Rosa kannte die merkwürdigen Blicke, die ihr ein paar Mitschüler zuwarfen, nur zu gut. Sie wusste auch, warum man ihr auf dem Gang mehr Aufmerksamkeit schenkte als anderen Mädchen. Sie wusste wieso, aber sie verstand es nicht.
Verlegen senkte Rosa ihren Kopf und ging schnurstracks auf ihren Spind zu, als sie das Kichern von Clara, Anna & Sophie hörte. Mit den Dreien hatte sie bis vor ein paar Wochen noch gemeinsam, jeden Mittag am selben Tisch gesessen und mit ihnen gelacht. Doch jetzt machten die drei einen großen Bogen um sie und Rosa saß meistens alleine beim Mittagessen.
Mit feuchten Augen versuchte Rosa, die Zahlenkombination für ihre Tür einzugeben. Doch es wollte ihr nicht gelingen, ihr Blick war einfach zu verschwommen.
„Willst du ein Taschentuch?“, sagte jemand neben ihr.
Rosa hörte ein Rascheln und wischte sich hastig die Tränen aus ihren Augen. Als sie sich umdrehte sah sie einen Jungen, der gerade das Tuch aus einer Plastikverpackung zog und es ihr hinhielt.
Rosa bewegte sich erst nicht, zu groß war ihre Angst, ein blöder Streich könnte sich dahinter verstecken.
Doch nach einigen Sekunden war sie sich sicher, den Jungen mit den braunen, unordentlichen Haaren und dem Leberfleck auf der rechten Wange noch nie gesehen zu haben. Die Schule war so klein, dass sie alle Kinder kannte, die sie besuchten.
Er musste also neu an der Schule sein. Eine kleine Überraschung mitten im Schuljahr.
„Hier, nimm schon.“ Seine Worte waren ehrlich.
Rosa lächelte schwach, dann nahm sie es an.
„Danke“, flüsterte sie und trocknete auch den Rest ihrer Tränen.
„Ich bin übrigens Marlo“, sagte er freundlich und streckte ihr die Hand entgegen.
Rosa nahm sie an.
“Und ich heiße Rosa.”
„Warum weinst du denn?“
Rosa hob die Schultern. Einem Fremden wollte sie nicht gleich von den Problemen erzählen, die sie seit der letzten Schulfeier plagten.
Es war die erste Feier, an der ihre beiden Väter teilnehmen konnten. Sie hatten sich bereit erklärt, einen Kuchenstand zu übernehmen.
Rosa fand ihren Stand den allerbesten. Sie hatten den leckersten Erdbeerkuchen und die fruchtigsten Blaubeermuffins. Und Max und Jim waren die besten Verkäufer gewesen, aber dann hatte Clara etwas Gemeines gesagt.
“Rosa, was hast du denn angestellt, um bei den Lackaffen zu landen? Sind das deine zwei Papas oder was?”
Und schon hatte sich Carlas Mama eingemischt.
“Zwei Männer? Wie wollen die das nur richtig hinkriegen? Das arme Mädchen ist doch total in den falschen Händen.”
Rosa verstand das alles überhaupt nicht. Aber es war ihr auch egal, denn seit dem Kuchenverkauf wollte niemand mehr mit ihr essen oder spielen. Und das machte Rosa traurig.
Rosa hatte mit ihren Eltern über den Tag geredet. Sie hatten ihr gesagt, das sie jetzt Stärke zeigen sollte. Das sie Clara und die anderen zur Rede stellen und sich mit ihnen aussprechen sollte. Doch das hatte Rosa sich bisher nicht getraut, zu groß war ihre Angst, danach immer noch alleine zu sein.
„Nicht so wichtig“, sagte Rosa schließlich zu Marlo.
„Lass die doch ruhig lachen, die Hühner dahinten!”
Rosas Wangen färben sich rot, als Marlo die Worte ziemlich laut in den Gang rief, und Clara und ihre Freundinnen sich daraufhin zu ihnen umdrehten.
Sie tuschelten und starrten Marlo dabei an, genauso wie sie es mit Rosa dauernd machten.
Aber nun musste Rosa plötzlich kichern. Denn Marlo war es anscheinend völlig egal, wenn die anderen komisch guckten.
Und das löste etwas in Rosa aus, ein Gefühl von Erleichterung. Sofort fühlte sie sich nicht mehr so alleine.
„Wird bestimmt noch lustig der Neue zu sein.“ Marlo schulterte seinen Rucksack und stieß den Atem aus.
„Es gibt Schlimmeres, glaub mir.“ Rosa seufzte.
„Nicht, wenn du zwei Mütter hast“, erklärte er.
Rosas Lächeln kehrte sofort zurück, diesmal breiter.
Zuerst schien sie nicht zu wissen, wieso sie lächeln musste.
Doch dann machte es Klick. Sie brauchte wirklich nur einen einzigen Marlo, um sich nicht mehr alleine zu fühlen. Und vielleicht ging es ihm ja auch so. Immerhin war er ganz neu in der Schule.
„Weißt du was? Ich habe auch zwei Väter, fast so wie du”, offenbarte Rosa. Da fing Marlo an zu lächeln, so herzlich, dass es Rosa ganz warm wurde. Von da an wusste Rosa, dass sie einen guten Freund gefunden hatte.
