuhe in unseren Händen. Seit dem nehmen wir unsere Schuhe mit rein.
Füße, die noch lange brauchen werden, um Wurzeln zu schlagen.
Orte, die unter den Schuhsohlen kleben.
Als wir angekommen sind war alles voller Algen und nass. Wir haben unsere Jacken zurückgelassen, es war heiß und wir dachten wir brauchen sie nicht mehr. Am Weg haben wir eine Frau getroffen, allein und mit vier kleinen Kindern. Zwei davon konnten bereits nicht mehr gehen, also haben wir sie auf den Schultern getragen. Die Frau selbst hat das jüngste Kind getragen, ein Baby noch, das älteste musste laufen. (A.H.)
Zwischen die Gleise gefallen,
ist vieles. Zwischen den Stühlen werden wir warten.
Er steht im Gang und sieht hoch zu den blauen Sitzen. Die Menschen bemerken es oft gar nicht, sind versunken in ihren Displays. Einige Wenige reagieren , finden ihn süß, aber wir haben jetzt keine Zeit für das Spiel. Ich ziehe ihn weiter, schon wieder klebt seine Hand, ich habe keine Feuchttücher mehr. Wir dürfen den Ausstieg nicht verpassen. Die Zugdurchsagen klingen alle so ähnlich, aber zum Glück zeigt die Tafel auch an, wo der Zug als nächstes hält. Da ist unser Gepäck. Als wäre auch mein Sohn ein Gegenstand stecke ich ihn in den Kinderwagen. Ich rechne damit, dass er jammert aber er beobachtet nur weiterhin. Ich glaube er ist über alles verwirrt. Die stabile Tüte hänge ich über den Griff. Im Schwarzen Schaumstoff haben sich an der immer gleichen Stelle meine Hände verewigt. Die andere Tüte ist zu voll. Ich traue ihr nicht, das Plastik ist ausgedehnt und schneidet in mein Handgelenk. Aber es muss. Ich schiebe ihn mit den Tüten zur Tür, in vier Minuten sollten wir raus. Als die Tür sich öffnet hilft zum Glück eine junge Frau von draußen über den Spalt. Im letzten Moment reißt aber der Plastikhenkel. Es ist sein lila Teddy, der runter neben die Gleise fällt. Ein Fluch rutscht mir von den Lippen. Zum Glück versteht ihn keiner. Und zum Glück hat mein Sohn es nicht gesehen, der Kinderwagen schirmt ihn ab. Da ruft schon meine Cousine an, sie wartet hier wahrscheinlich irgendwo auf uns. Ich gehe ran und lasse den Teddy nicht aus den Augen, während die anderen Menschen aussteigen. Ich nenne ihr unsere Gleisnummer und erzähle, was passiert ist. Sie sagt nur “Warte. Bleib wo du bist.”
Da eilt sie auf uns zu. Sie ist eine Schönheit, mehr noch, als auf den Fotos. In der Hektik findet meine Erleichterung, sie endlich zu sehen, keinen Platz. Zwei schnelle Küsse für mich, dann begrüßt sie ihn überschwänglich, sagt wie prächtig er ist, dann zeige ich ihr den Teddy. Sie ruft einen der Schaffner zu sich, scheint aber abgewimmelt zu werden. Als sie mir seine Worte übersetzt, sagt sie er ist verrückt. Etwas von “Polizei” und “Gleis sperren lassen”. Ich möchte doch nur den Teddy hochholen. Der Zug fährt ab, jetzt ist Platz. Da legt sich ein jüngerer Angestellter auf den Boden und angelt den Teddy herauf. Er zwinkert als er ihn meiner Cousine überreicht. Wir tauschen einen belustigten Blick und sie lotst mich mit dem Kinderwagen zum Fahrstuhl.
