SRC Emily Dickens
SRC Emily Dickens

Slow Reading Club 11

Emily Dickinson:
I felt a funeral, in my brain

Bei Emily Dickinson (1830–1886) lesen wir eine Beerdigung. Eine Beerdigung wovon? Die Autorin, die immer wieder eine kleine Welt zu einer großen macht, sich am Tod abarbeitet und am Transzendenten, fühlt eine Beerdigung in ihrem Kopf:

»I felt a funeral, in my brain,
And mourners, to and fro,
Kept treading, treading, till it seemed
That sense was breaking through.«

Emily Dickinson

Wir fragen weiter, wehren uns gegen ein zu frühes Wissen: Ist es ein Zurücklassen müssen oder ein Zurücklassen wollen? Ein Sturz in den Wahnsinn? Ein Zusammenbrechen der Bretter der Vernunft? Ein beständiges Hinab oder auch ein Hinauf?

»And then I heard them lift a box,
And creak across my soul
With those same boots of lead,
Then space began to toll.«

Emily Dickinson

Wir nähern uns weiter, indem wir übersetzen und schreiben:

Charlotte Palatzky

»Obwohl zeitgenössische Populistinnen den Finger in die Wunde der liberalen Demokratie legen, lösen ihre Antworten keine Probleme.« (Schäfer/Zürn 2021: 198)


Regression (umkehren, zurückkehren)

Sah aus dem Tag heraus Unseren Körper,
einen Revolver an die Schläfe gelegt,
kein Druck liegt in dieser Vorstellung
und der Auslöser wird wie eine Frage bewegt.

Trauben von hochgeschlossenen alten Roben,
um die Situation herum, murmelnd,
drehen sich sagend, tragend umeinander, toben,
der Korpus gleitet unbemerkt in Trauer.

Worte werden mühsam aufgespannt,
Spitzhacken greifen Stein und prüfen,
in der Form vollzieht sich eine Dichte,
eng, gepresst, rück rück vor schürfen.

Der Finger war erschöpft und rutschte
und die Gestalt herab und wurde
Blei durch Erz, durch Erden, Kruste,
Torf, Lehm und Vergessenheit.

Roben trugen fraglos Körper,
über Tag und Jahr hinaus in Schluchten,
was waren sie und noch darunter,
was war ist, wahr bleibt – Flucht

Schäfer, Armin/ Zürn, Michael 2021: Die demokratische Regression. Die politischen Ursachen des autoritären Populismus. Berlin: Suhrkamp.

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Chiara Bovio

At times there is a window
It’s clear and big and bright
But when the fog sticks to it
It takes up all the light

Not just the light is gone then
the thoughts have left as well
they leave a sticky feeling
what it is I cannot tell
how long this feeling lasts for
really isn’t in my hands 
it comes and goes without consent
sometimes ruining my plans

I want to see it coming 
I want to make it stop
it creeps on me, unknowing
then suddenly I’m lost

And in this fog there is a nothing
I sometimes let sink in
But if it never leaves me
I’m afraid that it will win

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Dennis Brock

Ich fühlte eine Beerdigung in meinem Hirn und das erinnerte mich daran, dass meine Großeltern bei jedem Fest, zu dem wir zusammenkommen, nach kurzer Zeit immer davon anfangen, wer übrigens in letzter Zeit gestorben sei und also nicht mehr hier sein kann. Solche Gespräche laufen immer nach demselben Muster ab. 
»Kennst du den oder den?«
»Ja.«
»Ja, der ist jetzt tot.«
»Aber vor einem Monat hab ich ihn noch gesehen, da schien er quicklebendig.«
»Ja, er wurde vor zwei Wochen beerdigt.«
»Wir wollen nicht länger davon sprechen, aber übrigens, kennst du den?«
»Wen?«
»Na, den?«
»Ach so, den. Wieso, was ist mit dem?«
»Na ja, der ist auch gestorben.«

