SRC Ann Cotton
SRC Ann Cotton

Slow Reading Club 10

Ann Cotten:
Fremdwörterbuchsonette

Wir lesen einen Auszug aus Ann Cottens Fremdwörterbuchsonette: Die Liebe ist Sieger – rege ist sie bei Leid. Wir spüren von Anfang an, dass wir komplexen Gedanken folgen, die uns immer wieder an den Rand der Verständlichkeit führen und am liebsten über diesen Rand hinaus schubsen möchten. Im Interview mit Wolfgang Hottner im Juni 2021 erklärte die Schriftstellerin jedes ›Prinzipiendenken‹ zu ihrem Feind. Und wir müssen uns selbst hinterfragen: Folgen wir Prinzipien? Und wenn ja, können wir uns von ihnen befreien?

»Wir lesen nicht, weil wir verstehen, um dann unsere schlauen Lesarten vorzustellen.«

Guido Graf

So scheint Ann Cotten auch mit unseren antrainierten »schlauen Lesarten« spielen zu wollen, aufzuzeigen, wie wir lesen, wenn wir lesen. Und wie wir lesen könnten:

»[…] ich schüttele im Auge, was ich sehe, und hoffe, etwas anderes zu sehn.«

Ann Cotten

Wir dürfen also nicht den erstbesten Weg nehmen, sondern müssen nochmal hinsehen, und nochmal. Danach schreiben wir:

Alba Okoye
Die liebe Tote – Beileid

Ich nehme den zweitbesten Weg und finde immer noch keine Ruh
Ich nehme den drittbesten und frage mich, was ich hier tu
Nehm ich den viertbesten oder den danach  
Welchen muss ich nehmen, damit er zu dir führt?
Welche Abzweigung nehm ich nicht, um dich zu finden, und 
wann verlasse ich den Kreis, um nicht im Ewigen herum zu schwinden?

Rennst du mit oder gegen?
Welchen Weg wirst du nehmen?
Wenn du stoppst, lauf ich weiter, irgendwann komm ich an 
und wir laufen gemeinsam 

Treff ich dich, triffst du mich 
und treff ich dich nicht, wen triffst du dann?
Treff ich einen, treff ich dich? Wer sagt mir, dass du es bist?
Du sagst, ich erkenne dich 
am Rucksack, den du trägst, wie ich
Ist er leer wie meiner?

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Chiara Bovio

Mein Kopf steckt in deinem Ärmel.

Rückwärts gesehen, schaue ich mit dem Blick aus der Höhle.

Rückwärts gelesen, ergibt es kein Palindrom, so auch keinen Sinn.

Vielleicht aber eine Palingenese,

die Wiedergeburt deiner Seele?


Gerüste, mit denen man spielen kann, sind schlussendlich Spielplätze, die auch eine andere Funktion haben, also Anagramme?

Es gibt immer Hoffnung, etwas zu entdecken, aber, ob man von der Mitte nach hinten oder nach vorne schaut, ist ein unbetretenes Gebiet.


Tendenziell nach vorne, der Beat geht nach vorne, so auch meine Tanzschritte, sonst kommt man ja nicht zum Ende vom Lied.


Oder man skipt das Lied, wenn’s gar nicht vorangeht, aber ob das der erste oder beste oder erstbeste Weg ist, gilt es noch herauszufinden.


So oder so, von Ruhe kann man nicht sprechen, vor allem nicht, wenn sich das Ziel bewegt. Ein Ziel, das stehenbleibt, braucht man aber nicht erreichen, sonst bleibt man ja selber stehen.


Also: Man kommt nie zur Ruhe. Es ist immer laut auf der Straße, in meinem Kopf. Aber: Es geht voran? Oder zumindest geht es.


Besser als rückwärts jedenfalls, sonst bleiben wir nur die Schatten in der Höhle deines Ärmels, den Blick zwar nach vorne, aber der Ausgang wird immer kleiner, so auch der Zugang zum Leben.

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Daniela Waßmer
6 Kreise

Aufschmelzung 
von Eruptivgestein,
Wiederaufschmelzung
gebiert Magma in 
Erdmantel und Erdkruste,
für
Giordano Bruno.
Mystik, Heiden,
das jüngste Gericht,
Kosmologie,
Palingenese. 

