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Zwischenräume: „Gegen Morgen“ von Deniz Utlu

  • 14. März 2020
  • S. Diekmann
Gegen Morgen - Deniz Utlu
Gegen Morgen – Deniz Utlu
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Beim Aufschlagen der ersten Buchseite des Romans „Gegen Morgen“ von Deniz Utlu kam es mir vor, als öffnete ich stattdessen eine Dose mit verschiedenen Kräutertees, deren Gerüche mir ohne Vorwarnung entgegenschlugen. Es gab Aromen, die gut rochen, manche die enttäuschten, einige, die ich wirklich mochte, und andere, die bitter waren. Viele erschienen mir wie Gesundheitstees, hilfreich gegen eine Krankheit, die ich nie hatte. 

Und eben so, als wäre es ein wichtiges Medikament, wurde dieses Buch überall von mir herumgetragen. Dennoch kam es mir bis zum Ende so vor, als ob ich es durch die konkrete Aufmerksamkeit, die ich darauf richtete, zweckentfremdete, als ob seine Aromen entschwinden würden, desto mehr ich mich darauf konzentrierte.

Das Coverdesign von Rothfos & Gabler, Hamburg setzte ich mit dem Titel in Verbindung, Farben, die an einen Sonnenaufgang erinnerten, an einen neuen Tag. Ich hinterfragte den Zusammenhang zwischen Cover und Inhalt, der Darstellung von zerrissenem, unebenem Papier auf dem Umschlag und sah das „Gegen“ im Titel, als mögliche Anti-Haltung.

Der Roman ist eine Untersuchung zur Zeit, schlägt überwältigende Wellen aus Momentaufnahmen, die durch unsichtbare Löcher in die Gegenwart fließen, untersucht zwischenmenschliche Beziehungen und Emotionen, Realität, Illusion und den Rand des Wahnsinns, hinterfragt Freundschaften und begleitet den Protagonisten auf seiner Suche nach sich Selbst.

Der Protagonist Kara, dessen Name erst auf Seite 46 zum ersten Mal erwähnt wird, hat Volkswirtschaft in Berlin studiert und arbeitet für eine Versicherungsfirma, für die er die Kosten eines Lebens berechnen soll. Man begleitet Kara durch seinen Alltag, durch eine Gegenwart geprägt von seinen Erinnerungen und Erfahrungen mit Vince, Nadia und Ramón, alten Freunden aus der Studienzeit.

Kara erschien mir durch sein „Drängeln“ und seinen willkürlichen Vergleich des Sitznachbarn im Flugzeug mit einer „Echse“ zu Anfang des Romans unsympathisch. 
Bis zum Ende des Romans nahm ich ihn als selbstbezogen und egoistisch wahr, als in Bereuen, Widerwillen und Selbstmitleid versunken. Immer zwischen „Feigheit oder Gleichgültigkeit“.
Ich sah den Protagonisten Kara als sich nahezu spiralförmig selbst umkreisend, wie ein Zugvogel, der durch den ewigen Flug außerstande ist zu landen.

Mich störte seine melodramatische Ausdrucksweise, die Art, wie Kara normale, alltägliche Erlebnisse beschreibt, als wären sie etwas Traumatisches, z.B. „Stunden meiner Kindheit sind an den Gepäckbändern dieses Terminals vergangen“, wie er viele seiner Erinnerungen an Vergangenes idealisiert und sich so eine glatt gebügelte Welt erschafft. Dann verschwimmt alles zurück zur Realität oder dem Anschein einer Realität.

Kritisch empfand ich die Darstellung des Charakters von Karas Mutter. Sie ist eine eindimensionale, stereotype Figur: Sie umarmt ihn, kocht Essen, ist alleinerziehend und traurig, seitdem der Vater die Familie verlassen hat. Vielmehr ist sie nicht. Kara hat Mitleid mit ihr und fühlt sich schuldig, da er ihr sein Leben lang nicht seine volle Aufmerksamkeit gewidmet hat.
Dieses Bild wiederholt sich auf ähnliche Weise später noch einmal, bei der Mutter von Ramón. Auch wenn eine Entfremdung im Kontext der Handlung Sinn ergibt, hätten die Mütter als Charaktere wesentlich tiefer und mehrdimensionaler sein können. 

Einige Eigenheiten des Romans, wie die sehr visuellen Charakterbeschreibungen und die damit einhergehende Symbolik wirken aber beeindruckend, beispielsweise das geisterartige Auftreten von Ramón in seiner Daunenjacke, in der er Platz einnimmt, die ihn aber gleichzeitig herunterdrückt und ihn in einer Landschaft von anderen Menschen zum Fremdkörper werden lässt. 

