Wir wären mit diesem Satz eingestiegen. Wir hätten extrem losgelegt. Zeigt der Satz doch sofort die emotionale Stumpfheit, die im Kaff Schattin grassiert. Aber Alina Herbing verfrachtet ihn auf Seite Hundertirgendwas. Ihren Debütroman Niemand ist bei den Kälbern beginnt sie softer: auf einem Traktor in der Sommerhitze. Landgeruch. Wiesen. Insektenschwirren. Erst nach ein paar Absätzen gerät (endlich) ein Rehkitz in die Mähmaschine. Beim Anblick der Fellreste überkommt Ich-Erzählerin Christin »ein komischer Streichel-Reflex«.
Rückblende: Sommersemester 2015. Seminar: »Emotionale Extremsituationen«. Dozentin: Alina Herbing. Erotisch gemeinte Szenen aus Fifty Shades of Grey neben dem Mikrowellensuizid bei David Foster Wallace. Wir haben gut gelacht. Denn Emotionen in Schwarz auf Weiß zu klatschen, schafft vor allem eins: Distanz. Entfremdet – wie Herbings Hauptfigur Christin. Vom Bauernhofalltag erzählt sie in einer so klaren, nüchternen Sprache, dass die Gefühle und die Gewalt darunter fast verschwinden. Sie ist die (Anti-)Heldin, die uns von den mackernden Ich-Erzählern post-ironisch mackernder Autoren befreit. Autoren von Benjamin von Stuckrad-Barre bis Philipp Winkler, die uns – seit Christian Kracht Mitte der 90er Jahre den Startschuss gab – die immergleiche »boys will be boys«-Attitüde vorführen. Als könnten Frauen nicht auch ambivalent und verloren und »irgendwie« sein.
Herbing, Jahrgang 1984, inzwischen wohnhaft in Berlin, geht mit ihrem Roman dorthin, wo sie herkommt und (wir vermuten) nicht mehr hin will: nach Meck-Pomm. Schattin, das ist der ehemalige deutsch-deutsche »Todesstreifen«, in dem es sich heute erst recht nicht mehr leben lässt. Die Milchpreise dort: im Keller. Die Attraktion: freilaufende Nandus. Die Kühe: kalben am Straßenrand. Die Dorfnazis: integriert. Der Friseursalon: dichtgemacht.
Die Friseurinnen-Ausbildung lässt sich so schlecht beenden. Weil Christin mit Anfang Zwanzig nicht mehr bei ihrem Spriti-Vater wohnen will, ist sie zu ihrem paranoid-eifersüchtigen Freund Jan auf den Hof des Schwiegervaters gezogen. Der hasst sie. Sie hat sich schon vorgestellt, ihn zu erschießen.

Bei der Plackerei auf dem Hof spürt Christin wenigstens die Brandblase neben ihrer Vagina. Mit einer Kippe hat sie ein alternder Windrad-Reparateur nach dem Fremdgehscheunenfick gebrandmarkt. Kein Wunder, dass Christin eigentlich nur noch den alternativen Fakten aus Online-Horoskopen und Frauenzeitschriften vertraut. Und auf ihre beste Freundin Caro, deren Tipps sie besser in einen der Kuhafter stecken sollte, die sich Christin ständig entgegenstrecken. Lieber der Freundin zustimmen, dem Mann die Kloppe verzeihen, sich das Bier aufmachen lassen und abends eine Menge Likörsudel schütten. Das kommt der Lösung am nächsten.
Denn die wartet nirgends. Obwohl angelegt, bleiben die Abkürzungen zur Road-Novel-Plattitüde ungenutzt. Eskaliert wird – aber nicht voreilig. Den bequemen Ausstieg aus der Provinz gibt es nicht. Zwar fällt auch Niemand ist bei den Kälbern in die Debüt-Kategorie »unter 300 Seiten, Ich-Perspektive im Präsens«, die von den Schreibschulen in Monokultur herangezüchtet werden. Zum Beispiel in Hildesheim, wo Alina Herbing studierte, bevor sie als Dozentin arbeitete. Wir hoffen, ohne Mordgedanken. Wenigstens ohne Gewehr im Schrank. Aber dieses Mal mussten wir beim Lesen nicht viel wiederkäuen.
Niemand ist bei den Kälbern ist ein starkes Debüt. Es ist gute Prosa. Elegant und verstörend zugleich. Wie ein Nandu in der mecklenburgischen Pampa. Da sind wir extrem emotionslos mit unserem Urteil.
Alina Herbing: Niemand ist bei den Kälbern. Arche Literatur Verlag. 224 Seiten.