In der Entwicklung 
des Individuums
wiederholt sich
Entwicklung,
stammesgeschichtlich,
Empedokles,Platon,
die unsterbliche Seele,
Begierden,
Tugenden,
Häretiker, Ketzer,
Palingenese.

Wiedergeburt 
durch Seelenwanderung,
Wiederverkörperung,
Kirchenväter,
der Prophet Elijah,
Zellentwicklung und
Nidation in
Blastogenese,
partielle Gesteinsschmelzen
Johannes der Täufer,
Salome tanzt
für Herodes,
Palingenese.

Substantiv,
feminin.
Kiemenspalten beim Menschen,
Keimesentwicklung,
die ewige Wiederkehr des Gleichen,
Vorfahren des Menschen,
Aufgehen in der Weltseele,
Gnade und Gebete,
Brahman und Moksha.

Griechisch-neulateinisch,
Reinkarnation,
Aufschmelzung,
Auferstehung,
Heraklit,
Nietzsche,
Entwicklung der Chorda dorsalis,
Krümmungsbewegungen,
Gesteinsschmelze,
im Lebensrad,
punarbhava,
Punabbhava.

Wiedergeburt,
Geologie,
Biologie,
Theologie,
Philosophie der Pythagoreer,
Hungergeister und Dämonen
der Nebenhöllen,
Schlundbögen der Wirbeltiere,
Abfaltung des Neuralrohrs,
Wiederfleischwerdung,
Gilgul Neschamot.​​​​

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Dennis Brock

In letzter Zeit hatte mir die Liebe arg zugesetzt. Ich hatte mich in jede Straßenkreuzung verguckt, nie wusste ich, in welche Richtung ich gehen sollte. Stattdessen blieb ich, unbewegt, in der Hoffnung, dass mich eine nach dem Weg fragte, sodass ich sagen könne, auch ich habe mich verirrt. Drei Nächte und drei Tage stand ich so und alle möglichen Konstellationen zogen an mir vorbei, ohne dass sich was tat und ich wollte mich gerade in Bewegung setzen, als da eine kam, die mich fragte, Schätzchen, wonach suchst du? Und ich antwortete: Ich weiß nicht wonach. Und darauf sie, für ein Fuffy sag ich’s dir. 

Nee, so wichtig ist’s mir auch wieder nicht, erwiderte ich. Und sie, doch das sehe ich an deinem Gesicht. Schnell hielt ich mir beide Hände davor und weil sie nicht ging, erzählte ich ihr von meiner Theorie, dass die Konquistadoren auf der Suche nach Eldorado gar nicht nach Gold gesucht hatten, sondern nach der Liebe und deshalb auch nur so wenige zurückgekehrt waren. Sie sagte, aber waren die nicht alle umgekommen. 

Ja, deshalb ja, sagte ich. Gold findet man überall, das gibt’s wie Sand am Meer, aber Liebe … Die kriegst du an jeder Straßenecke, fiel sie mir ins Wort, und überhaupt hätt’ ich lieber das Gold.  

Glaubst du nicht dran, sagte ich, aber da schrie schon so ein dahergelaufener Passant, das ist so ’ne alte Nummer und ehe wir uns versahen, begafften uns die Massen und ich nahm die Hände vom Gesicht und schrie, dass die allemal die Fresse halten sollen, dabei sagten die ja gar nichts, sondern glotzten nur, wie ein paar Kühe auf der Weide Fahrradfahrer anglotzen, wahrscheinlich weil die selber kein Fahrradfahren können und weil mich das alles so durcheinanderbrachte, warf ich hinterher, man solle doch, wenn man ich wäre, vielleicht lieber weitergehen, aber irgendwie hatte das nicht die Wirkung, die ich gedacht hatte, und so schrie sie, zieht ab, ihr Hampelmänner, und tatsächlich zogen sie sich überstürzt zurück, ließen ihr ganzes Material zurück, Kinderwagen wurden mitsamt Kindern stehen gelassen, Menschen sprangen aus fahrenden Autos, die die Straße hinab weiterrollten, und weiter rollen werden wie so ein Perpetuum mobile, und ich fragte sie, ob so das Auto des Papstes hieß, dieses gepanzerte Ding, indem der Typ immer ausgestellt wird, wenn er mal seine olle Butze verlassen darf, aber sie hörte mir gar nicht zu, stattdessen sagte sie, die streben alle nach demselben und merken’s nicht einmal, dieser tägliche Kampf, dieses tägliche Aufbegehren gegen den Tod und wofür? Ich überlegte lange, ging die Sache wie ein Rätsel an, ging das, was sie sagte von hinten wie von vorne durch, doch dann kapitulierte ich und schüttelte den Kopf. Sie sagte, na, all das nur für die süßen Schmerzen.

