Titelbild zu Juri Andruchowytsch Roman "Geheimnis"

Was ist das „Geheimnis“?

Ein schriftliches Gespräch über Juri Andruchowytschs Roman

Drei Wochen lang lesen wir zu zweit das Buch “Geheimnis” von Juri Andruchowytsch und tauschen uns darüber schriftlich aus. Mit einem Stift in der Hand markieren wir Lieblingsstellen und notieren Kritik. Wir unterstreichen worüber wir schreiben wollen und was wir recherchieren müssen. “Geheimnis” erzählt die Lebensgeschichte des ukrainischen Autors Juri Andruchowytsch (geboren 1960) in einem Interview-Format. In der Ukraine wurde das Buch 2007 veröffentlicht und bereits 2008 in deutscher Fassung vom Suhrkamp Verlag herausgegeben. Wir arbeiten mit der ersten Auflage aus dem Jahr 2022. In Andruchowytschs Erzählungen zeigt sich, wie die politischen Umstände in der Ukraine ab den Sechziger Jahren Einfluss auf das Leben eines Individuums nehmen.

Stella hat zu diesem Zeitpunkt ca. 80 Seiten gelesen, Caroline konnte das Buch noch nicht anfangen. Wir tauschen uns darüber in einem Google Docs aus, während wir uns an zwei verschiedenen Orten in Hildesheim befinden.

Teil 1/3, Dienstag, 21. Juni 2022: Radiorauschen

Caroline: Wie wollen wir beginnen?

Stella: Ich stell dir eine Frage…Hast du Erwartungen an das Buch?

C: Ganz klar kann ich meine Erwartungen noch nicht ausdrücken… Ich erhoffe mir, dass die Sprache mich nicht mit Plattitüden stehen lässt, mit großen Worten wie Hunger, Sehnsucht, Tod o.ä.

S: Willst du wissen, wie ich die Sprache bisher empfunden habe? 

C: Erklär mir gerne deine Sicht. 

S: Ok. Also manchmal ist es ziemlich grob und veraltet in der Wortwahl, vielleicht liegt es auch an der Übersetzung. An anderen Stellen ist es dann wieder sehr bildlich und schön. Frei von Plattitüden ist es nicht, Schriftstellerinterview halt. Ich finde es interessant zu lesen, würde es aber an manchen Stellen auch kritisieren. Besonders seine Bezeichnungen für Frauen sind oft… fragwürdig, z.B. “Waggontusse” für Zugbegleiterin auf Seite 24.

C: Gibt es also nur diese beiden Figuren, den Schriftsteller und seinen Interviewer? Erfährt man etwas über den Interviewer, hattest du das Gefühl du könntest ihn auf der Straße wiedererkennen oder bleibt der Standpunkt bei Andruchowytsch?

S: Der Fokus liegt schon auf dem Schriftsteller, der Interviewer ist meist nur die korrigierende oder lenkende Stimme, die aber am Lenken scheitert. Er ermahnt Andruchowytsch immer wieder zum Thema oder zur Frage zurückzukehren. Meistens wehrt Andruchowytsch sich dagegen und sagt: jaja, sie seien doch auf dem Weg dahin. Erkennen könnte ich den Interviewer nicht, aber er nimmt langsam Gestalt an. Was die Figuren angeht, gibt es in den Erzählungen von Andruchowytsch natürlich andere Figuren, seine Eltern, Nachbar:innen,  Schulkamerad:innen, Studienkolleg:innen…

C: Magst du mir eine Stelle heraussuchen, in der dich eine der Figuren begeistern konnte?

S: Ja, ich guck mal, ah, hier, auf Seite 52: 

Er [sein Vater] sang immer so einen schnulzigen Tango, auf Hindi, denn das Lied stammte aus einem indischen Film. Es hatte eine verrückte erste Zeile, mein Vater hörte darin so was wie morgen dann, im Pissoir. Seitdem hieß die Platte so: Wie wär’s, wollen wir mal wieder morgen dann, im Pissoir hören?

S: Ich liebe es, dass sie in ihrer Familie zusammen Musik hören und der Vater “schnulzigen indischen Tango” singt. Klingt für mich ziemlich lebensfroh und frei irgendwie. Auch, dass man eine Art Familien-Insider, wie eben so eine falsch gehörte Liedzeile, hat, finde ich toll. In meiner Familie waren wir mal alle ziemlich vernarrt in so ein türkisches Lied, in dem eine Zeile klang wie: “Keks, alter Keks, ist der mit Ohrsand?”

