© Kristian Egelund

Bye-bye, Bullerbü

Nature Writing: Erzählte Natur in der Gegenwart

Ruft man Nature Writing in den Wald, kommt in den meisten Fällen Thoreau dabei heraus. Der Gründervater des grünen Genres hat 1854 mit »Walden oder Leben in den Wäldern« aufgezeigt, wie Weltflucht richtig geht. Auf seiner Zen-Reise in die Natur Massachusetts begleiten wir ihn beim Beerenlesen, beim Bohnenhacken, beim Meditieren und Romantisieren und kommen schließlich zu dem Schluss: Thoreau hat in den 165 Jahren seines hochgelobten Aussteigerlebens einen ziemlich langen Bart bekommen. Was unter den alternativen Sinnsuchern damals eingeschlagen haben mag wie die Faust Gottes, löst bei den heutigen Leser*innen vielleicht noch ein kleines Lächeln aus. So war das damals eben, als der Thoreau vor seiner Hütte saß, denkt man und ertappt sich sofort bei der Frage nach dem Ist-Zustand. An dieser Stelle sei gesagt: Weiterdenken. Wir müssen darüber sprechen, wie Natur heute erzählt werden kann und warum klare Kategorien so wichtig sind.

Für eine erste Bestandsaufnahme werfen wir einen Blick in die Buchhandlungen und stellen fest: Natur hat Konjunktur. Der Drang, die Umwelt zu erfahren und sie in Zeiten des Weltenwandels auf Papier zu bannen, scheint ungebrochen – Autor*innen, wie Robert Macfarlane und Helen Macdonald sitzen mit ihrer Natur-Prosa in den höchsten Ästen der Bestsellerlisten. Fragt man im Handel dagegen explizit nach Nature Writing, wird man wahlweise in die Roman-, Sachbuch- oder Selbsthilfe-Ecke gelotst. Und genau hier liegt das Problem: Kaum jemand scheint das aufstrebende Feld als eigenes Genre wahrzunehmen. Selbst deklarierte Nature Writing-Verlage wie Matthes & Seitz taten sich lange Zeit schwer mit einer Kategorisierung. Denn: Natur ist beim Schreiben ja immer irgendwie dabei, wenn auch nicht überall so fulminant wie bei Proust oder Stifter. Eine Handvoll Gänseblümchen machen allerdings noch keinen Nature Writer. Wo also die Grenze ziehen? Die Geister scheiden sich bereits bei der Bezeichnung.

Die stiefmütterliche Behandlung der Form in der deutschsprachigen Literatur wurde zunächst auf die verunglückte Übertragung des Begriffs aus dem Englischen geschoben. Man brauche ein Pendant, fordern die Verfechter deutscher Sprache und führen Bezeichnungen ins Feld, die klingen, als habe man sie bei Humboldt ausgegraben. »Naturkunden« heißt die Reihe jetzt, die bei Matthes & Seitz unter der Schirmherrschaft von Judith Schalansky erscheint – und ist mit diesem Namen doch noch einigermaßen glimpflich davongekommen. Natürlich könnte man es auch einfach beim Englischen belassen. Denn vor dem Hintergrund, dass Nature Writing im angelsächsischen Sprachraum seinen Ursprung hat und dort inzwischen Mainstream-Status genießt, bleibt zu bezweifeln, ob die Suche nach einer deutschen Entsprechung wirklich derart wichtig ist, wie vielerorts zu lesen steht.

Flora, Fauna, Fragezeichen

Hierzulande nimmt das Genre nur langsam Fahrt auf. Befeuern will das Matthes & Seitz und verleiht daher seit 2017 den mit immerhin 10.000 Euro dotierten »Deutschen Preis für Nature Writing«. Ausgezeichnet werden Schriftsteller*innen, die durch herausragende literarische Auseinandersetzung mit der Natur punkten – zuletzt waren das Marion Poschmann, Sabine Scho und Christian Lehnert. Gehen wir davon aus, dass mit »Natur« die Differenz von Subjekt und Umwelt gemeint ist, stellt sich jetzt noch die Frage nach der Form. Verlagskopf Andreas Rötzer will hier keine Abstriche machen und heißt so ziemlich alle Textsorten willkommen; Gedichte, Naturwissenschaft und Autobiografik, so erzählt er in einem Interview, seien beim Nature Writing »ebenso Elemente wie experimentelles Schreiben ein Zugang sein kann«. In jedem Fall sei das Genre sinnlich, berührend und/oder bildend. Diese Zuschreibung enthält jetzt natürlich viel Gutgemeintes, klingt aber trotzdem verdächtig nach grünen Wiesen im Sonnenschein und damit nach genau jener romantischen Nische, aus der das Genre eigentlich heraus will. Das ist schade, denn wie Rötzer selbst formuliert, hat Nature Writing nicht nur Unterhaltungswert, sondern hinsichtlich des Anthropozäns auch eine gesellschaftliche und politische Verantwortung. Schaut man sich dagegen die derzeitigen Kassenschlager der Naturfraktion an – namentlich Winnemuths »Bin im Garten« oder Wohllebens Waldführer –, bleibt zu überlegen, inwieweit dieser Gedanke auch beim Publikum präsent ist. Um Nature Writing greifbarer zu machen, braucht es jetzt vor allem eines: ein entschiedenes Selbstverständnis.