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Felix Herrmann

I hate you so much
I hate your laws
I hate your need a cause
I hate your faux touch
I hate every last one of you
I ponder digesting razors just to be done with you
I love you so much

· Stefan Burnett (Centuries of Damn)


Schnuppertag/Bewerbung an der Uni
[Vormittag – Raum 402]

Es ist das Jahr 1702. Felix, die Katze bewirbt sich in Quakenbrück an der Uni für angewandtes Suppe-Trinken. Interviewt wird sie von dem Tapferen Schneiderlein, welches zu diesem Zeitpunkt bereits 600 Jahre alt ist.

Felix, die Katze: »Also, meine größte Stärke wollen Sie wissen? Na ja … wie drücke ich das aus? Ich bin ein Falke, so wie der Typ aus GATTACA. Damit meine ich, dass ich – also ich bin geradlinig – oder ne, wie heißt dieses Wort? Stromlinienförmig? Gradstromlinig? Aerodynamisch? Also, das bin ich auch, aber ich meine halt so – na ja, ich flutsche eben durchs Leben. Verstehen Sie, was ich Ihnen damit sagen möchte? Ich bin wie ein Lachs in einem Gummirohr sozusagen. Ich sehe nur das, was vor mir ist, und bewege mich mit einem Mords-Tempo darauf zu.«

Das Schneiderlein: »Sehr interessant. Nun sehe ich hier, dass sie aus Berlin kommen. Stimmt das? Und haben Sie Bedenken, wo Sie ja jetzt in eine so viel kleinere Stadt ziehen wollen, um das Suppe-Trinken zu meistern?«

Felix, die Katze: »Also Berlin. Berlin ist schon ziemlich cool. Ich weiß ja nicht, was Sie so für einen Eindruck von Berlin haben, aber … haben Sie vielleicht schon mal Hitman 3 gespielt? Da gibts ne richtig coole Mission, die in Berlin spielt.«

Das Schneiderlein: »Aha.«

Felix, die Katze: »Ja, also wissen Sie, das Ganze spielt in so einem Nightclub und man muss da insgesamt fünf Geheimagenten umbringen. Wenn man das Level allerdings zum ersten Mal spielt, dann sind die Ziele nicht markiert. Man muss sich also erstmal in der Gegend umsehen und sich den Leuten annähern. Nur darf man von ihnen nicht dabei gesehen werden, sonst greifen die direkt zur Waffe. Also vom Konzept her finde ich das sehr interessant und ich denke, es war auch wichtig, dass in Hitman 3 einige Levels so Elemente eingebracht haben, die nicht in jedem Level vorkommen. Sonst wär das Ganze ziemlich öde geworden.
Sowieso mag ich aber einfach den VIBE von diesem Club in Berlin. Ich stehe auf Synthwave-Neon-Brutalität, verstehen Sie. Das erinnert mich an Hotline Miami und Mother Russia Bleeds und auch an Katana ZERO. Alles sehr geile Spiele, vor allem natürlich Hotline Miami 2. Das würde ich gerne irgendwann wieder spielen. Leider bin ich aber so gut darin geworden, dass es nicht mehr besonders spannend ist. Das ist sehr, sehr schade.«

Das Schneiderlein: »Also mir ist ›Fang den Hut‹ ja schon zu spannend. Dazu hätte ich übrigens auch eine Frage: Wie betonen Sie ›Fang den Hut‹? Liegt bei Ihnen die Betonung auf ›Fang‹ oder auf ›Hut‹?«

Felix, die Katze: »Also ich sag immer ›Fang den Hut‹.«

Das Schneiderlein: »Ah interessant. Das mach ich immer genau andersherum. Aber meine Schwester betont das genauso wie Sie. Die sagt allerdings auch ›Kevin allein zu Haus‹, statt ›Kevin allein zu Haus‹.«