Es war alles dunkel. Wir sind erst um neun Uhr abends gefahren. Meine Mama hat ein langes Kleid angehabt, dunkelblau, in der Hand eine Tasse Wasser. Bei uns, wenn jemand verreist, schüttet man dem Auto Wasser nach, damit man klar wie das Wasser ankommt. Das einzige, woran ich mich immer wieder erinnere, ist dieser Moment. Als ich dann wirklich weggefahren bin, das war der Weltuntergang für mich. Die Trennung von der ganzen Familie, meinen Geschwistern und meiner Mutter, es tut immer noch weh. Ich weine manchmal, weil ich meine Mama nicht oft sehe. Ich bin alt genug, uralt. Für das was ich weine bin ich zu alt. Aber ich weine immer wieder. Weil ich weiß, was meine Mama für uns alle gemacht hat und macht. (A.H.)
„Sie haben Ihr Ziel erreicht“ – klingt für mich wie endlose Ebenen. Der Satz fühlt sich so an, als würde man nie, nirgendwo ankommen, als würden die Meere, die sich gerade leeren und hinter dem Horizont verschwinden, nie mit einem Strand enden. Es klingt so, vielleicht weil diese die Sprache des Fluchtwegs war, in der die Stimmen ferner geliebter Menschen mitschwingen, oder weil diese Sprache mit Orten verknüpft ist, die nie wieder so sein werden, wie sie einmal waren, egal was Google Maps an Bilder hochlädt. Und weil es die Sprache von Erinnerungen ist, die mich fast immer überfallen, wenn ich nachts im Bett liege. Google Maps bringt mich aus meinem Bett dorthin zurück, an Orte voll scharfer Ecken und perfekter Geometrie. Mein Gedächtnis hat aber keine scharfen Ecken und keine perfekte Geometrie.
Hier bleiben wäre wie langsam aus Ort und Zeit Verschwinden.
„Sie haben Ihr Ziel nicht erreicht. Die Route wird gespeichert.“
In Serbien haben wir wieder einen Schlepper nehmen müssen, damit sie uns in Ungarn nicht die Fingerabdrücke abnehmen. In der kleinen Stadt, wo wir angekommen sind, waren die Polizisten so lieb. Dort haben wir auch unseren nächsten Schlepper kennengelernt. Bei ihm waren Frauen mit Kindern, Mädchen, die 17, 18, 23, 30 Jahre alt waren, mit Kindern, die mussten mit dem Schlepper schlafen, damit er sie irgendwann rüberlässt. Du siehst, dass er es macht, aber du kannst nichts machen. Du kannst nicht die Polizei rufen und wenn, die Frauen würden es abstreiten. Sie sind auf den Schlepper angewiesen. (A.H.)
Handlauf beim Anwalt aus Holz mit Verzierungen. Als müsste er stolz sein diese Treppe hochlaufen zu können. Er braucht Hilfe. Nicht zu teure Hilfe. Der Plastikteller mit Pasta. Nicht zu teuer auch die. Eine von der Kirche, die Essen ausgab, sagte ihm 15 Cent darf ein Teller sie kosten. Die schimmelnden Orangen am Rand neben dem Maschendrahtzaun. Auch sie als Arbeiter dürfen nicht zu teuer sein, sonst schimmeln die Orangen, werden erst gar nicht gepflückt. Der Anwalt sagt seine Warteliste reicht bis März nächstes Jahr. Die Frau von der Kirche sagt, das Essen ist aus, er hätte eine halbe Stunde schneller sein müssen. Dann auch der Anruf, bis zum Ende der Saison sind es jetzt genug Pflücker. Falls sie wieder jemanden brauchen, wird er angerufen. Aber diese Woche wird es sicher nichts.
A.H. ist Ahmad Hosseini. Ahmad ist 2015 über die · Türkei Griechenland Mazedonien Serbien Ungarn · nach Österreich gekommen. Ahmad lebt und arbeitet in Wien.
Danke an alle Menschen, die durch ihre Geschichten und Vertrauen zu diesem Text beigetragen haben.