Senthuran Varatharajah:
Rot
(Hunger)
»Es gibt zwei Bedeutungen von verzehren.«
Senthuran Varatharajah
Über Senthuran Varatharajahs Texte wird gesagt, dass sie einen dringlichen Ton haben, predigthaft seien und unerbittlich. Wir versuchen dennoch einzusteigen, mehr zu wollen. Wir lesen einen Text ohne Silbentrennung, was zunächst ungewohnt ist, weil die Wörter am Ende der Zeile schlicht zerrissen werden. Sind gezwungen, mit einem Auge immer wieder zurückzublicken, zurückzuspringen, den Zeilenumbruch ins Lesen miteinzubeziehen. Immer wieder finden wir dieses Auseinandernehmen und Zusammensetzen. Worte wie ›Raum‹ und ›Körper‹ werden im Wiederlesen und Schreiben zu einem Echo.
»Das Buch geht mir unter die Haut.«
Guido Graf
Antonia Kammerer
Der Kannibale
Was mich beschäftigt, ist der Kannibale. Und wieso das Absonderliche so spannend ist.
Das, womit wir uns identifizieren können, ist spannend. Und das, was uns ganz und gar fernliegt, ist auch spannend.
Ich war müde, etwas in meinem Oberkörper wollte sich zusammenziehen, sich einkuscheln. Ich spürte die Gänsehaut auf meinen Armen, diese leichten, spitzen Wölbungen.
Er wollte zubeißen. In die Haut, in das Fleisch beißen und es abziehen. Es hat nicht geklappt. Er hat nun mal nicht das Gebiss eines Raubtieres.
Finde ich es spannend? Auf Wikipedia kann man nachlesen, wer sich künstlerisch mit dem Kannibalen auseinandersetzte. Rammstein im Song ›mein Teil‹, Wittek in seinem Comic ›Hunger‹,
Senthuran Varatharajah in seinem Buch ›Rot‹ und sehr, sehr viele mehr.
Körperlichkeit war mir nah und fremd zugleich. Ich glaube, ich suchte sie immer wieder. Ich stand auf, bewegte mich und spürte. Oder ich nahm ihn in den Arm und spürte uns. Oder ich fror, war müde und wollte Wärme spüren.
Er suchte nach Körperlichkeit. Er spürte etwas dabei, aber wir wissen nicht was. Er spürte etwas in sich und er spürte ihn. Der Psychiater sagt, dass er eine Bindungsstörung hatte (steht auch auf Wikipedia).
Welche Verbindung genau fehlt bei einer Bindungsstörung? Der Gerichtsmediziner des Falles des Kannibalen hat sich auch »künstlerisch« mit dem Kannibalen auseinandergesetzt. Er hat ein Buch geschrieben.
Je länger ich hier schreibe, desto weniger interessiert mich der Kannibale. Vielleicht war die Spannung nur von kurzer Dauer. Vielleicht habe ich eine Art Abwehr, über den Kannibalen zu schreiben. Vielleicht bin ich müde und mir ist kalt.
Maja Hohenberg
i
ch
h
habe mir heute die haare gewaschen
sie sind somit rein
i
ch
b
räuchte
mal zeit über alles nachzudenken
alles nach zu recherchieren
also zu lesen
aber
h
damit kann ich mich auch noch nach dir auseinandersetzen wenn
deine hülle keiner pflege mehr bedürftig ist
unsere zeit bleibt eingerahmt
ohne makel
unvergoren
es gibt kein:
wenn du mich lieber hast als ich dich, dann zerbreche ich, wenn ich dich lieber habe als mich, dann zerbreche ich, wenn du dich lieber hast als mich, dann zerbreche ich, wenn ich dich lieber habe als du mich, dann zerbreche ich, das gibt es jetzt nicht.
du gehst, das wissen wir beide,
und damit machen wir einen punkt.
.
alltagslos
zusammen geschrieben,
anfang gut, ende gut.
dann gehe ich wieder an die arbeit und wasche mein haar denke an dich und
unsere zeit bleibt eingerahmt
Maite Herborn
Es war
Ich kenne das einzelne Haar,
nicht schwarz.
Ich erinnere mich an deine Angst, an meine, die nicht die gleiche war. Brüchig oder schon gebrochen? Vor mir grüner Kunststoff, Kunstharz. Der Raum besticht mit Fremde. Ekel und Angst und Bereicherung pur. Der Fuß erreicht die Wand, die Wände, halten uns die Hand, die Hände – von dir – ein letztes Mal?