Felix, die Katze: »Oh ja, also das find ich dann schon komisch betont.«

Das Schneiderlein: »Ja, oder?«

Felix, die Katze: »Ja. Ja, absolut.«

Das Schneiderlein: »Nun mal abgesehen davon, hätte ich jetzt noch eine kleine Aufgabe für Sie, die wirklich sehr wichtig ist, um zu evaluieren, ob Sie an dieser Uni richtig sind. Könnten Sie bitte einmal Beatboxen? Ich werde dann etwas dazu rappen. Also nur so’n bisschen Freestyle. Sie verstehen.«

Felix, die Katze: »Ja, gerne.«

Das Schneiderlein: »Gut.«

Felix, die Katze: »Soll ich anfangen?«

Das Schneiderlein: »Ja, gerne.«

Felix, die Katze: »putzekatzeputzekatzeputzekatzeputzekatze«

Das Schneiderlein: »Ich bin fly wie ein Habicht«

Felix, die Katze: »putzekatzeputzekatzeputzekatzeputzekatze«

Das Schneiderlein: »Probleme hab ich gar nicht«

Felix, die Katze: »putzekatzeputzekatzeputzekatzeputzekatze«

Das Schneiderlein: »Ich hab mehr Scheine als ein Heiliger«

Felix, die Katze: »putzekatzeputzekatzeputzekatzeputzekatze«

Das Schneiderlein: »Und mein Flow ist mega geil, digga«

Felix, die Katze: »putzekatzeputzekatzeputzekatzeputzekatze«

Das Schneiderlein: »Ich geh bei ›Fang den Hut‹ in die Mitte«

Felix, die Katze: »putzekatzeputzekatzeputzekatzeputzekatze«

Das Schneiderlein: »Deine Klicke kassiert Tritte«

Felix, die Katze: »putzekatzeputzekatzeputzekatzeputzekatze«

Das Schneiderlein: »Sie können jetzt aufhören bitte.«

Felix, die Katze: »Ok.«

Das Schneiderlein: »Das war doch schonmal ganz gut. Ziemlich fresher Beat. Was sagen Sie zu meinen Rap-Skills?«

Felix, die Katze: »Also, das ist noch etwas dürftig. Und apropos dürftig. Dürft ich jetzt mal nach Hause gehen? Wir sitzen hier seit ’ner gefühlten Ewigkeit rum und labern nur.«

Das Schneiderlein: »Na haben Sie denn keine Fragen mehr zur Uni? Gar keine?«

Felix, die Katze: »Zum Fragen stellen bin ich irgendwie zu dumm.«

Das Schneiderlein: »Dazu kenne ich einen guten Spruch. Den hat mir mal ein Esel erzählt, als ich in Australien war. Ich glaub, der ging so: Wenn man weiß, dass man nichts weiß und dumm ist, dann … stimmt das wahrscheinlich auch.«

Felix, die Katze: »Check ich nicht. Also bis dann. Sie nehmen mich ja wahrscheinlich sowieso nicht, oder?«

Das Schneiderlein: »Nein, natürlich nicht. Auf nimmer wieder sehen.«

Wenige Minuten nachdem die Katze das Gebäude verlassen hatte, starb das Schneiderlein durch von Kummer ausgelösten Herzinfarkten, die dadurch verursacht wurden, dass die Katze seinen Rap beleidigt hatte.
Einen Herzinfarkt hätte das Schneiderlein selbst in dem hohen Alter wohl noch ausgehalten, doch bedauerlicherweise hatte es gleich sieben auf einen Schlag.

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Greta Sofie Müller

Manchmal fühlen sich meine Gedanken wie neugeboren. Nein, geschüttelt. Wiedergeboren. Aber trotzdem neu. Noch. Wenn es immer so weitergeht, wird es irgendwann nicht mehr neu sein. Meine Kombinationsmöglichkeiten sind begrenzt. Vielleicht ist das aber auch Ansichtssache und ich kann es aber eben nur so sehen.

