1992, Sarajevo. Mit dem Einschlagen einer Bombe in der Nähe ihrer Plattenbausiedlung und Suffragette City von David Bowie beginnt für den elfjährigen Tijan, der Bosnienkrieg. Aufgehört hat er für ihn nie.
Radio Sarajevo, erschienen 2023, ist Tijan Silas vierter Roman und spielt zwischen Kriegsbeginn 1992 und der Flucht der Familie Sila nach Deutschland 1994.
Im Mittelpunkt der autobiografischen Erzählung steht der elfjährige Tijan, der mit seiner Familie, seinen Freund:innen und Nachbar:innen den Krieg in Sarajevo erlebt und lernt, mit ihm aufwachsen zu müssen. Es geht um Alltagsprobleme, das Aufwachsen im Krieg und um die Verrohung der Menschen.
Das kommt in Radio Sarajevo auch stark zum Ausdruck. Im Fokus stehen nicht historische Kriegshandlungen oder die Migrationsgeschichte der Familie, vielmehr stellt Sila die Frage, wie ein Krieg Menschen und auch Kinder verändert und mit welchen Problemen die Bewohner:innen eines Hochhauskomplexes zu Kriegszeiten zu kämpfen haben. Mit bedrückender Ehrlichkeit und Härte erzählt Sila von Kindern, die den Müll nach Kleber zum Schnüffeln durchsuchen, davon, wie sie mit Soldaten gefundene Pornomagazine gegen Süßigkeiten tauschen und von Mädchen, die den Soldaten zur Prostitution angeboten werden.
Zudem hinterfragt und reflektiert Tijan Sila in Radio Sarajevo die eigene Vergangenheit, Geschichten der Eltern und Entscheidungen, die von ihnen getroffen wurden. Warum wollten seine Eltern unbedingt nach Deutschland auswandern, wenn es für ihre Karrierechancen logischer gewesen wäre, für eine kurze Zeit nach Kroatien zu flüchten und dann nach Sarajevo zurückzukehren?
Neben dem Hinterfragen der Vergangenheit spielt für ihn Musik eine wichtige Rolle. Sie ist ein Thema, welches sich wie ein roter Faden durch die Kriegsgeschehnisse und sein Leben zieht. Ob es als Kleinkind sein erstes Wort ist, der Tod von Kurt Cobain oder ein rotes Radio, Musik begleitet ihn immer und wird für ihn eine wichtige Stütze.
Sein Roman zeichnet sich durch den schonungslosen, direkten Schreibstil aus, mit welchem er seine Vergangenheit wieder aufleben und die lesende Person an ihr teilhaben lässt. Hierbei werden die prekären Lebensumstände, Verletzungen, Tod und einzelne Lebensschicksale hervorgehoben.
So wird auch immer wieder, wie bei seiner Mutter, die später unter dissoziativen Episoden leidet, vom Autor eine Vorschau auf die emotionalen Folgen des Kriegs gegeben:
„Wieso konnte ich meinen Vater nicht dazu überreden, einige seiner Müllsäcke, die sich überall in der Wohnung bis unter die Decke stapelten, zur Deponie zu fahren? Wieso gelang es mir nicht, meine Mutter davon zu überzeugen, dass sie meine verstorbene Patentante unmöglich auf der Heidelberger Hauptstraße gesehen haben konnte? (…) Meine Eltern hatten den Krieg zwar überlebt, und doch vernichtete er sie am Ende.“
Und auch die emotionalen Folgen, die der Krieg auf den Autor selbst hat, erzählt er ehrlich und thematisiert zum Beispiel, dass er zwischen 1992 und 2007 keine einzige Träne vergossen hat. Dazu schreibt er:
„Ich verbot sie mir selbst nach dem Tod eines geliebten Menschen, etwa, als ein Freund verunglückte oder Oma Nadežda starb.“
Hinzu kommt eine Verflechtung aus sachlichen Informationen, die in die erzählten Erlebnisse eingespeist werden und der ironische, humorvolle Unterton, der die sonst bedrückende Stimmung des Romans auflockert. Mit diesem Ton macht Sila auch darauf aufmerksam, wie absurd sich manche Dinge im Krieg entwickeln – zum Beispiel der Preis für Zucker, der im ersten Kriegsjahr bei 300 DM lag – und vermittelt ein Gefühl dafür, was es bedeutet im Krieg zu leben.
Diese schonungslosen Wahrheiten, die Sila in seinem Roman wiedergibt, sind bedrückend und gehen sehr nah. Auch durch seine Direktheit schafft er es einen sehr am Geschehen teilhaben zulassen, sodass es schwer fällt das Buch wieder aus der Hand zu legen. Neben dem Schreibstil gefällt mir außerdem, dass der Roman aus der Perspektive eines Kindes erzählt wird, wodurch der Roman zu einer sehr persönlichen Erzählung wird, die stellvertretend für eine ganze Generation steht, die im Krieg aufwachsen musste, und nicht die Nacherzählung historischer Kriegsereignisse ist.
Sila beendet sie mit einem berührenden Nachwort:
„In Bosnien wird die Generation meiner Eltern die ‘entwurzelte’ oder die ‘ausgerissene’ genannt. Meine Generation aber hat keinen Spitznamen, wir sind die Vergessenen. Ich schrieb dieses Buch auch, um dem Vergessen etwas entgegenzusetzen.”
Hanser Berlin, 2023, 176 Seiten, Hardcover
Tijan Sila
Tijan Sila, geboren 1981 in Sarajevo, kam 1994 als Kriegsflüchtling nach Deutschland. Er studierte Germanistik und Anglistik in Heidelberg. 2017 erschien sein erster Roman Tierchen Unlimited, 2018 folgte Die Fahne der Wünsche, 2021 Krach. Zuletzt erschien sein autobiographisches Buch Radio Sarajevo (2023) bei Hanser Berlin. Darüber hinaus veröffentlichte er Essays in der ZEIT, der TAZ und dem FREITAG. Tijan Sila lebt in Kaiserslautern.