Die bunten Socken kleben an meiner Haut, die Rillen in meinem Fleisch, ein Mistelzweig. Du hältst deine Zigarette falsch. Ja, du hast mir mal die Welt geöffnet und ich trat mit Freuden ein. Sie haben uns mit Sekt begossen, gesagt, das wird für immer sein, es war nicht so. Es ist die Einfalt, die mich zögern ließ, aus der Bahn gedrängt, geworfen. Ein Kind, so klein wie Frida, liest, spricht tiefer als der Rest. Die großen Körper schreien, weinen, ohne zu begreifen – begleiten lässt sich nur die Wut, die Flut ist stärker als – das Ebben der Gefühle. Ergreifen mich so sehr wie früher, deine Reden stumm wie nie. Magst du hier sein, dort mit mir? Ich würde mich dir übergeben. Hingeben, aufgeben, auch. Nur geben nicht, das lass ich mir, mein Geben ist nicht öffentlich. Sie schreiben Bücher, widerlegen, diskutieren, wir dagegen, schreiben, um nicht aufzugehen. Dein Rücken leuchtet klar im Schmerz, die Krümmung kehrt nun wieder. Der Rauch steigt auf so morgendlich. Der Morgen graut in kahlem Licht. Ich kann mich nicht erheben. Es liegt da neben mir, es ist am Leben, es ist dein Haar und sonst ist nichts.
Show more +Tanja Finke
Das zwischen uns. Kein Abstand.
Zu viel Abstand. Zu nah, zu fern. Unheimlich und unfassbar.
Die Angst, mich zu verlieren.
Die Angst, dich zu verlieren.
Was ist der richtige Abstand? Wenn man noch atmen kann? Wenn beide atmen können? Keiner dem anderen die Luft wegnimmt? Wie viel Luft braucht ein Mensch? Wie viel Luft brauchst du? Wie viel Luft brauche ich?
Ich kann dich nicht lesen, zwischen den Zeilen. Weil du keine Lücken lässt. Dein Wort drängt sich mir auf, geht mir nah, geht mich an, kein Zurückweichen möglich. Du aber fühlst dich unverstanden, gehst zurück. Manchmal sehe ich erst etwas mit zunehmendem Abstand, mit mehr Luft. Dann habe ich wieder Angst, dich zu verlieren. Woher kommt die Angst? Wer pflanzt sie in uns? Was macht Angst? Können heimliche Wünsche Angst machen? Angst bei dir, Angst bei mir?
Gegenmittel der Angst: Vertrauen. Was ist Vertrauen, wie entsteht es? Wo? Und wo bricht es? Bricht es auf, bricht es zusammen? Wann? In einer zu engen Umarmung, in einem Schlag auf die Haut? Oder löst es sich auf? In der Luft, die wir zwischen uns lassen. Was lassen wir zwischen uns und was nicht?
Am Anfang tauschten wir Uhren. Deine Zeit an meinem Arm, meine an deinem. Deine Uhr aus Metall, noch warm, ein bisschen feucht vom Schweiß. Ein paar unsichtbare Hautzellen. Unter dem Mikroskop hätte ich sie gesehen. Deine Haut an meiner, der Blick auf mein Handgelenk, wie mein Blick auf deines vor dem Tausch. Dein Arm ist meiner.
Show more +Meret Stühmer
Brechen
Reißen, zerbrechen, Distanz
Gebrechlich oder schon gebrochen
Nähe als Werkzeug des Zerbrechens. Als würde man mit einer winzigen Nadel nach einem haarfeinen Riss suchen, durch den man eindringen und sich dann, wie ein Parasit in den Organismus, hineinfressen kann. Dann spaltet man sich auf und setzt sich überall hinein und spaltet wiederum das, was man vorfindet. Das klingt nicht gesund. Worte sind eine Spitzhacke, mit der man links und rechts auf ein Gefühl, ein Körperteil oder einen Grundsatz schlägt. Schreiben als das Einritzen von Haut. Wenn ich auf Haut schreibe, bin ich dann nur repräsentativ? Wenn ich nicht einritze, eindringe und spalte, habe ich dann keinen Tiefgang?
Wenn ich dich brechen kann, dann wahre ich keine Distanz. Der Bruch kommt aus der Nähe.
Wenn ich auf Haut schreibe, dann können die Worte langsam wirken und du kannst immer noch entscheiden, ob du sie mit dir tragen möchtest oder abwaschen und neue finden. Warum geht es eigentlich immer um Permanenz? Wieso will jeder von Dauer sein? Auch über seinen eigenen Tod hinaus, in Köpfen sein, an die man selbst nicht einen Gedanken riskiert hat, erst weil man nicht will und später, weil man nicht mehr kann. Nur weil du deine Worte in jemanden hineingeschnitten hast, der sie jetzt als Narbenkleid trägt, bist du später nicht weniger egal. Vielleicht bist du dann auch etwas Schlimmeres als egal. Lieber vergessen werden, weil man flüchtig ist, als vergessen werden zu wollen. Na ja, vielleicht stimmt das auch nicht in jedem Fall, aber doch zumindest im Einzelfall. Irgendwer hat mal gesagt, dass es schon ein gutes Ziel ist, die Welt wenigstens nicht schlechter zu machen.
