Zu Beginn der Geschichte, beim Besuch bei ihrer Cousine Adile, denkt Huzur darüber nach, wie es wäre, ein Kind zu haben. Ihre Antwort ist: Wie Entfremdung. Egal, ob sie ein Kind in der türkischen Kleinstadt Bucak oder im deutschen Berlin Dahlemdorf aufziehen würde ( „Auf keinen Fall Wedding“, würde ihr Freund Raphael sagen ). Und außerdem: Erst einmal das Referendariat beenden. Das Referendariat, das für Huzur den sozialen Aufstieg bedeutet. Das Referendariat, von dem sie zurzeit suspendiert ist. „Kopftuchgate“ nennt Huzur den Vorfall. „Eklat im Lehrendenzimmer wegen Kopftuch“ nennen es die Zeitungen am nächsten Tag.
„Wieso fanden sie das diskussionswürdig? Alle im Raum wussten, dass Frau Müller rassistisch war.“
Das Kopftuchgate ist nur eine Weitere in der langen Reihe von Mikro-, Makro-, oder auch einfach nur Agressionen, mit denen Huzur aufgewachsen ist. Sie erinnert sich an einen Vorfall im Penny, der ihr Leben, wie Autorin Nadire Biskin schreibt, in ein Davor und ein Danach unterteilt: Die Kassiererin, die zu Huzur und ihrer Mutter weder Hallo noch Bitte sagt, zu einer blonden Kundin jedoch beides.
„Sie beschloss in diesem Augenblick, sie wollte, wenn sie groß war, nicht auffallen wie die Mutter und von den Kassiererinnen dieser Welt ein Guten Tag, einen Betrag und ein Bitte hören.“
Huzur arbeitet hart dafür, nicht aufzufallen. Das Hallo und das Bitte hört sie jetzt, mit Ende zwanzig, trotzdem nicht.
Wieder zurück in Deutschland sieht Huzur sich erneut mit Fragen von Kindern und Entfremdung konfrontiert, dieses Mal allerdings in Form der zehnjährigen Hiba: Ein syrisches geflüchtetes Mädchen, welches Huzur am Flughafen aufliest. Ein Mädchen, das ihr ein Spiegel ist. Ein Mädchen, welches sie zu sich nimmt, eine Handlung, für das ihr Umfeld sie zu Rechtfertigungen zwingen will – für das sie sich vor allem den Übergriffigkeiten der Eltern ihres Freundes Raphael aussetzen muss.
Denn ihre Umfelder erlauben Huzurs Identität keine Komplexität. Nadire Biskins schon. Nach und nach entblättert sie Huzurs Schichten vor den Leser*innen, wobei Ein Spiegel für mein Gegenüber mit einer Poesie geschrieben ist, die dafür sorgt, dass Sätze selbst noch Tage, nachdem man das Buch zugeklappt hat, nachhallen. Die Lektüre hinterlässt offene Fragen und Fäden, weil Huzur offene Fragen und Fäden hat: An ihr Umfeld, an sich selbst, an ihr Leben und ihre Zukunft.
„Huzur fühlte sich nicht als Individuum wahrgenommen, sondern als Teil eines »Ihr«, eines Kollektivs, mit dem ihr Gegenüber, so ihr Eindruck, nur unter Polizeischutz Kontakt hätte haben wollen. Sah Huzur morgens in der Bahn auf dem Weg zur Schule auf ihrem Smartphone, dass der Islam, Islamismus, der Wedding, die Türkei wieder für Schlagzeilen in Deutschland sorgten, hoffte sie inständig, nicht in der Schule darauf angesprochen zu werden.“
Huzurs Geschichte ist eine von Identität. Identität, die sie sucht, Identität, die ihr verwehrt wird, Identität, die ihr von außen auferlegt wird, Identität, die als erstrebenswert gilt, Identität, die von ihr eingefordert und auf sie projiziert wird. Huzur befindet sich in einem Zugehörigkeits-Limbo. Weder in der Türkei noch in Deutschland Zuhause.
„Sie weiß selber nicht, wer sie ist: Ich bin die, die nicht von hier und nicht von dort ist. Ich spreize meine Beine zu einem Spagat zwischen zwei Stühlen und versuche, die Stühle auf diese Weise näher zu rücken, bis ich gerade auf ihnen stehen kann.“
Nadire Biskin beschreibt die Einsamkeit, die der soziale Aufstieg mit sich bringt, die Arten, in denen Bildung weh tut. Denn von was „steigt“ man denn auf? Und wohin? Wofür? Was lässt man zurück? Was „hat“ man zurückzulassen?
„Ich tue so, als käme ich mit jedem klar, dabei bin ich eine Einzelgängerin. Ich tue so, als hätte ich es geschafft. Dass ich nicht lache, was habe ich denn geschafft? Eher bin ich erschaffen in den Köpfen der Menschen.“
Nadire Biskin ( *1987 ) wuchs in einer Arbeiterfamilie in Berlin- Wedding auf. Nach dem Abitur studierte sie Philosophie, Ethik und Spanisch. Während ihres Referendariats arbeitete sie zum Thema diversity and inclusion in the classroom in San Antonio, Texas. Sie forschte mehrere Jahre zu Sprachbildung und Mehrsprachigkeit und arbeitet als Lehrerin. Ihre Texte erschienen in zahlreichen Magazinen. Ein Spiegel für mein Gegenüber ist ihr erster Roman.