Und so zogen sich die Stunden hin. Phasenweise hatte es für mich den Anschein, sie würden nur versuchen, einen Gestorbenen zu benennen, den die anderen nicht gekannt hatten, und wie sie so versuchten, das auszuloten, fühlte ich mich an die WM 2006 erinnert, als ich unbedingt mein Sammelsticker-Heft vollkriegen wollte und deshalb auf Tauschbörsen ging, auf denen jeder seine fehlenden Sticker mit ihren Nummern auf Listen geschrieben hatte, die nur noch runtergerattert wurden, sobald man einen anderen Sammler sah. Ich hatte das Gefühl, auch meine Großeltern hätten solche Listen im Kopf, die mit der Zeit jedoch nicht kürzer, sondern im Gegenteil immer länger zu werden schienen und das bedeutete, sie hatten lange gelebt und nur der, der am längsten lebte, hatte die Chance, sein Sammelheft vollzukriegen.  

Das Alter schien etwas zu sein, das einem erst ins Bewusstsein kam, wenn mehr Menschen, die man kannte, gegangen waren, als Neue hinzugekommen waren. So musste jede Todesanzeige eines entfernten Bekannten ein Mahnmal für die eigene Sterblichkeit sein. 

Meine Großeltern checkten früh morgens am Küchentisch die Todesanzeigen, um abzuschätzen, ob sie in nächster Zeit auf eine Beerdigung gehen oder ob sie neue Beileidskarten kaufen mussten. Es war wie bei allem. Man entwickelte Routine. Eine Gelassenheit im Umgang mit dem Tod, die Jüngere nicht verstehen konnten, wenn bei ihnen noch niemand gestorben war. 

Ich kam bei all den Verwandten, entfernten Verwandten, näheren Bekannten, verwandten Bekannten, bekannten Verwandten und unbekannten Verwandten sowie Verwandten, die einem nicht näher gewesen waren, als entfernte Bekannte, und Bekannte, die wahre Verwandte gewesen waren, nicht lange mit, sie waren für mich nichts als Namen, die mir nichts sagten, außer dass sie in irgendeinem Verhältnis zu meinen Großeltern gestanden hatten, und die ich nie kennengelernt hatte und jetzt wohl auch nicht mehr kennenlernen würde, deshalb verlor ich schnell das Interesse und wunderte mich also, als ich meine Oma sagen hörte, »ach der, der ist verhindert.«
»Wieso? Was hat der denn?«, fragte ich.
»Er hatte Krebs, aber jetzt nicht mehr«, sagte sie. 
»Wieso, ist er geheilt?«
Sie sah mich an, als sei ich ein kompletter Idiot. 

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Felix Herrmann

Never meant a thing to me
Effortlessly dead to me
Check the sign no vacancy
Extremely selective memory

Stefan Burnett (Known for it)


Ok Dicin Smiley

I felt fun in my brain,
And morning came so quickly, so early, yet my sleep would not cease. And I hate to mention this topic but:
I kept on dreaming and dreaming and dreamt of a voice saying to me:
»Ich schärfe meine Sense, Bro.«

And sitting up in bed I glimpsed those rays of light outside my window
The beat had rolling snares and 808s
Massaging the depths of my mind
Loud enough to drown out the heartbreak

Ascension then. My spirits lifted as I began to find myself
Old rowboat on a creek. Muddy, murky, greenish VIBES compelled me to ponder
Puss in Boots and leading a better life. Comprehension of the thought had barely set in when my inner child whispered to me:
»Das wäre doch toll«

»Yo quiero Taco Bell«
Prophetic visions set in, showing me that the average music listener of the 23rd century will have evolved into a being comprised solely of a singular ear,
Which is of course why I advocate silence, through my mere existence, pleading with the heavens to spare us of such Darwinian horrors
I never checked myself in the attempts to escape this confinement, though I hear them

And then collapse of all that I had thought was concretely rooted within me. Within that which I call me, that is, all that I have constructed through hard work and a lot of luck probably also
And I plummeted far into the hungry abyss
Not knowing what to write next. I don’t even know how much time is left

Dies ist die Originalfassung, die bisher nur von wenigen Menschen gesehen wurde, da sie tief unten in der Erde vergraben wurde, vor vielen Jahren auf Oak Island. Dort, wo all die ungelüfteten Geheimnisse der Menschheit liegen oder einmal liegen werden.