Show more +Alba Okoye
Nachts ist es kälter als im Dunkeln, aber das wusstest du ja schon.
Ich laufe über Rot, obwohl ihr mir ständig sagt, wie gefährlich das ist, und ich gehe freiwillig zum Zahnarzt, weil der Schmerz da ein anderer ist als der, wenn ich nichts mehr weiß. Ich prüfe, ob die Herdplatte heiß ist, wenn sie schon knallrot leuchtet, weil mir dann endlich warm wird. Und wenn das Geländer mit Eis bedeckt ist, halte ich es so lange fest, wie ich kann und länger, damit mir endlich mal kalt wird.
Ständig fragt ihr, wo es schmerzt. Überall, wenn sie bei mir ist.
Wenn sie kommt, fällt mir die Haarlänge auf, die zeigt, wie lange ich sie nicht gesehen habe und wie lange ich nicht fühlte. Wenn ich sie höre, höre ich immer erst die neuen Worte in ihrem Wortschatz, denn die hat sie sich angeeignet, als ich nicht fühlte. Ich erinnere mich, als sie im Sommer in den Pool gesprungen ist und mich Tropfen trafen, die habe ich stärker gespürt als alles andere, das nach Schmerzmitteln verlangte.
Einmal hat sie mir erzählt, was sie auf ihren Reisen so erlebt, die Vibration ihrer Stimme war um Welten stärker als das Erdbeben 2016. Und wenn ich ihr beim Packen helfe, sind ihre Klamotten schwer wie Blei, sodass meine Arme sie kaum stemmen können. Wenn ich sie zum nächsten Flughafen fahre, lässt sich das Lenkrad unendlich schwer drehen. Und wenn ich eine der Postkarten im Briefkasten sehe, vergesse ich, wie man liest.
Angelina Klempert
Ohne Anfang
Ich schaue mich an – Ich schaue zurück – Ich kann mich benennen
Durch die Tür. Du regnest in die Wohnung, es tropft von deinem Schal, von deinem Finger, deinem Mund. Ich nehme ihn dir ab. Wir haben keine Kleiderhaken. Da, wo einmal Kleiderhaken hingen, schluchzt die ausgerissene Wand. Manchmal verrätst du mir, was du nie tun wirst. Manchmal verschlucke ich, was nie mehr sein wird.
Wir zerreiben uns zwischen blauen Knien. Wir sind Teil des Staubes. Wir lagern uns ab. Ich frage mich, wie viel es von dir zu finden gibt.
Ich schaue mich an – Ich scheue zurück –
Deine Nägel balancieren auf meiner Hüfte. Wenn sie jetzt brächen, was würdest du von mir denken?
Sie brechen ohne mich. Während du Verbranntes von der Herdplatte kratzt, legt sich schwarze Tinte unter meiner Haut schlafen.
Wir vertreiben uns das Leben, Tage ohne Anfang.
Wir wären gerne Teil von gar nichts. Aber wir sind überall.
Show more +Lio Diona
Häute Morgen
hand feste
nimm mich
wörtlich
ich verzehre mich
nach Ihnen, bitte!
Textkörper zerlegt
wir schreiben
um uns selbst
zu widerlegen
wieder hinlegen
wir lesen
um uns dämlich vorzukommen
dämlich zuvorkommend
»Nach Ihnen, bitte!«
verzehre ich mich
und häute Morgen
die Metaphorik
zerlegter (Text) Körper
zerlegt er Textkörper?
Zeilen
Bruch
ohne (Ver) Bindestrich
verblinde ich
desorientiere mich
im Körper als Raum
wo enden Zeilen
die nirgendwo verschwinden?
treten wir
-aufeinander hin
-auf?
Körper auf T
raum
K I
Körper i
m Raum
schiffe und silberne Fische
und silben die Fi sche
und fischen die Silben
die nirgendwo versch
wind
en
H(a)ut ab!
Ab (häute)
stand
z(w)ischen
wir uns
Limo und Ro
sinen rein
es blut
buche
einen flug
verzehre mich
nach dir
ver(z)(i)e(h)re mich
mit mir
stimmt (!)
etwa
s
ilben
ilber
ich
er
nicht
Dennis Brock
Und dann sage ich, ich muss alles vergessen. Alles?, fragt sie. Ja, alles. Auch das mit uns? Ja, selbst das. Selbst die guten Sachen? Ja. Wieso? Weil die Guten nur gut waren, weil es auch die Schlechten gab.