Neue Begriffe für ein aufgeklärtes, gern auch ungeschöntes, Naturschreiben forderte zuletzt auch Rötzer. Und obwohl unklar bleibt, von wem so etwas zu fordern ist, wollen wir an dieser Stelle doch einmal versuchen zu ermitteln, inwiefern sich die neuen Naturschriftsteller*innen begreifen lassen – und wie man sich in seinem eigenen Schreiben dazu positionieren kann.

Im grünen Dschungel der Poetologien

Den Anfang macht Waldorakel Peter Wohlleben, der 2015 den wohl ersten deutschen Nature-Bestseller gelandet haben dürfte. Seitdem der Förster die Welt an seinen Spaziergängen teilhaben lässt, weiß die Leserschaft ziemlich gut Bescheid über das inzwischen nicht mehr ganz so »Geheime Leben der Bäume«. Als Sprachrohr der grünen Freunde sinniert er über barmherzige Buchen, empfindsame Eichen und das Gedächtnis des Waldes – und erntet damit in weiten Kreisen großen Beifall. Über 700.000 Mal hat sich seine Fibel inzwischen verkauft, ist auf den Topseller-Charts sogar an Giulia Enders und ihren Darmgeschichten vorbeimarschiert.

Könnte man Wohlleben an dieser Stelle als bloßen Esoteriker bezeichnen, hätte er keinen Eingang in diesen Essay gefunden. Die Kritik, die gegen ihn vorgebracht wird, kommt aus entgegengesetzter Richtung; denn Wohlleben versteht sich darauf, sich den Mantel der Wissenschaftlichkeit umzuhängen – und steht damit schon mit einem Bein im Nature Writing. Zu Recht weisen Biologen wie Christian Ammer darauf hin, dass Wohlleben immer wieder erwiesene Tatsachen mit wilden Mutmaßungen mischt – zum Beispiel, wenn er Dinge behauptet, die man nicht mal mehr als experimentelles Schreiben durchgehen lassen kann:

Sind Bäume geschwächt, dann erlahmen vielleicht nicht nur die Abwehrkräfte, sondern auch die Gesprächigkeit. Anders ist es kaum zu erklären, dass angreifende Insekten sich gezielt anfällige Exemplare heraussuchen. Es ist denkbar, dass sie dazu den Bäumen zuhören, die aufgeregten chemischen Warnrufe registrieren und stumme Individuen durch einen Biss in Blätter oder Rinde testen. (Wohlleben: 18)

Im Magazin »Wohllebens Welt«, das jetzt im Fahrtwasser des Erfolges bei Gruner+Jahr erscheint, formuliert der Autor seine Natur-Poetologie: Erkläre die Dinge so emotional wie möglich, heißt es da. Und weil das klingt, als habe man es hier mit einem Ratgeber für Boulevardjournalisten zu tun, muss man ernsthaft in Erwägung ziehen, Wohlleben den literarischen Anspruch abzusprechen.

