Unsere Sinne sind das Tor zur Welt, die „Werkzeuge“, mit deren Hilfe wir die Umgebung erkunden und immer Neues über uns und Andere lernen. Kinder begreifen die Welt auf eine besonders sinnliche Weise. Sie tasten, lauschen, spielen und entdecken. Wer Kindern etwas wirklich nahe bringen will, der sollte sie es also mit all ihren Sinnen erleben und erforschen lassen.
Einen Versuch dies auf literarischer Ebene zu tun, unternimmt Stefanie Schweizer in dem von ihr herausgegebenen Buch „Lyrik-Comics“. Eine bunte Erlebnisreise mit 19 Gedichten unterschiedlichster Art erwartet die Leser*Innen. Der spielerische Blick auf die Sprache mit Jandls bekanntem „ottos mops“, „Es ist Nacht“ von Morgenstern, aber auch Lyrik weniger bekannter Autor*Innen ist hier vertreten.
Zunächst werden die Texte in bloßer Versform vorgestellt, auf den jeweils folgenden Seiten werden sie von einer/einem von neun Illustrator*innen verbildlicht. Nicht nur die Augen, sondern auch die Ohren werden angesprochen und so lassen sich auf der Verlagsseite ausgewählte Gedichte auch in musikalischer Interpretation entdecken.
Der Fokus dieses Buches liegt ganz klar auf dem Erleben der Texte, dem „Erspüren [des] emotionalen Kern[s]“. Sprache dient nicht nur als Mittel zum Zweck, sondern wird zum dynamisch-lebendigen Spiel. Die Texte laden zum Weiter- und Mitdenken ein. Möglichkeiten zur Interpretation bereichern durch Illustration und musikalische Umsetzung das Werk und schaffen genügend Freiraum, um die Leser*Innen selbst auf Fantasiereise zu schicken. Die Kinder werden als Zielgruppe ernst genommen, die auch unterhalten werden will. Nie wird unnötig der moralische Zeigefinger erhoben. Ein Konzept, das Potential bietet für die großen und die kleinen Dichter*Innen, Maler*Innen, Sänger*Innen und Tänzer*Innen und deshalb am Besten gemeinsam erlebt wird.
Die Illustrationen in Lyrik-Comics sind mehr als nur visuelle Begleitung der Gedichte, sie öffnen Bildräume, geben Atmosphäre, Stimmung oder Handlung wieder, unterstützen das Gedicht, lassen sich aber auch unabhängig vom Text betrachten und durchstöbern.
Die bildlichen Übersetzungen der Gedichte wurden von den neun Illustrator*Innen auf unterschiedlichste Weise gelöst. Während einige Illustrationen comicartig die einzelnen Handlungsschritte visualisieren, die sich von links nach rechts und oben nach unten anschauen lassen, laden Wimmelbilder zum Verweilen, kreuz und quer Schauen und immer wieder neu Entdecken ein. Die detailreiche Doppelseite von Max Fiedler zum Gedicht Unterm Rasen von Josef Guggenmos bietet ein gutes Beispiel. Hier wurde eine ganz eigene Welt abgebildet, in der man sich beim Betrachten verlieren, sich an Saxophon spielenden Käfern und an Hut tragenden Würmchen erfreuen kann.
Stilistisch ist bei den Bildern von pop art inspirierter Grafik bis zarter Aquarellzeichnung alles dabei. Nicht jedes Kind wird von jeder Illustration gleich begeistert sein, doch die Bandbreite der möglichen Rezeptionen macht den besonderen Wert dieses Buches aus. Eine schöne Idee wäre gewesen, ein Gedicht mit leeren Seiten an das Ende zu setzen, in denen Leser*Innen die Möglichkeit geboten wird, ganz frei ihre eigene Illustration zu dem Gedicht zu gestalten. Mit einem Stift, einem leeren Blatt Papier und ein bisschen Mut kann man sich an der gemeinsamen bildlichen Interpretation versuchen.
Nicht nur beschwingende Illustrationen von Gedichten können in Lyrik-Comics bewundert werden, sondern auch ihre klangliche Interpretation findet einen Platz. Denn ein Gedicht will vorgelesen, interpretiert, gesungen, gemurmelt, gesprochen, herausgeschrien und geflüstert sein. Warum nicht auch musizieren?
In das „wuhuuu“ macht Merle Weißbachs jugendhafte Stimme den Anfang, bevor der Nacht bringende Gefährte über die Seiten eines Kontrabasses und Cellos gleitet. Der Sonnenuntergang wird zu einer kontinuierlich herabfallenden Tonfolge, die bei Abflug des von Arne Rautenberg erfundenen wuhuuus in ihr Gegenteil verkehrt wird. Am Ende des Gedichts, bei Anbruch des Morgens, wird das Verschwinden unseres Gefährten im Flüsterton angekündigt. So nehmen die Dinge ihren Lauf. Aber keine Angst, das wuhuuu hat sich nicht in Luft aufgelöst, am Abend kommt es wieder und läutet schwingend die Traumstunden ein.
In „Manchmal“ werden die Zuhörer*Innen augenblicklich in den tuckernden, quietschenden, knacken- und knallenden Rhythmus hineingesogen. Die warme Stimme Jörg Isemeyers lädt fröhlich zum dableiben ein. Doch dann, der Stimmungswechsel: die Luft ist raus, was vom wirren, lustigen Radau bleibt, sind die Gitarre, einige Töne auf dem Glockenspiel und Jörgs Stimme, die uns erklärt, dass Kinder manchmal einfach alleine sein möchten. Und das ist okay so. Die weiteren neun Lieder sind auch jedes auf seine Art Unikate, die die in den Gedichten verankerten Gefühle für Ohren jeden Alters hörbar machen. Die Inhalte über das wilde Leben und wie es manchmal so spielt, werden über diese melodische Umsetzung mit einer Leichtigkeit versehen, die auch die zähesten Vorlesestunden zu einem abendlichen Vergnügen werden lässt.
So bietet Lyrik-Comics auf verschiedensten Ebenen des sinnlichen Erlebens, aber auch mit unterschiedlichsten künstlerischen Herangehensweisen Zugänge zum Entdecken, Erleben, Diskutieren, Genießen, aber ebenso zum Nachmachen, Mitmachen und Selbstmachen.
Lyrik hat oft den Ruf, schwer verständlich zu sein oder zu unklar und bedeutungsgeladen. In diesem Buch, das mehr als ein Gedichtband ist, wird mit diesen Vorurteilen aufgeräumt, indem man sich selbst Herr*In über die Lyrik macht und sie nach der eigenen Pfeife tanzen lässt. Eine so leicht zugängliche Lyrik, die Familien gemeinsam genießen, wird oft zur Tradition, wie die Schlaf- oder Wanderlieder, die viele von ihren Eltern kennen. In Lyrik-Comics wird eine modernisierte Reihe ausgewählter Gedichte präsentiert, die mit neuen Geschichten, viel Witz und Gefühl zur Tradition für junge Familien werden kann. Eine schöne Vorstellung, bei Spaziergängen mit der Familie immer wieder auf den fels sollte man hinauf nach Vertonung von Lionel Tomm anstimmen zu können und alle singen gemeinsam.