Danach: knab ber te ich an ihr em Ohr läpp chen. Ich sau gte dran. Ich kon su mier te es. Ich in ha lier te es … Ich rauch te es. Ich blu bber te es. Ich schnie fte es. Ich spri tzte es mir in tra ve nös. Ich schlu ckte es. Ich zer hack te es. Mit mein er Kre dit kar te. Mach te da raus ein e Line. O der all ge mein, ich zog es mir rein.
Dann hatte ich es ihr endlich abgekaut.
Davor: wurde ich verurteilt. Der Staatsanwalt, sagte ich, führe einen Krieg gegen Gott und ich wunderte mich, dass sie Gott für so schwach hielten, dass sie ihn verteidigen mussten. Ihr doch so allmächtiger Gott brauchte die Unterstützung von ein paar mickrigen Menschen, so als könne er seine Kriege nicht selber ausfechten, so als wäre er ein Kind, das man bei der Hand nehmen musste, und vor dem Kerl sollte man Angst haben.
Dazwischen fraß ich Jesus. In der Kirche. Scheinbar war es ganz normal. Alle taten das. Schließlich hatte man es ihnen so beigebracht. Jesus war zum Fressen da. Für sonst nichts. Das Rotkäppchen hingegen nicht. Für was das gut sein sollte, wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Die Bauern schon. Zumindest schossen sie vorsichtshalber die Wölfe ab. Wahrscheinlich, weil sie dachten, die Jungfrau verkleidet sich immer als Schaf.
Dabei fraßen Staaten Staaten. Länder Länder. Brüder Brüder. Oh my brother, where are you, bekam da eine ganz andere Bedeutung. Ich verschlang die Weltgeschichte. Oftmals war den Staaten ihre Fresssucht nicht gut bekommen. Sie wurden zu the biggest loser geschickt und mussten ihre Pfründe subtrahieren.
Show more +Nina Andresen
Ich schaue aus dem Burgfenster und denke ans Vergessen. Ich denke an Addie LaRue und Aschenbrödel und frage mich, wer ich lieber wäre. Die reine, weiße Landschaft wärmt meine Seele. Millionen und Abermillionen kleiner Eiskristalle säumen das Gemälde und bieten an, meine Gedanken in sich einzuschließen. Das Angebot ist verlockend und doch eine Falle. Denn beim ersten Tau werden die kleinen Zellen wieder durchlässig. Die Zuflucht des blank space zerspringt. Trotz der betörenden Ruhe und Leere weiß mein Geist, dass bald das Schmelzen beginnt.
Wenn meine Tränen nicht versiegen
und die Wolken entfrieren
prasseln
Eiskristalle
auf
mich
ein
wie
Hagel.
Früher dachte ich, der Schnee hüllt die Welt in seinen Mantel, bringt alles Leid zum Stillstand. Aber eigentlich wirbeln spitze Kristalle durch die Luft, landen auf meiner Hand, meiner Wange, verfangen sich in meinen Wimpern und brennen die Kälte in mein Innerstes. Wenn ein Splitter mein Herz träfe, denke ich, wäre es der gut bewahrte Schlüssel zu meinem Herzen, der meine Seele zum Zerreißen bringt.
Der letzte Tropfen, der die Lawine zum Rollen zwingt.
Keine Atempause mehr im endlosen Weiß. Das Echo hallt vor mir weg. Trägt meine Seele mit sich fort. Schlägt sich in die Flucht, bis der Hall vergeht. Dann ist mein Name vergessen, wer ich bin und was ich war. Ich bin frei und doch gefangen. Aber mein Wunsch ist erfüllt, für den ich die letzte Haselnuss gegeben habe. Ich existiere nicht und doch kann ich nicht verschwinden. Ich bin vergessen. Aber vergessen kann ich nicht. Ein roter Tropfen wird nie wieder fallen.
Show more +Lea Nägle
Grenzen ausloten, was bedeutet schon Verstehen? Wenn ich einen Text doch auch fühlen, nachvollziehen, mitempfinden kann. Wie weit greift der Verstand ein, während wir etwas lesen? Und inwiefern bleibt es einfach sinnliche Wahrnehmung? Ich habe ein Problem mit dem Wort Intuition. Intuitiv glaube ich, dass ich nicht weiß, was mir meine Intuition eigentlich sagen will. Und in diesem Text kommt man mit Intuition allein auch nicht weit. Aber nur mit dem Verstehen-Wollen eben auch nicht. Ich kann mich nicht in die Gedankengänge eines anderen einschrauben, so viel Zeit und Mühe ich auch dafür verwende. Ich kann Ähnlichkeiten finden zwischen mir und diesem anderen, ich kann mich dem anderen anverwandeln und mir Teile des anderen aneignen. Wenn ich lange dabeibleibe, werde ich ein wenig zum anderen, durch mich wird der andere immer mehr zum Selbst.