Karas Bekannter Ramón ist ein wichtiger Bestandteil und eine zentrale Figur des Romans, bleibt aber dennoch bis zum Ende ein Mysterium, bewegt sich im Schatten, taucht mehrfach auf und verschwindet wieder. Für Kara scheint Ramón Schuld zu verkörpern und Mitleid, den Fall aus der Gesellschaft bzw. dem Leben. Mehrfach betont er, dass es nie jemanden interessiert hat, wie es Ramón geht, dass dieser noch nie eine Freundin hatte. Dabei erscheint der Tod Kara und Ramón die Wurzel von allem zu sein, ein thematischer Fokus, was sich hinsichtlich ihrer Gespräche zeigt, da sie von Belanglosem immer wieder darauf zurückkommen.

Einige Beschreibungen gleichen in ihrer Bildlichkeit Filmszenen, manche erinnern an Horrorfilme, z.B. die Beschreibung von Karas Mutter: „Sie hat den Kopf gehoben und starrt mich an. Ihre Augenhöhlen wirken noch größer im Dunkeln (…) Mutters Schatten löst sich vom Tisch, sie huscht aus der Tür. Der Wasserhahn in meinem Rücken tropft. Im Spiegel ihres Schlafzimmers steht Mutter im Kerzenschein bewegungslos vor mir, ihr Körper in leichter Spannung wie am Ende eines Tanzes. Der Schatten unter ihren Augen und ihrer Stirn ist unverändert.“. 

Eine weitere Stelle erinnert an Stephen Kings Novelle „1922“, greift Themen wie die geisterartige Verfolgung durch Verstorbene und Paranoia auf, sowie das Gefühl, unter jeder Diele, in jeder Fuge sei etwas versteckt: „Ich falle nach Hause. Auf die Dielen, abgeschliffen, lackiert, sie verlaufen quer zu meinen Beinen. In ihren Fugen wohnen Tiere.“, „Meine nackten Füße frieren, ich schleife sie über die Fugen, locke meine Haustiere an. So sieht das Jenseits aus. Wer mit dem Flugzeug stirbt, kommt in das ausgeräumte Zimmer seines besten Freundes. Er irrt auf ewig durch seine alte Wohnung.“. Es entsteht ein Eindruck von Bedrohung, vom Anlocken einer stillen Gefahr.

Auch, dass Zeit und die Suche nach Sinn und Bedeutung zentrale Motive sind, wurde an vielen Stellen deutlich. Das zeigt sich einerseits anhand der Handlung, durch Karas Gedanken, die ständig in einem Zwischenraum von Handeln und nicht Handeln kreisen, sowie durch die Vergegenwärtigung des Todes. Andererseits werden diese Motive durch Assoziationen und verschiedenste Symbolik verdeutlicht, z.B. eine verdorrte Pflanze als Sinnbild für vergangene Freundschaft.

Die Gegenwart hängt über der Vergangenheit in der Schwebe, genau wie die Beziehungen zu Karas alten Freunden Nadia und Vince. Und auch bei der Vorstellung der Zukunft verschmilzt die Gegenwart mit Fiktion zu einem klebrig verwobenen Netz, wird zu einem Jammerlied von Erinnerungen, aus denen es kein Entkommen gibt.

Kara spricht vom Alter, Reihenfolge, gesellschaftlich festgelegten Handelsabläufen und der Einstellung: „Erst sterben, dann leben“ (S.15). Ebenso tragen Karas Erinnerungen, die sich wie durcheinander gewürfelte Memoiren lesen und die Wechselhaftigkeit von Ort- und Zeit zu dieser Thematik bei. Dabei wird ein sich drehendes Gefühl erzeugt, eine Schnelligkeit, eine traumartige Orientierungslosigkeit. Mal ist da tiefe Trauer, mal wird all die Dramatik beinahe zur Existenzkomödie, etwa als Kara meint, er würde sich für einen Kuss von Nadia die Mandeln entfernen lassen. Dabei fühlt man sich teilweise vollkommen entfremdet zu Themen, Handlung und Protagonist und mal, als würde man mit Kara auf diesem Sprungbrett zwischen Nostalgie und Krise balancieren.

Zum Schluss bleiben für mich viele ungeklärte Fragen, Vermutungen die sich türmen, Frustration über die Charaktere, das Leben und die Handlungsunfähigkeit. Das Gefühl, die Wahrheit gefunden zu haben, aber nie eine Bestätigung darüber zu bekommen.
„Gegen Morgen“ ist ein Roman der sich weigert zu enden, ein offener Atemzug ohne Luft, ein unausgesprochenes Wort, das Weiterleben als Konzept.
Und damit schließe ich das Buch und reiche die Teesorten weiter, die ich nicht schmecken konnte und solche, die ich nicht öffnen wollte.

Bild mit freundlicher Genehmigung von Suhrkamp
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S. Diekmann, Berlinerin, Studentin. Ihre Kurzprosa und Lyrik sind in verschiedenen Anthologien zu finden.

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