Von der Mitte kann man in jede Richtung bis ans Ende schauen. Ich bin am Ende und weiß, glaube, dass du in der Mitte bist. Aber ich kann dich nicht sehen. Es gibt Dinge dazwischen. Wenn ich mich schüttle, ändert sich dann meine Sicht? Wenn ich mich schüttele, bewege ich dann etwas außerhalb von mir? Kann ich dich dann sehen?

Wenn das Ziel Ruh ist, was bringt es, sie in der Ferne zu suchen. Die Ferne ist niemals bei mir. Wenn ich ruhe, ist dann nicht Ruh bei mir?

Zeit. Eine Linie, ein Kreis, ein Moment. Es gibt schon jetzt Überreste. Überreste von dem, was sein wird. Wenn ich mich weiter schüttle und sie loslasse, vielleicht findest du sie, wenn ich weitergehe. Dann begegnest du einem Teil von mir und ich weiß nichts davon. Wenn sich unsere Linien, Kreise, Momente treffen, berichtest du mir dann? Werde ich dir glauben?

Die Zeit, in der wir schweigen, trage ich mit mir. Manchmal glaube ich, es ist Zeit, sie loszulassen.

Unter dem Aspekt, dass B. in der Vergangenheit aktiv Dritte dabei unterstützt hat, eine Existenz und Gesundheit (meine, höchsteigen) zu gefährden, ist ein Loch (zerfressen, optisch auffällig) entstanden.
Abschließend kann man sagen, dass eine Freundschaft zu B. nach vielen Jahren (sowie Orten und so weiter) keine Option mehr ist, nachdem die ausschlaggebenden Faktoren, die die Eigenschaften einer Freundschaft ausmachen (Vertrauen und so weiter), nicht länger erfüllt sind.

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Ida Welge
»Zettelhöhle«

Was würde ich dafür tun, eine eigene kleine Zettelhöhle zu haben?
Einen Kopf, der vor Kreativität nur so platzt und jeder Kleinigkeit eine physische Leinwand bieten muss. Jeden Gedanken verschriftlichen und vor sich sehen, in roher Form. Schwarz auf weiß oder blau auf der Ecke eines Zeitungsblattes.
Die Höhle wäre warm und gemütlich. Das Licht und alle Farben wären ein wenig gedeckt, sodass man das Gefühl hat, dass die Wirklichkeit nie in Gänze an einen herantritt. Ein Ort zum Nacktsein, zum Gedankenentblößen – ein Seelen-Striptease.
In roher Form würdest du zusammengekringelt im Bett der eigenen Worte liegen.
Du wärst ein Teil von ihnen, so wie sie ein Teil von dir sind.

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Josefine Sonneson
ewige wiederkehr

wehe, wieder krieg
drei rehe weg, kiew
drei heer weg, kiew
kiew, drei gewehre
geh kiew, erwidere
rede kiew, weg hier

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Julia Fiederer

Stell dir vor, jemand bricht dir das Herz und du siehst dir den Schaden an und dann steht, an der hinteren Herzwand eingraviert: Live, Laugh, Love. Das ist es also, denkst du dir, ein Herz in Glückskeksqualität.

Schöne Scheiße. Da hättest du dich wohl auch verlassen, auch, wenn du immer noch am liebsten mit deiner Aortenklappe Ohrfeigen Ohrfeigen verteilen würdest.

Wer auch immer dir das Herz gebaut hat, der hat das Ventil vergessen. Natürlich nur im übertragenen Sinne der Kalendersprüche, die du deiner Mutter jedes Jahr im Taschenbuchformat zu Weihnachten schenkst. Nicht einmal das weißt du: Ob das Herz ein Ventil hat und wenn ja, wofür es das eigentlich benötigt.

Es heißt, der Mensch sollte ja immer erst den Balken aus dem eigenen Auge ziehen – weil der Blick sonst zensiert ist.

So oder so ist das Ende eines Beziehungslebens ja sowieso immer eine Wiedergeburt, nur im Rückwärtsgang.

Die Eigenschaften, die man sich so schön zurechtgebastelt hat, werden in der Luft zerrissen. Die Umstände reißen einem den Kopf ab, biegen den Rest des Körpers in eine Kurve und schon ist man ein Fragezeichen. Das Konstrukt, auf dem man sich gerade noch nach der nächsten Stufe irgendeiner Leiter gestreckt hat: Alles verstreut, die eine Hälfte gehört ohnehin dem Deppen der gerade durch deine verstaubte Hohlvene Reißaus nimmt.