Was weiß ich schon? Kann ich mir vorstellen, was es heißt, ein anderer zu sein? Anstrengend ist es zu lesen, mein Text, sein Text, unser aller Texte, in ihrem steten Bemühen, ein Verständnis heraufzubeschwören, eine Verbindung zu erzeugen zwischen dir und mir. Die Welt schreibt sich in alles ein, während ich mich durch sie hindurch einatme. Früher, dieses Wort musste ich jetzt einfach benutzen, früher war nichts, wie es sein sollte, vom Heute aus betrachtet. Uneinholbarkeit der Zeit, still sitzend und ganz, frierende Wortlosigkeit, ein Fluss, der sich oberflächlich langsam verfestigt.
Assoziation will sich der Ambivalenz nicht aussetzen. Wer weiß schon, was gemeint ist? Nur selbst meinen kann man. Bedeutung geben, nehmen, alles projiziert auf die weiße Leinwand, Leben, außer mir.
Show more +Greta Sofie Müller
Dinosaurier-Generation
(Begriff von Shyrine N. Breuer)
Die Welt erstrahlt im warmen Licht, laut euch verbotener Liebe. Zu sich selbst. Zu anderen. Es gibt Menschen, um Menschen zu lieben. Ihre Namen zu lernen. Ihr habt einmal gelernt und denkt, ihr seid nun damit fertig. Eure Blicke, eure Worte treffen auf unsere Körper wie Kugeln. An einigen prallen sie ab. An einigen hinterlassen sie Spuren. Wunden. Narben. Manche von uns sterben. Weil ihr meint, mit dem Lernen fertig zu sein. Weil ihr meint, uns belehren, uns retten zu müssen. Oder, weil wirklich geschossen wird.
Wir alle leben unsere subjektive Wahrheit. Trotzdem sind viele in der Lage, in dieser Wahrheit Bezug zur Realität zu erhalten. Ein Bewusstsein zu schaffen, welches sich anderen Wahrheiten öffnet und auch die Wirklichkeit in Augenschein nimmt.
Mut, sich zu zeigen. Das habt ihr nicht. Ihr baut euch einen Thron aus Sicherheit, indem ihr die Unsicherheit anderer sicherzustellen versucht. Ihr habt Angst vor Freiheit. Freiheit ist nicht sicher. Aber Freiheit ist echt. Was echt bedeutet, habt ihr vielleicht nicht gelernt. Und jetzt versucht ihr, uns davon abzuhalten. Dabei könntet auch ihr Freiheit finden. Ich glaube, wenn wir uns Freiheit erlauben, können wir sicher sein. Alle.
Unser Licht leuchtet hell, durchdringend, so voller Wärme, so voller Stolz.
»You’ll have to eat me as I am«, singt Demi Lovato.
Eure Dinosaurier-Generation müsste längst ausgestorben sein.
Show more +Daniela Waßmer
In meinen Träumen ist es immer der gleiche Mann, der nun in unserem Haus wohnt. Schwarze Haare, IT-ler. Von der IT weiß ich, weil ich am Haus war. Unsere alten Nachbarn erzählten es. Er sei IT-ler. Also gut. Wie er aussieht, weiß ich nicht. Aber in meinen Träumen hat er schwarzes Haar.
Meine Träume erinnern sich aneinander.
Ich erkenne ihn darin wieder.
Erinner mich an die Abmachung, die in einem Traum geschlossen wurde, damit meine Familie noch ins Haus darf.
Ich träume, dass er viele unserer Zimmer so belassen hat, wie sie waren.
Ich träume, dass manche unserer Möbel noch dort stehen.
Seit 15 Jahren.
Wenn ich mich im Traum erinnere, dass das von meinem Dad angemalte Regal jetzt an einem anderen Ort steht, erinnere ich, dass es schon immer zwei gegeben haben muss. Hier lügt mein Traum.
Im Traum sind meine anderen Träume wie Erinnerungen, längst geschehen. In meinem Traum erinnere ich andere Träume als Erinnerungen, die ich wach längst vergessen habe. Bis ich aufwache und mich ein Traum an andere Träume erinnert hat und ich einen Moment brauche, um zu wissen, was wirklich Erinnerung an Geschehenes ist, was Traum und was Erinnerung an einen Traum.
Es sind keine guten Träume. Ich erspare Details.
Ich bräuchte sie nicht, wenn wir noch immer dort wohnen würden.
Ich hätte sie vielleicht nicht, wenn ich beim Auszug da gewesen wäre.
Wer hat eigentlich meine Sachen von meinem alten Zimmer in mein neues Zimmer gebracht? In diese Wohnung, in die ich erst Jahre später einziehen sollte. Na gut, von da an vielleicht 2 oder 3.