C: Schöner Auszug. Bemerkenswert wie eine Sprache, die nicht verstanden wird kurzerhand umgedeutet wurde in etwas, das einem bekannt vorkommt. Eine Neuschreibung oder ein liebevolles Überstülpen einer Bedeutung auf einen ansonsten von Melodie erfüllten aber bedeutungslos gebliebenen Raum.

S: Finde ich auch!

C: Vielleicht ist bedeutungslos auch das falsche Wort in diesem Kontext. Auch wenn die Sprache unverständlich ist, wird ja nicht nichts vermittelt.

S: Unverständlich ist vermutlich wirklich das bessere Wort. Ich habe auch noch eine andere Szene zu dem Thema, nur eine Seite später, auf Seite 53. Da schreibt er über Radiosendungen, die er gerne gehört hat. Vor allem eine fand er toll, von einem rumänischen Sender. Er nennt den Moderator einen “unheimlich sympathischen Typen” und sagt, dass er “total witzig und cool” sei. Dabei gibt er auch zu, dass er gar nicht versteht, was der Moderator eigentlich sagt, weil der Rumänisch spricht und er nicht. Kennst du so etwas von dir? 

C: Ja, ich kenne das von Reisen im Ausland. Wenn ich die Sprache nicht beherrsche, bin ich meist sehr verwirrt. Dennoch braucht es nicht viel über andere Personen zu wissen, um diese wertschätzen zu können. Ich glaube, dass mir  so etwas ständig beim Lesen passiert. Ich denke eine Figur ist so nahbar und glaubwürdig beschrieben und bin jedesmal überrascht, dass man mich mit nur wenigen Worten von einer Wahrheit überzeugen kann. 

S: Meinst du, dass Stimmklang und -farbe, Betonung und Co. ausreichen, um einem Charakter kennenzulernen, ohne den Inhalt des Gesprochenen zu verstehen? Ich hab da irgendwie Fragen. Ich höre im Ausland auch manchmal gerne fremdsprachiges Radio. Nachrichten und Werbung klingen einfach immer ähnlich.

C: Ich glaube, dass selbst die eingehendste Beschreibung eines Charakters nicht ausreicht, weil Worte schlichtweg nicht ausreichen. Dennoch kommen sie dem verdammt nahe. Ich mag kleine Zwischentöne. Wenn ein:e Autor:in diese einfängt, ist das eine beeindruckende Leistung. 

S: Ich finde es auch interessant, wie er die Welt als Jugendlicher wahrnimmt und wie wichtig Mehrsprachigkeit von Anfang an ist. Wir sind hier ja noch in der Sowjetunion mit ihm, da spielt die Vielfalt an Sprachen eine große Rolle. Er sucht sich seine Vorbilder im Radio und bezeichnet den Moderator als seinen “besten Freund”. Besonders eben auch, weil er so coole Musik auflegt. Die Musik sei für ihn wie eine Parallelwelt gewesen.

C: Das Radio, eine wundervolle Erfindung. Eine Welt ohne grelle Bilder, in der Raum für Imagination geschaffen wird. Ich glaube nicht, dass es Zufall ist, dass er genau dieses Medium so sehr mochte, als er als Jugendlicher ausreißen wollte. 

S: Fernseher waren ja auch noch sehr rar… Er beschreibt, wie sein Vater zu den Nachbarn gegangen sei, um die Fußball-Weltmeisterschaft zu gucken. Aber ja, das Radio ist immer noch toll. Ich höre gerne WDR2 zum Kochen oder Abwaschen, weil ich damit aufgewachsen bin. Oder BBC World Service, weil ich gerne Englisch höre und es viele tolle Geschichten gibt, besonders bei “Outlook”. Das ist eine Sendung, in der Menschen aus aller Welt ihre persönlichen Lebensgeschichten erzählen. Welche Radiosender hörst du?

C: Am liebsten Radio 100,7, ein luxemburgischer Sender und Klassikradio. 

S: Ah, Klassik! Andruchowytsch erwähnt auch ein Radio Luxemburg… Moment, ich guck nochmal nach der Stelle…

Auf Mittelwelle kriegte ich die Rumänen rein und englischsprachige Sendungen von “Radio Luxembourg”, aber es war kaum was zu hören, und die Frequenz flutschte immer wieder weg.

Flutschte! Was für ein Wort!

Bild mit freundlicher Genehmigung von Stella Essmann | Pfeil und Bogen