Im Leben hält der Materialmangel Einzug, es fehlt an allem. Die Hauptschlagader, ein Knoten.

Im rechten Vorhof nistet sich der Mietnomade ein, den du vor acht Monaten hinausgeworfen hast, um Platz zu machen für das positive Ergebnis eines auf die Feststellung von Tatsachen gerichteten Beweisverfahrens, welches lautete: Du bist nicht banal.

Und wer behauptet, dass aus Liebeskummer doch die schönste Poesie entstehen kann, der kennt deinen Liebeskummer nicht. Der ist sechs Jahre alt und sitzt vor Art Attack, aber ohne den guten Kleber.

Doch dieser Nomade, die Furcht vor der eigenen Banalität, macht es sich jetzt jedoch wieder gemütlich. Und du bringst dieser Erscheinung auch noch einen Tee ans Bett. Hättest du mal mehr meditiert und weniger gevögelt.

Orgasmen gehen, Erkenntnisse aber bleiben.

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Lio Diona
Irrturmsredundanz – irr rum, red und tanz! 

Ich packe meinen Schüttelrucksack und nehme mit:
Anna
ein Gramm
Salz + Streuer
Pfeffer (mühlelos)
einen Hut (heut in) –
einen Stock (nicke Ost)
einen Damenunterrock (anmutende Rockerin)
ein Kartendeck + drei Ecken Kant (unter der Hand)
ein Grußkartendeck
mit »Komm gut zurück, mein liebes Palindrom!«
Fang den Hut, ich komm dann schon! – fahnden gut – ahnend fugt und säg Kerbe in
Gestein – steigen – geniest – stiegen – neigest – geisten – eignest – Niesteg

wir gingen dem gegenwind (mir) entgegen, am Niesteg entlang, in dunkeltrüber redundanz
es gab den Irrturm und sein licht, das besagend rum irrt, unendlich ist
den ersten weg, den naheliegendsten, den besten und der restlich rest
ruhe blieb nie ungestraft, im rucksack hab ich ungensaft
da schütteleten die reime sich und im kaleidoskop
das ich an mein auge hob
da sahst du mich
ein schütteln weiter wieder dich – du bist auch nur ACGT
und wenn ich dich hier so acgten seh
verleib ich mich a little bit

wir schlugen lager, deinen schwager, machten feuer, fauchten meer
aufschein ehrte = einfaches ruhte = scheiterhaufen war das kartendeck
wir verbrannten die würfel, verschmolzen die häupter, hielten könige am karteneck
wir schlachteten jedes royale, männliche pig, behielten die damen, die lage verzwickt:
da war käse am spielfeld, mit ihnen geschmolzen, kollateralschaden, oder doch ein raclette?
bewaffnet mit salzstreuer und pfeffermühle
im rucksack = crack musik
es war salty und teuer, aber wert alle mühe
schmolzen den schnee und schärften den blick
zenith = hitzen
klimaxen sind nur spiegelachsen
und am gipfel die schweizer uhrenfabrik

.

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Lisbeth Leupold
Man sollte, wenn man ich ist, einfach weitergehen

Wenn ich du wäre, würde ich mir mal eine Auszeit nehmen, hatte er gesagt, wenn ich du wäre, würde ich da nochmal drüber nachdenken, du hast doch schließlich Zeit, jetzt setz dich doch nicht so unter Druck, also wirklich, hatte er gesagt, also wenn ich du wäre.

Schließlich hatte er mir einen Rucksack in die Hand gedrückt und mir einige Worte mit auf den Weg gegeben und eine Landkarte, die hatte er selbst gezeichnet, ich schaute sie mir von allen Seiten an und bekam zunehmend den Eindruck, er habe sie auch selbst vermessen, welchen Weg soll ich denn da überhaupt nehmen, hatte ich ihn gefragt und er meinte, den ersten besten natürlich und nun stand ich hier mit dem Rucksack und seinen Worten und dieser Karte und dachte, den ersten besten, was für ein Schwachsinn, welcher ist der beste und warum der erste, dann wird es wohl noch einen zweiten besten geben und so wie die Karte aussieht, also bei dieser Karte, da kann ich ja eigentlich nur daran vorbeilaufen.