Was ist aus manchen meiner Sachen geworden?
Die, die es nicht ins neue Zimmer geschafft haben?
Glaubte man, ich wäre nach meiner Entlassung zu alt, würde sie nicht mehr brauchen?
Ich darf Sachen aus meiner Kindheit brauchen.
In meinen Träumen wohnt immer der gleiche Mann in unserem alten Haus.
Sein Leben ist eingefroren, provisorisch,
damit meine Erinnerungen darin noch Platz haben.
Inzwischen lässt er mich in alle Räume.
In die Räume der Wut,
die Räume der Angst.
Heute war ich zum ersten Mal in meinem alten Zimmer, Raum der Trauer. Fotos hängen dort, die nicht da sein dürften.
Lange bleiben kann ich nie.
Denn irgendwann kommt der Mann.
Und zeigt,
dass ich vielleicht doch nicht
so willkommen bin.
Chiara Bovio
Laute und leise Echos, das Widerhallen, Wiederholen meines Namens. Das Echo ist falsch, es kennt meinen Namen doch gar nicht. Weiß doch gar nicht die Bedeutung, die er trägt, das Gefühl, welches mitschwingt, wenn meine Mutter ihn ausruft, mein Vater. Das Einzige, was unsere Körper trennt, ist die Haut. Haut ab, was passiert danach? Verschmelzen wir alle zu einem einzigen fleischigen Klumpen? Oder trocknen wir gänzlich aus, bis die Risse tiefe Furchen in den Körper ziehen, sodass er wieder auseinanderfällt in seine Einzelteile?
Es gibt Finger, um Finger zu brechen. Wie bricht man eine Sprache? Mit Sprache? Wort um Wort. Auge um Auge. Zahn um Zahn. Das schwarze Haar zwischen den Zähnen. Das Haar wird durch den Mund aufgenommen. Es bleibt unverdaut, Haare kann man nicht essen. Deshalb sollte man nicht an den eigenen Haaren herumkauen, sie verknoten sich im Magen und formen sich zu einer Masse, die, früher oder später, entfernt werden muss. Es ist ein Akt der Selbstverspeisung. Ich habe mich zum Fressen gern. Ich habe mal einen Artikel darüber gelesen, vor Jahren, und denke seitdem regelmäßig darüber nach. Aber noch nie so. Warum wollen wir einander am Ohrläppchen knabbern? Was hat es damit auf sich? Ist Lust wie Appetit? Ist es ein so starkes Gefühl des Aufnehmen-Wollens, dass man es nur mit dem ursprünglichsten Akt, der Nahrungsaufnahme, vergleichen kann?
Verschlingen, ineinanderschlingen, in die Haut des anderen kriechen, bis man sich selbst aufgelöst hat und als Eins lebt, unzertrennlich, vollkommene Aufnahme und Abgabe zugleich, also eigentlich Nichts.
Stella Schiwy
Kirschen
Ich verzehre dich. Ich atme deine Worte ein.
Rot. Spuren der Vergangenheit beflecken deine brüchigen Hände. Ich lege sanfte Lippen auf deine Finger. Ich sehe die Dinge, die ich immer sehe. Lackierte Nägel stoßen sich an schwarzen Tasten. Schmale Finger schließen sich um den transparenten Stiel des Blutbades. Es gibt kein Geräusch, nur ein stetiges Klopfen. Muskeln pumpen durch meinen Körper. Du drehst die Zigarette mit zittrigem Lächeln. Dein Duft klammert sich an meine Haare. Hier saßen wir. Deine Finger zupfen an den Saiten meines Herzens. Asche fällt in unsere offenen Münder. Die Glut verbrennt meine Gefühle. Errötete Wangen im Kerzenglanz. Uns trennen Millimeter und ich kann dich nicht spüren. Ich muss auf den Abstand achten. Die Wörter scheinen unter deinem Gewand. Meine Hände durchforsten die Seiten deiner Haut. Zwischen uns die Milchstraße. Die Decke raschelt. Das Fenster öffnet sich. Du lässt die Dunkelheit herein. Ich stehe am Abgrund deiner Augen. Deine rosarote Brille verblendet meine Sicht. Du sagst meinen Namen. So wie mich sonst niemand nennt. Aus deinem Mund bin ich der ganze Kosmos. Grün und violett, wie die Haut an meinen Handgelenken. Du schließt die Arme um mich, lebenslänglich. Ich bin gekettet an deine Zunge. Finger verweben meine Ängste. Deine Ringe fressen meine Haut. Du klebst Schimpfwörter in meinen Bauch. Es welken meine Wunden. Die Rosen durchstechen meine Ellenbeuge. Du verfolgst die Tinte in meinen Gefäßen. Deine Schreie durchzucken mich im Schlaf. Im Morgengrauen beruhigt sich deine Atmung.