Kitsch, sagt Kehlmann, ist so geschickt und wandlungsfähig wie ein Virus. Und kaum anders ist es zu nennen, wenn Wohlleben den Wald humanisiert, bis auch der letzte Städter verstanden hat, dass Naturschutz mehr ist als das Wahlprogramm der Grünen. Was im Nachwort als »bahnbrechende Entdeckungen in einer anregenden Erzählung« beschrieben wird, ist allenfalls ein netter Ausflug in die Populärbiologie. Einzig Bullerbü ist noch verklärter. Dem gegenüber steht Wohllebens Erfolg: Nicht zuletzt an den Umsatzzahlen ist abzulesen, wie groß das Bedürfnis nach Einklang und Heilung durch die Natur in der Gesellschaft geworden ist. Was Wohlleben schreibt und tut, hat also durchaus seine Berechtigung und guten Gründe. Wertvoll für das Nature Writing ist es aber nicht. Gleiches gilt für Titel, die auf ähnlicher Wellenlänge durch die Natur dümpeln – sei es im Zwiegespräch mit Wölfen, auf dem Jakobsweg oder auf Safari zwischen Lauch und Schnecken. Ihnen allen fehlt die Genauigkeit im Umgang mit dem Gegenstand – auch auf sprachlicher Ebene – ebenso wie die Courage, abseits des vermarktbaren Feelgood-Nature-Moods etwas bewegen zu wollen.

Die sprachliche Genauigkeit muss an dieser Stelle als Kriterium genauer in den Blick genommen werden. So beschreibt beispielsweise auch Robert Macfarlane in »Landmarks«, dass Schreiben über Natur nur mit Präzision geschehen kann. Oberbegriffe seien demnach nicht ausreichend, um die Umgebung adäquat zu beschreiben. So könne man auch nicht einfach bloß von »Heidekraut« sprechen – man müsse sich schon die Mühe machen, es in seiner Struktur und Farbigkeit zu benennen und zwar so lange, bis sich – etwas pathetisch ausgedrückt – die Worte in Bilder verwandeln.

Der moderne Naturschreiber ist also erst dann ein echter Nature Writer, wenn er, den Botanikband fest im Griff, jeden Stock und jeden Stein bis ins letzte Detail beschreiben kann? Ganz so streng ist es vermutlich nicht zu verstehen, denn obwohl Macfarlane ein bekennender Begriffssammler ist, will er doch nur aufzeigen, wie genau man einen Ort beschreiben kann und inwieweit man dadurch mit ihm ins Verhältnis tritt. Denn neben dem persönlichen Interesse am Gegenstand sollte es beim Nature Writing auch darum gehen, der Leserschaft durch die Lektüre einen Mehrwert zu bieten, und sie mit Räumen bekannt zu machen, die sie von sich aus vielleicht gar nicht betreten hätte.

Sprachlich genau nimmt es auch Esther Kinsky. Die Berliner Schriftstellerin hat die eingangs erwähnte Begriffsverwirrung des Genres elegant gelöst: Gelände-Texte nennt sie ihre Arbeit und begibt sich damit auf ein, wie sie sagt, neutrales Terrain. Bezeichnungen wie »Naturroman« oder »Landschaftslyrik« steht sie aufgrund der romantischen Konnotation ablehnend gegenüber. Der Gelände-Begriff, so erläutert sie in einem Interview, lege dagegen weder auf Natur noch auf den urbanen Raum fest – er definiere das Umfeld zunächst nur als die zu erkundende Fläche. Auf besagtes Gelände stoßen wir in beinahe jedem von Kinskys Texten – sei es in ihrer Prosa der »Wolken, die nicht wußten wohin mit sich, denn das struppig-fahle hitzeschrundige Land unter ihnen wollte sie nicht«, aber auch in ihrer Lyrik und den essayistischen Arbeiten. Dabei streift die Schreibende mit Vorliebe durch Grenz- und Randgebiete, mal durch eine verfallene Kinderpsychiatrie in Berlin, mal durch ungarisches Outback oder die Peripherie Italiens. Was an dieser Stelle nicht nur bei Kinsky, sondern auch bei den meisten anderen Texten des Nature Writings auffällt, ist, dass das Schreiben als eine Form der Expedition in Erscheinung tritt. Dahinter leuchtet etwas auf, den man als das Phänomen des weißen Flecks bezeichnen könnte, also der Drang, die vorgefundene terra incognita mit der eigenen Sprachlichkeit zu besetzen. Besonders spiegelt sich das in Kinskys Lyrik wieder, aber auch in ihrer »fast übersinnlich präzisen« Prosa, wie die Jury des Leipziger Buchpreises zuletzt über »Hain« beschied. Esther Kinsky will etwas: Sie will sich dem unbekannten Terrain annähern, ohne den Standpunkt eines Beobachters zu verlieren. Und genau das macht sie zu einer Leuchtturmfigur des deutschen Nature Writings. Was bei Macfarlane bald als Festnageln der Natur in Begrifflichkeiten erscheint, wirkt bei ihr wie eine permanente Suchbewegung, ein Abtasten des neuentdeckten – nicht zuletzt sprachlichen – Geländes.