Ich nahm dann also irgendeinen Weg, es war nicht der erste und der beste war es wahrscheinlich auch nicht, ich war mir nicht ganz sicher, er war auch gar nicht auf der Karte drauf, aber ich dachte mir, die meisten Wege kreuzen sich ja irgendwo, ich werd’s schon finden.

Dann ging ich also los, mit dem Rucksack auf dem Rücken und im Hohlkreuz, damit mich seine Worte nicht berührten, die bei jedem Schritt durcheinandergeschüttelt wurden, ich solle mir die mal in Ruhe vornehmen, hatte er gesagt, also wenn ich du wäre, würde ich mich mal in Ruhe damit beschäftigen, und genau das war auch das Problem, meiner Meinung nach, er konnte es einfach nicht lassen, es war schon fast dreist, aber ich nahm es ihm nicht übel, es war ja genetisch veranlagt, jedenfalls nahm ich das an, er konnte nichts dafür, es lag in seinen Genen, er musste sich einmischen, musste sich kümmern und deswegen nahm ich das meistens auch einfach so hin, nur ein einziges Mal, da hatte ich mich nicht zurückhalten können, wenn er immer ich wäre, hatte ich gesagt, und für meinen Geschmack sei er das ganz schön oft, also wenn er immer ich wäre, wo sollte ich denn dann überhaupt noch sein, wenn er da wäre, ich fände das schon ein bisschen eng hier, wenn immer er da wäre und nie ich, er könne mir ruhig mal ein bisschen Platz machen.

Und dann hatte er mir also auch noch diese Worte mitgegeben, wieder, er hatte sie eingepackt, aber nicht schüttelfest, sie polterten mir von hinten gegen das Schulterblatt, wenn ich versuchte, sie zu ignorieren. Am Anfang hatte ich einen kurzen Blick in den Rucksack geworfen, ich wusste also, welche Worte er ausgesucht hatte, von welchen er dachte, ich könnte sie gebrauchen, ich sollte mich mal mit ihnen beschäftigen. Willkürlich, völlig willkürlich fand ich sie, ich war mir sicher, er hatte sie gewürfelt oder aus der Zeitung ausgeschnitten oder wahllos aus dem Wörterbuch gezogen und dann in meinen Rucksack gestopft, nicht mal alphabetisch sortiert hatte er sie, da war ich mir sicher und ich sollte nun wieder was draus machen, war ja klar, das blieb nun wieder an mir hängen, dachte ich und drehte noch einmal probeweise die Karte um.

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Maja Hohenberg

ich verlasse das haus und 
nehme meinen koffer mit
jeden tag packe ich ihn
und so trage ich eine blumenvase bei mir 
ich packe meinen koffer und ich habe eine blumenvase
und einen transparenten hut
ich packe meinen koffer und 
ich nehme eine blumenvase, einen transparenten hut
den proviant vergess ich nicht 
einen apfel und ein ei
ich packe meinen koffer und auch das schöne trage ich bei mir
ein buntes glasperlenband
ich packe meinen koffer und ich habe eine blumenvase, einen transparenten hut, einen apfel und ein ei, ein buntes glasperlenband
ein unterwasserplateau im indischen ozean und einen kleinen bleistift
ich packe meinen koffer
da merke ich immer wieder
er ist nicht allzu groß
alles passt nicht
trotzdem
mit den sieben sachen
die ich bei mir trage
lässt sich schon einiges
anfangen

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Meret Stühmer
Aus der Haut geschubst

Wiedergeboren werden ist, als würde man aus seiner Haut geschubst. Ein kleiner Stoß, ein einziges Mal nicht rechtzeitig ausgewichen und schon steht man da, außerhalb des eigenen Selbst und betrachtet, was noch von einem übrig ist. Es ist nicht, als würde das Leben an einem vorüberziehen, als hätte man noch genug Zeit, all seine bisherigen Entscheidungen zu überdenken oder zu dem Schluss zu kommen, dass alles unbedeutend gewesen ist, schade eigentlich. Nur ein kleiner Schubs, nicht von einer Klippe, nicht gegen eine Wand, nur aus sich heraus und was man mitnimmt, ist nicht genug, um zu bedauern. Überhaupt hat all das ja nichts mit dir zu tun. »Du« ist auch das falsche Wort. Als würde eine Welle die Spuren im Sand verwischen, nur dass sie gleich den ganzen Strand mitnimmt, um keinen Ort mehr zu haben, an den sie zurückkehren kann.