Felix Herrmann
»Rack a snitch, chalk and cue you
Corner pocket consume you
Too many hoes in my
Too many hoes in my motherfuckin’ meal
Asking if I know how a motherfucker feels«
Stefan Burnett (No Love)
[Diesen Text bitte nur EXTREM!!! feierlich vorlesen]
Wir beginnen an einem Ort, der noch nie zuvor in der Geschichte der Menschheit in einem Text vorgekommen ist. Man kann ihn sich nur mit einem außerordentlichen Maß an Kreativität vorstellen. Welchen Ort meine ich hier? Kann ich nicht so genau sagen. Wichtig ist nur, dass man sich keinen Ort vorstellt, von dem man schon mal gehört hat. Sonst ähnelt das hier ja zu vielen anderen Texten. Und ich zitiere hier mal Edward G. Bonio , der damals, 1955, über seinen ersten Roman sagte: »Mein Wort ist Unikat.«
Also an diesem Ort jedenfalls, befanden sich zwei Personen. Die eine war die talentierteste Köchin, die das Universum je gesehen hatte. Ihr Name war Abs Tand, doch die meisten Leute nannten sie einfach Abend, denn das war ihr Künstlerinnenname. Bloß ihre Eltern wussten, dass sie mit gebürtigem Namen natürlich Absolutolonius Tandoori geheißen hatte. Aber das ist sowieso nebensächlich.
Viel interessanter ist nämlich die zweite Person: eine grüne, heilige Krabben-Kriegerin. Sie war die letzte ihrer Art, denn all ihre Schwestern hatte man bereits gegessen. Nun saß sie selbst ebenfalls in einem Kochtopf. Abs Tand war kurz davor sie zuzubereiten, da meldete die Krabbe sich endlich zu Wort, denn ihr war wieder eingefallen, wie man die menschliche Sprache sprach.
»Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll. Und ich weiß nicht, was ich überhaupt sagen sollte und auch nicht, ob ich dich mit irgendetwas überzeugen könnte, aber mir wäre es lieber, wenn du mich nicht essen würdest.«
»Keine Sorge. Ich werde dich nur brechen und zu einer leckeren Mahlzeit verarbeiten. Dich essen werde ich nicht. Das macht dann die Person, der du serviert wirst.«
»Na, also das hätte ich halt auch nicht so besonders gerne. Ich möchte am liebsten gar nicht gegessen werden.«
»Hm. Naja, das ist schade. Also ich hätte dich schon gerne zubereitet. Du bist ja eine Rarität und damit auch eine Delikatesse. Die Leute wollen Fleisch essen. Was kann ich ihnen da noch anbieten? Immerhin haben wir doch schon alle anderen Lebewesen verspeist, haben selbst die außerirdischen Wesen allesamt gegrillt und frittiert, haben das Universum in seiner Gänze erkundet, die Neugierde ersticken lassen durch unsere unermessliche Forschung, nur, um all das Fleisch gekostet zu haben, welches uns vom Universum geboten wird. Nun bist nur du noch dran. Dann wirst du im Totenreich sein, bei deinen Göttern, die an einem Ort leben, der uns allen nun schon bekannt ist. So ist es doch, nicht wahr? Wenn du in den Himmel kommst, dann solltest du doch gegessen werden wollen.«
»Na. Vielleicht. Ja, also vielleicht schon, aber ich muss noch nicht jetzt gegessen werden und ich muss sagen: Eine Quelle des Fleisches scheint ihr ja noch nicht ausreichend erforscht zu haben. Wie ist es denn mit dem Menschenfleisch? Wäre das nicht eine Delikatesse? Wäre es für dich nicht viel spannender, einen Menschen zuzubereiten, nachdem du nun schon so viele von meinen Schwestern gebrochen hast?«
»Hm. Ja, das hört sich interessant an. Das ist gar keine so schlechte Idee. Aber es ist schon ein bisschen eklig. Also ich muss sagen, Kannibalismus erinnert mich immer an Low-Quality Chicken Wings. Oder vielleicht andersherum. Deswegen hab ich auch aufgehört, schlechte Chicken Wings zu kaufen. Das kam mir immer zu sehr vor, als würde ich Menschenfleisch essen.«
»Besser schlechte Chicken Wings als gar keine, oder? Und hey – wenn’s um Kannibalismus geht, sage ich nur: Kannibal is muss!«
»Das ergibt keinen Sinn.«
»Ne, irgendwie nicht. Aber es gab einen Ismus, bei dem das klappt.«
»Ist ja auch nebensächlich. Ob ich Menschen kochen werde oder nicht. Dich esse ich auf jeden Fall.«
»Ja. Mehr habe ich noch nicht geschrieben«, sagte Leslie, die Krabbe in dem großen Writers Room, in dem sämtliche Meerestiere sich versammelt hatten.