Ich weiß nicht so ganz, was ich mit diesem Text anfangen soll, denn meine vielen Übersetzungsversuche sind bislang nicht geglückt. Der Text ist … Na, man kann es eigentlich nur so formulieren: Der Text ist so unfassbar tiefgründig und vielschichtig, dass es unmöglich ist, ihn in seiner Gänze zu erfassen. Die Speicherkapazität des Gehirns eines durchschnittlichen Homo sapiens sapiens reicht ganz einfach nicht aus. Hat man all das Wissen, das in den letzten paar Zeilen verborgen liegt, aufgedeckt, so wird man den Anfang wieder vergessen haben.

Also gebe ich auf. Ich versuche nicht, es zu verstehen. Ich lese es nur kurz und denke dann nicht mehr darüber nach. Noch kein Mensch ist durch das Nachdenken glücklicher geworden. So funktioniert es einfach nicht. Ich muss mit bloßen Händen ein Reh erjagen. Dann weiß ich, was es bedeutet, ein Mensch zu sein.

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Ida Welge
on repeat

Meine Gedanken sind on repeat. So wie meine Lieblingsplaylist seit zwei Jahren.
Immer wiederholen sich die gleichen Töne, die Melodie ist vertraut und wohltuend. Es gibt ein Muster, eine regelhafte Abfolge, festgelegte Akkorde in jedem einzelnen Lied. 
Und es gibt eine Melodie. Die Melodie ist individuell, der Kreativität werden keine Grenzen gesetzt. Sie darf schief sein, punktierte Noten schreiben, Pausen machen oder schnell verlaufen, wie ein Wasserfall. Die Melodie macht den Wiedererkennungswert aus – sie macht das Lied einzigartig. Die Kombination aus Basis und Melodie lässt mich das Lied mögen. Oder eben auch nicht. Nur die Lieder, die ich nicht satthören kann, kommen in die Playlist. Ein selbstgeschaffener elitärer Raum, in dem ich die Bestimmerin bin; wo meine Regeln gelten. Ich habe bei jedem neuen Lied in der Hand zu entscheiden, welche Wichtigkeit das Gehörte für mich haben soll. 

Zurück zu den Gedanken. Ich kenne mich und meine Gedanken. Ich bin mit ihnen groß geworden, habe mich weiterentwickelt, bin an ihnen gewachsen und kaputtgegangen. Die Grundstruktur folgt einem Muster, das schon immer gleich ist – on repeat. 
Aber sie sind nicht wie meine Playlist. Hier kann ich nichts bestimmen oder sortieren. Die Hierarchie ist ein Selbstläufer des Gedachten. Die Gedanken führen ein Eigenleben und können sich innerhalb weniger Sekunden so breitmachen, dass für alles andere kein Platz mehr bleibt. Aber meine Gedanken sind auch meine Melodie. Sie können schief sein, Punkte setzen, pausieren oder sprudeln wie Wasser. Und sie machen mich zu etwas Einzigartigem.
Meine Melodie ist ein Teil von mir – willst du mich hören?

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Lea Nägle

Ich fühle eine Schwere in meinem Kopf,
wie ein Gewitter sich zusammen braut,
schwüle Luft drückt vom letzten Winkel 
meiner Schädeldecke entgegen.

Nichts bleibt unbeantwortet,
Sinnzusammenhänge schließen sich aus –
schließen aneinander an,
wo kein Reiz, da ist Reaktion.

Niemand kennt sich aus,
kennt sich aus in sich selbst,
deshalb brauchen wir das Außen,
Rückkopplungsschleifen in Blick und Wort.

Wo endet mein Verstand,
fängt mein Körper an zu steuern?,  
ein einziges Einerlei,
aus Blitz und Donner.