Ein schönes Bild, dachte die Raupe, während sie sich mühsam aus dem Kokon zu schälen begann, der sich innerhalb der letzten Wochen um sie verwoben und schließlich geschlossen hatte. Sie wäre gern aus ihrer Haut geschubst worden, statt die ganze leidige Transformation bei vollem Bewusstsein und eingesperrt in ein winziges Gefängnis miterleben zu müssen. Wer wollte das schon? Erst wurde man zu dem gemacht, was man war und dann, wenn man sich daran gewöhnt und endlich herausgefunden hat, wie und warum und was man tat, zack, Transformation, fang von vorne an, aber mit weniger Zeit, du weißt ja jetzt, wie’s geht, Pah!

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Yasmin Sibai

Noch kein Frost heute. Glück gehabt, sagt das Gummi auf meinen Felgen, das schlecht gelaunte, das mir wegrutschen möchte, sobald ich die Zügel ein bisschen lockerlasse. Mir tun die Bauern leid, wenn der Frost, der kommen wird, die neuen Halme, die unverschämt grünen, schneenackten, mit einem Handkantenschlag abrasieren wird. Der Kies legt sich knirschend in die Kurve, als ich über die Mitte der Strecke rolle, irgendwo unter der Brücke. 

Der Wald knirscht auch, doch jetzt ist Tag und das lighthouse und meine Angst können mich mal, nein, nicht Virginia. Jeff. VanderMeer. The most horrific trail to the light house. And something was off with THAT lighthouse. S.th. with the light? Am Ende war es mir zu metaphysisch, beim dritten Band. Zählt das noch als Literatur? Nicht hier, sicherlich nicht im Land der geliebten Trennschärfe, weit weg vom amerikanischen Blur.

Den Wald jetzt im Rücken, der Wind wie eine Wand auf dem offenen Feld, ich bin spät dran, höre die Glocke im Turm bis hierher scheppern. Überhaupt Metaphysik. Überschätzt, finde ich. Auch, und ich sage das jetzt einfach mal so, den ollen Faust auf seiner pathetischen Suche nach Kernen. Mal ungeachtet der sprachlichen Höhen, der Wucht, der Wortgewalt, der ewigen Referenzen auch. Herunterbrechen lässt es sich ja auf Partikel nahe an der Bedeutungslosigkeit, wenn man boshaft sein möchte. Und ich möchte. Der Wind unerbittlich, vorbei an Baumgruppe eins. Die Story ermüdet, der Wind auch, fast Baumgruppe zwei, der gebildete Alte, am Ende des Lebens doch irgendwie unausgefüllt und beschließt, sich das Blut waschen zu lassen, zack, eine junge Frau geschwängert und sitzen gelassen, und nach dem schröcklichen Ende das große Heulen. Tja. Vielleicht gut, wenn da mal was anderes kommt. Rette mich zu Baumgruppe drei. Dass mal alles durchgeschüttelt wird, auch kanönisch und so, gab ja zu Zeiten des Meisters der Ruhegesänge noch andere Größen, andere Stimmen, die übertönt wurden, überhört wurden, wie so viele andere. Wir leben in Ausschnitten. Der Wind jetzt seitlich, fasst mir gemein in die Speichen, sogar der Zenith, die eigene Lebensmitte im Voraus nicht absehbar, nicht spürbar, die Grenze wird lautlos überschritten. Unwissentlich. Liegt darin nicht eigentlich die ganze Tragik?

Ein Schauen von der Mittellinie aus in beide Richtungen unmöglich. 

Nur in eine Richtung und noch nicht mal bis zum Anfang zurück, lässt sich schauen, ein solch kleiner Gesichtskreis, ein solch beschränkter Radius.

Der Wind grinst plötzlich von hinten, schiebt mich gönnerhaft die letzten Meter über den Steg.

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Bild mit freundlicher Genehmigung von Kai Simanski | Pfeil und Bogen