»Findet ihr, dass da ein starkes Feindbild vom Menschen aufgemacht wird?«
Die Tiere überlegten. Dann sprach ein Walhai schließlich:
»Es gefällt mir alles ganz gut. Allerdings würde ich sagen, dass dieser Dialog noch etwas verändert werden sollte. Die beiden reden irgendwann einfach aneinander vorbei. Also du sagst jetzt, du hast noch nicht mehr geschrieben und ich muss sagen, dass ich auch nicht wüsste, wie ich da weitermachen sollte. Aber sonst ist gut.«
»Weißt du was?«, entgegnete Leslie. »Ich hasse es so sehr, wenn Leute einen Teil meiner Werke kritisieren und dann sagen: ›Aber sonst ist alles gut. Mir gefällt dieser Part nicht, aber sonst ist alles gut.‹ Wie kann denn alles gut sein, wenn ein Teil dir nicht gefällt, du Knecht? Das triggert mich einfach mega, Alter. Entweder ist der Text gut oder nicht. Sag einfach, dass es dir nicht gefällt. Du findest meinen Dialog scheiße und sonst alles gut? Junge, der Text besteht doch fast nur aus Dialog. Was findest du dann noch gut? Mann. Ich kann mit Kritik gut umgehen. Du musst am Ende nicht noch sagen, dass doch alles gut ist, obwohl du offensichtlich nicht alles gut fandest. Hältst du mich eigentlich für dumm, oder was? Ich check’s ja schon. Und an der Stelle muss ich aber auch sagen, dass das mit dem Menschen als gemeinsames Feindbild niemals funktionieren wird, weil wir unter uns noch Quadratspacken wie dich haben. Damit müssen wir zuerst umgehen, bevor wir uns gegen die Menschheit richten. Schreibt ihr doch diesen scheiß Propaganda-Text! Ich schreibe noch nicht mal wirklich gerne. Ich mach das nur, weil ich sonst nichts, und damit meine ich GAR NICHTS gut kann.«
Peter Felix Müllejans
Gestern wollte ich mich wieder zu dir brechen. Stück für Stück zerbröselte ich mich. Ich wollte dir nahe sein, so nahe, dass du mich einatmen kannst. Bis ich deine Lunge fülle, deine Kapillare mich in dich aufnehmen. Ich zerbrach mich in kleine, immer kleinere Teile. In Fraktale meines Selbst. Viel verlor ich dabei. Alles verlor ich dabei, aber um nur einmal deine Lunge zu füllen, wäre mir das genug gewesen. Das Brechen erschien mir manchmal romantisch, absolut notwendig. Meine Fraktale lösten sich auf, gaben mich weg, zerbrachen sich zu dir. Erst in diesem letzten Moment, als es schon kein ich mehr gab, erkannte ich, wie fest deine Haut ist. Wie ich dich nur zum Husten und Würgen brachte. Wie du mich erbrachst. Ich hätte dich schleifen müssen. Mit grobem Schmirgelpapier. Grau wäre es gewesen, aber bald schon, nach angefangener Arbeit, hätte es rot getropft. In der Feuchtigkeit hätte ich dich finden können. Irgendwo zwischen Fleisch und Knochen wären wir uns begegnet. Jetzt bin ich nur noch eine Lache. Es hätte unsere Lache sein sollen. Nur Gase und Flüssigkeiten können etwas Neues werden. Das ist die Trauer des Festen.
Wir sahen uns im Park, weißt du noch, du hattest diese Schuhe an. Die, die du immer extra für den Park angezogen hast. Eines deiner kleinen Rituale. Ich wusste nie, ob ich heute Gläubiger oder Ketzer war, wenn wir uns sahen. Du warst dir da immer so sicher. Ich erzählte dir von meinem Brechen und du musstest lachen. Wahrscheinlich hattest du es damals schon verstanden oder einfach nur mich verstanden, das ist dir viel zu schnell zu einfach gelungen. Aber es dauerte noch, bis ich begriff, dass das, wonach ich suchte, das, was du mir gabst, unser Problem war.
Auf der Bank unter dem Baum erklärtest du mir deine Brüche. Ich konnte die Narben nicht mal sehen. Deine Haut erschien so perfekt damals. Das war an einem anderen Tag oder demselben. Ich kann mich nur noch an die Schuhe erinnern und dein Lachen. Ich habe oft gedacht, dass das Rascheln der Blätter ein Beifall des Baumes war, wenn er dein Lachen hören durfte. Ich habe jedenfalls geraschelt. Heute kennst du bestimmt nicht einmal mehr meinen Namen. Aber ich bin noch hier und du als Narbe an meinem Hals.
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