Schwere bleibt im Raum zwischen
den Gedanken und der Handlung,
Erstarrung in Winterkleidung,
Atmen gegen Widerstände – 

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Lisbeth Leupold
I felt a funeral in my brain

Ich habe meine Gedanken zu Grabe getragen, sie sind jetzt beerdigt, es liegt eine Erdschicht auf ihnen. Die Totengräber standen im eigenen Schweiß, fast wäre der Spaten durchgebrochen, als sie die Grube gruben, und nun ist wieder eine Erdschicht darüber, sie wird sich setzen, wird sich legen, wird sich in jeden Hohlraum schieben, bis alles glatt ist und eben.

Darunter weiß ich nun meine Gedanken, ich werde an sie denken von Zeit zu Zeit, ich werde vielleicht mal rüber fahren zu ihnen im Frühling und ihr Grab pflegen, ein bisschen Unkraut rupfen und ein bisschen Laub harken, denn das liegt da noch vom Jahr davor.

Wild wird es dort bald aussehen, wenn ich nicht da war, wenn ich lange Zeit nicht dagewesen bin, wird alles wuchern und struppen, eine Schande wird das sein, nicht für mich, aber für die anderen, die Angehörigen der Nachbargräber, sie werden sich davor stellen, vor das Grab meiner Gedanken und sagen, eine Schande ist das, und dann werden sie sich ihrem eigenen Grab zuwenden, harken und jäten und sich mit der Rosenschere schneiden, aus Versehen, in einem kurzen Moment der Unachtsamkeit, meine Schuld wird es nicht sein.

Nach einigen Jahren werde ich dann Immergrün pflanzen, irgendetwas Immergrünes, es wird immergrünen auf dem Grab meiner Gedanken, hässlich, sehr hässlich werde ich das finden, aber was soll ich schon machen, irgendetwas muss da wohl sein auf der Erdschicht, unter der sie liegen, ich will keine Leerstelle lassen, wo ich sie zu Grabegetragen habe, da wird es jetzt also immergrünen, im Sommer, im Winter, im Herbst, im Frühling, immer. Und manchmal, da komme ich dann rüber gefahren und zupfe ein bisschen am Unkraut.

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Nina Andresen

And I finished knowing – – then – – I ceased to remember,
to harness information, pictures, logical endeavor

until nothing was left.

Tis the endless motion of unidentified fragments in my skull
that leave me nothing but an overstimulated empty soul.
When all seems lost in an all-knowing presence
might be my very hearts funeral that is of essence
to a hermetically sealed, unbending end
that lets a broken mind be mend.

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Yasmin Sibai

I)

Begräbnisse im Kopf
oder auch:
ab und zu mal was innerlich zu Grabe tragen
nichts Schlimmes eigentlich
make room / Aussortieren
damit Neues nachwachsen kann
Gedankengestrüpp ausdünnen
Unkraut jäten / Klarheit schaffen
Entwirrung der/s Wirren / des Gewirrs

obwohl das Jäten ja generell  
als eine spießige Handlungsweise 
betrachtet werden kann –
der Wildwuchs gänzlich verkannt 
der ja auch Schönes hervorbringt
scharfe Kanten abdämpft / mildert

obwohl Emily das vielleicht ganz anders 
gemeint haben könnte
Glockengedröhne im Kopf
ist keine zu unterschätzende Sache
eine beunruhigende auch
ob man sich um sie Sorgen 
hätte machen müssen
auch ein Gedanke
das kann schon mal die Sinne 
betäuben

was da so alles reinpasste auch –
Erdlöcher und Trauergesellschaften
Glockentürme und Galaxien
eine Bretterbude nicht zuletzt
die so dann und wann
auseinanderkracht
äußerst besorgniserregend
und nicht gut für die 
Konzentration
und auch
wieder ein
Zugrabetragen
erforderlich macht
ein Prozess
der unablässig
stets wieder
von vorn beginnt


II)

Gärtnerin
sein 
meiner 
eigenen
Hirnrinden – 
wirrungen

Holzkästen gezimmert
daraus
ein bisschen schief
und darin Setzlinge 
sortiert
und nebeneinander
in Reihen 
aufgestellt –

und dann
auf Regen
gehofft

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Bild mit freundlicher Genehmigung von Kai Simanski | Pfeil und Bogen