Wir wollen noch einen Moment bei Kinsky bleiben, jetzt aber auf die bereits von Rötzer angesprochene politische Relevanz des Nature Writings zu sprechen kommen. Obwohl derzeit eine der Größen des deutschen Genres, sieht sich Kinsky nicht als »Stellungsbezieher«. Dennoch, so erklärt sie, seien ihre Bücher durchaus politisch – das aber eher im Sinn der kontemplativen Naturerfahrung. An welcher Stelle der Betrachtung jetzt genau das Politische steht, führt sie allerdings nicht weiter aus; abseits von Naturbeschwörungen scheint sich das Genre in politischen Angelegenheiten generell etwas schwer zu tun. Wie auch, ohne plakativ zu wirken, fragt man sich und denkt sofort an den Inneren Monolog des Eisbären, der auf der letzten Scholle gen Südsee schaukelt.

Auch Sabine Scho, Nature Writing-Preisträgerin 2018, möchte nicht unpolitisch wirken, versteht sie sich doch als »Aufklärerin, die sich auf den Instinkt beruft«. Fragt man Scho, wie man diesen Widerspruch zu verstehen habe, argumentiert sie mit Psychologie und Philosophie: Instinkt sei nicht nur eine animalische Entscheidungskraft, Instinkt sei – und das sage schon Kant – auch etwas zutiefst Menschliches. Leider, und hier sieht Scho den entscheidenden Punkt, werde der Urtrieb allzu häufig zum Stillschweigen verdammt, mehr noch: mit jedem weiteren Update laufe der Digital Human einen Schritt tiefer hinein in die selbstverschuldete Unfreiheit. In ihrem Schreiben versucht Scho daher, gegenzusteuern. Sich wieder bewusst auf Instinkt und Natur einzulassen, das eigene Selbst zu erkennen und sich letztlich anzunehmen, wie man ist – darin liegt für sie die gewissermaßen erschriebene Freiheit. Vielleicht, so sagt sie, brauchen wir diese Vorstellung vom Paradies, in dem jedes Wesen seinen unumstößlichen Platz einnimmt – wenn auch nur als Utopie.

Vielleicht, so könnte man aber auch dagegenhalten, sind Zeit und Markt hierzulande noch nicht bereit für den großen politischen Wurf des Nature Writings. »Reconnecting with nature« funktioniert offenkundig besser als die brennenden Himmel des Anthropozäns. Natürlich können die Moden des Marktes an dieser Stelle nicht die einzige Größe sein, nach der es sich zu richten gilt. Anderseits ist auch nicht abzustreiten, dass es mehr als Utopie und Beschwörung braucht, will man dem Nature Writing politische Schlagkraft verleihen. Angesichts des Bestrebens, das Genre aus der Nische zu heben, bleibt dennoch abzuwägen, wie stark das Miasma der Weltzerstörung durch das Nature Writing wehen sollte, bevor es auch die Leselust mitnimmt.

Nature Writing heute: Was kommt, was bleibt

Was also lässt sich als Fazit festhalten, wie kann Natur heute erzählt werden? Abseits vorchristlicher Henne-Ei-Plaudereien über die Natur als Konstruktion und das Rätsel ihrer allgegenwärtigen Präsenz kann man Folgendes erkennen: Nature Writing erfordert in erster Linie Sorgfalt und es erfordert Präzision – sowohl im Beobachten als auch in der sprachlichen Umsetzung. Findet man einen Zugang über die eigene Sprachlichkeit, der sich fernab esoterischer Innerlichkeiten und abgegriffener Schweizer-Bergsee-Metaphern bewegt, entstehen ernstzunehmende Formen und Formate, die das Genre zukünftig mitgestalten könnten. Um sich jetzt auf den letzten Metern aber nicht doch noch im eigenen Bullerbü zu verlaufen, wollen wir an dieser Stelle noch einmal Thoreau herbeizitieren, der seit den ersten Absätzen vor seiner Hütte wartet. Denn der ist, trotz des langen Barts und allen Einwänden, die man gegen ihn erheben kann, vor allem eines: ein nach wie vor vielgelesener Ökorebell – und damit ein Exempel für einen Stellungsbezieher, der mit seinem Schreiben wirklich etwas bewegen will.

Bild mit freundlicher Genehmigung von Kristian Egelund