Man munkelt. Auf dem Markt. Da haben die kurzen Formen mittlerweile wieder stärker ihre Momente. Wenn es so wäre: Das freut mich von Herzen. Weil ich denke: Das sind Leute aus „meinem Team“. Die haben verstanden, dass kurze Texte Future sind. Es ist nur so: Ohne gezielt danach zu suchen, falle ich in einschlägigen Buchhandlungen wirklich selten, wenn überhaupt, über Formen wie Prosaminiaturen. Und: Es war einmal eine Person des Verlagswesens. Sie sagte mir vor nicht allzu langer Zeit: Kurze Formen haben’s schwer auf dem Markt. Übersetzt: Kurze Literatur verkauft sich nicht gut. Ich ergänze: Deshalb hat sie es schwer. In vielen Dingen des Lebens gilt: kurz und gut. Bei Literatur hört das scheinbar auf.
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Das Leben ist kurz. Aber wie lang ist Literatur?
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Eventuell kennen Sie das: Sie stehen an der Küste. Ihr Blick aufs offene Meer. Weit und breit nichts. Bis eine Horizontale dem ein Ende setzt. Was sie da genießen: eine Lücke. Eine Leerstelle. Ein Narrativ, das die Abwesenheit des Möglichen innerhalb eines Ausschnitts zelebriert. Stellen Sie sich bitte jetzt vor: Sie schauen aufs Meer und ein durchgezogener Vorhang aus dicken Buchstaben vermiest Ihnen die Aussicht. Schlägt Ihnen vor den Kopf. Wie ein Brett. Zwingt Sie, die vorgegebenen Inhalte zu akzeptieren, anstatt selbst welche zu entwerfen. Das Eigentliche, warum Sie eine lange Anreise hinter sich gebracht haben, der freie Blick nämlich, wird erst nebensächlich. Dann unsichtbar.
Die literarische Lücke ist wie der Blick aufs offene Meer. Wer beispielsweise eine Prosaminiatur kauft, erwirbt auch immer literarische Lücken. Für viele ist das einfach nichtbedrucktes Papier. Für Roman Ingarden ist das die „Unbestimmtheitsstelle“[ref]Ingarden: Das literarische Kunstwerk. Tübingen 1972, S. 265.[/ref] sowie die „Leerstelle“ [ref]Ebd., S. 265.[/ref]. Manfred Titzmann hingegen konzentriert sich in seinem Systematisierungsversuch auf die Begriffe „Nullposition“ sowie „informatorische Nullposition“[ref]Vgl., Manfred Titzmann: Strukturale Textanalyse. Theorie und Praxis der Interpretation, München 1977, S. 238[/ref]. Das Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft vereint die Worte Schnitt, Lücke oder Montage im Artikel zur Leerstelle[ref]Vgl. Axel Spree: Leerstelle. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, 3., von Grund auf neu erarb. Aufl., Bd. II H – O, hg. von Jan-Dirk Müller, Berlin/ New York 2017, S. 388.[/ref]. Für mich sind Leerstelle und Prosaminiatur die gegenwartnahste Erzählform, die Autorinnen und Autoren aktuell zur Verfügung steht. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht: Mein Leben ist keine durcherzählte Narration. Es besteht aus Ausschnitten und Pausen. Gleichfalls nehmen wir das Leben unserer Mitmenschen ebenfalls punktuell, in unterschiedlich großen Bildern wahr – und ergänzen den Rest.
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Ich schreibe schon sehr lange Prosaminiaturen. Achtundzwanzig Jahre, um genau zu sein.
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Katharina Bendixen im Vorwort der Zeitschrift „Poet Nr. 14“: „Im besten Falle erzählen Prosaminiaturen etwas, wofür ein Roman, selbst eine Kurzgeschichte zu lang wären, was im Gehalt diesen Formen jedoch nicht nachsteht […].“ Stellen Sie sich bitte in diesem Moment meinerseits Standing Ovation für diese Aussage vor. Oder für die weniger energischen unter Ihnen: zustimmendes Nicken.
Die Miniatur ist eigentlich ein Gespann aus Prosatext und Lücke. Das erleichtert vieles. Denn die beiden leben harmonisch miteinander. Ergänzen sich. Brechen nicht bei jeder Kleinigkeit einen Streit vom Zaun. Miniatur und Lücke, das ist wahre Liebe. In seitenrechnerisch langen Texten kriselt die Beziehung häufig. Es herrscht das Ungleichgewicht; das geschriebene Wort dominiert. Wenn eine literarische Lücke aus einem Roman und eine aus einer Miniatur sich unterhalten, muss erstere heimlich ganz schön schlucken, wenn sie von dem liebevollen Zweierlei der anderen hört. Die Lücke wird im langen Text zurückgedrängt; existiert als Absatz am Seitenende. Dabei sind Miniaturen die adäquate Erzählweise der Gegenwart. Kein Mensch berichtet durchgängig, ohne inhaltliche Pause von seinem Tag, wenn gefragt. Lücken sind gut.
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Was Textstelle und Lücke zusammen können: Die Lesenden partizipieren auf (meta)fiktionaler Ebene, indem sie die Leerstellen gedanklich mit eigenen Inhalten auffüllen. / Jede Miniatur formt sich dadurch individuell weiter und lässt einen intimen Kommunikationskanal zwischen Text und Leserschaft entstehen. / Es entsteht im Nicht-Erzählen ein tatsächlicher kommunikativer Austausch, der bei enger gestrickten Werken nicht entstehen kann. / Durch die gedankliche Füllung der Lücken, sind Miniaturen tausendseitigen Erzählungen im Argument der Länge ebenbürtig. / Miniaturen können mit bildlichen Medien konkurrieren. /
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Was Miniatur und Lücke nicht können: Einen Sauerbraten punktgenau zubereiten.
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Ich will ja gar nicht behaupten: Es gibt weit und breit keine kurzen Formen, keine Prosaminiaturen. Es gibt die, die mit ihrem Programm zur Formenvielfalt des deutschen Literaturmarkts beitragen. Das ist sehr, sehr schön. Was mich wundert: Eine Plattform wie Instagram taugt trotzdem mehr zur Spielwiese literarischer Formen als der Betrieb. Da entscheiden die Schreibenden. Kurz oder lang. Oder beides. Gleichberechtigt miteinander. Gleichberechtigt mit Fotografien, Videos und Sound. Natürlich ist letzteres möglich, da es sich dabei um eine digitale Plattform, nicht um gedruckte Seiten handelt. Doch unabhängig davon, wundere ich mich eben auch: Dass in Anbetracht dessen, welche Erzählkraft in Miniaturen steckt und welche Ausformungen sie annehmen können, der Literaturmarkt so wenig Mut zur Lücke und Kürze zeigt.
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Miniaturen sind die Wunderkerzen der Literatur.
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