Roman von Lene Albrecht
Tag 1
Das Wasser auf dem Einband glitzert mir blau von meinem Nachttisch entgegen. Ich würde das Buch gerne noch einmal lesen, aber ich will den Nachklang nicht zerstören. Seitdem ich es beendet habe, fühle ich mich als würde ich schweben. Die Worte sind wie Wasser, das sich schützend um mich legt. Eine Woche bin ich in dieses Buch eingetaucht. Zwar habe ich inzwischen wieder Luft geholt, aber ich fühle mich noch nicht bereit, das Wasser endgültig zu verlassen. Zu sehr bin ich von Linn und Lailas Geschichte eingenommen.
Ich habe jede Seite aufgesogen und dann war Schluss.
Das Ende ließ mich leer zurück. Was machen sie jetzt wohl? Ich denke oft darüber nach.
Tag 2
Ich sollte ein anderes Buch lesen, aber ich kann nicht. Ich möchte noch nicht, dass die Erinnerung verwischt. Die zwei Mädchen begleiten mich jetzt überall.
Wir.
So heißt der erste Teil des Buches. Ich fühle mich, als würde ich jetzt auch zu diesem ‚Wir‘ gehören.
Ihre Präsenz ist so dominant, dass alles andere in den Hintergrund tritt und verschwimmt. Wenn ich durch die Stadt gehe sehe ich Freundinnen, die die Arme umeinandergeschlungen haben und unbeschwert wirken. Unbeschwert war die Freundschaft zwischen Linn und Laila nie, dafür umso intensiver. Keine Freundschaft ist für Linn mehr so innig wie die mit Laila. Laila, die sie so unvoreingenommen geküsst hat. Laila, mit der Linn sich ihr Kinderzimmer geteilt hat, als ihre Familie sie nicht aufnehmen konnte. Laila, die bis dato in jeder von Linns Erinnerungen existierte. Fast wie eine Schwester.
Im Vergleich dazu bleibt alles, was nach Laila kommt oberflächlich und unbedeutend und scheint sich nicht mit ihr messen zu können.
Tag 5
Habe in meiner Kommode heute einen lila Lippenstift gefunden und musste daran denken, wie Laila und Linn mit so einem „SOS“ an die Fensterscheibe der Großmutter geschrieben haben und gewartet haben, was passiert. Wie ich selbst angespannt war und gewartet habe, wer es zuerst entdeckt: Jemand von draußen oder die Großmutter.
Tag 7
Als ich das Buch heute ins Regal räumen wollte, habe ich den Klappentext erneut gelesen. Ich hatte ihn am Anfang kaum beachtet. Im Nachhinein bin ich überrascht, was beschrieben wird. Das Berlin der Nachwendezeit spielte für mich keine wichtige Rolle, prägend war nur das Problemviertel, in dem die Geschichte sich abspielt. Ich denke an die Berichte von Junkies, daran, dass alle sich bei dem Brand sofort damit zufrieden gaben, die Schuld auf
einen wütenden Drogensüchtigen zu schieben und ich denke an die Schaukel im Hinterhof, die leicht vor und zurück schwingt, während die jugendliche Malvina einem Jungen dort einen Blowjob gibt. Obwohl das Buch poetisch ist, ist es auch gleichzeitig unfassbar real.
Nach allem, was Linn und Laila erleben wirkt die Lage aussichtslos. Jeder Versuch das Erlebte zu verarbeiten schlägt fehl. Irgendwann hören die beiden auf von einem schöneren Ort, vom gemeinsamen Haus am Strand zu träumen, um der Realität zu entkommen und ergeben sich der Realität. Und irgendwie scheint die Trennung daher unvermeidlich und ganz natürlich… Aber ist sie das wirklich?
Tag 11
Ich war heute seit langem mal wieder schwimmen. Das Buch hat mich dazu gebracht. Im Wasser hatte ich eine besonders markante Szene wieder direkt vor Augen. Die erwachsene Linn im Schwimmbad. Verknüpfung von Gegenwart und Vergangenheit, der Kern des Romans, ist hier besonders prägnant. Die erwachsene Linn, die über die damalige Freundschaft reflektiert, darüber, ob der Ausgang vorbestimmt war.
„Ob es unausweichlich ist, dass man sich gegenseitig etwas wegnimmt, wenn man so nah beieinander ist. Platz, Luft oder die Sicht, bloß, weil man da ist.
Weil man zu viele ist an diesem Ort.
Oder weil man gewohnt war, vorher allein zu sein.“
Linns Verhalten als Erwachsene wird dadurch so nachvollziehbar.
Die Distanz, die sie sogar zu den engsten Menschen in ihrem Leben behält so greifbar.
Tag 17
Es regnet schon den ganzen Tag. „Im Fenster“ heißt der zweite Teil des Romans. Auf der anderen Seite der Scheibe sehe ich, wie Linn und Laila lachen und tanzen. Sie wirken frei. Als sie mich bemerken schauen sie mich eindringlich an und führen dann ihre Show auf. Das Fenster gewährt nicht nur Ausblicke sondern auch Einblicke. Ich habe das Gefühl den Mädchen in ihrem Kinderzimmer ganz nah zu sein.
Tag 22
Ich schrecke hoch, denn irgendetwas hat an meine Fensterscheibe geklopft, aber draußen ist es dunkel. Vermutlich war es nur ein kleines Insekt, dass gegen das Glas geprallt und zerplatzt ist, aber ich muss an den Vogel denken, der gegen das Fenster der schwangeren Linn geflogen ist. Die sucht den Vogel draußen im Hof vergeblich und geht schließlich wieder hoch in ihre Wohnung.
Und ich bin immer noch beeindruckt, wie harmonisch die Verknüpfung zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zwischen dem Vogel und Laila, die nach einem Verrat spurlos verschwindet, hier gelungen ist.
Tag 35
Je näher ich ans Ende komme, umso dreidimensionaler werden alle anderen Beziehungen. Vielleicht weil der Fokus jetzt nicht mehr auf Laila liegt und so mehr Raum für andere bleibt. Jetzt, wo ich mich an die Anwesenheit der beiden Mädchen gewöhnt habe, verblassen sie immer mehr in meiner Erinnerung und verschwimmen mit dem Alltag. Vielleicht ist ihre Geschichte für mich gerade deshalb so authentisch. Die Erinnerungen sind nur Fragmente. Die Übergänge zwischen Realität und Fiktion fließend und nicht klar erkennbar. Man weiß nicht, was nun echt ist, und genau so geht es auch Linn.
Es wird nicht ganz auserzählt und das ist auch gut so. Dennoch bleiben die Fragen: Was ist aus Laila geworden? Wie geht es mit Linn weiter? Und werden sie sich wiederfinden?
Von Zeit zu Zeit denke ich an die zwei Mädchen zurück. Und an die erwachsene Linn, die inzwischen fest im Leben steht und wünsche ihr, dass es ihr gut geht.