(Biller nicht Hitchcock)
Aus den Fenstern meines Kinderzimmers in der Feldstraße 49, schaue ich aus dem vierten Stock auf das Heiligengeistfeld. Auf dem riesigen Platz, zwischen Bismarck Denkmal, Millerntorstadion und Bunker, stehen, (wenn nicht grade blinkender Dombetrieb ist), nur vereinzelnd parkende Autos. Die leere, grau betonierte Fläche mitten in der Innenstadt erstreckt sich über 23 Hektar und war ehemals im Mittelalter ein Armenfriedhof. Daher der Name “Heiligengeistfeld“.
Während des zweiten Weltkrieges wurden zahlreiche Juden aus Hamburg, vor ihrer Deportation, im Sammellager hier zusammengeführt. Später war der Platz ein beliebtes Ziel der Alliierten für Luftangriffe auf die Stadt und da immer noch ab und an nicht detonierte Blindgänger unter der Erde des Platzes liegen, wurden meine Familie und ich öfters wegen Bombenentschärfungen nachts von der Polizei herausgeklingelt und evakuiert. In Schlafanzügen wurden wir die Treppen heruntergetragen, mit dem Taxi ins Grindelviertel kutschiert, dort herzlich von Freunden meiner Eltern empfangen und am nächsten Morgen mit einem Frühstück und Blick auf die Rothenbaumchaussee geweckt. Wo sich außerdem das Abatonkino befindet und einige Restaurants und Bars die ich bis heute gerne besuche.
Wenn in Maxim Billers Roman „Mama Odessa“ die beiden Protagonisten Mischa und seine Mutter Aljona unaufhörlich aus Altbauwohnungen heraus durch Fenster, auf die deutsche Stadt Hamburg in der sie nicht ankommen, schauen, dann bin ich angehalten, meine kindheitsbesetzten Orte neu zu erleben. Dann mischt sich da so etwas wie Zeitgeschichte hinein und bewirkt ein seltsames Gefühl des gleichzeitigen Verbunden- und Fremdseins in mir.
„Mama Odessa“ erzählt von der jüdischen Familie Grinbaum, die aus Odessa nach Hamburg flieht, aufgrund eines KGB Angriffs der eigentlich Mischas Vater „wegen seiner zionistischen Spielchen“ gilt, jedoch seine Mutter trifft. Angekommen im Hamburger Grindelviertel, in dem nur noch wenig an die jüdische Vergangenheit des Viertels erinnert, verlässt Mischas Vater die Familie wegen seiner neuen „Nazi-Hure“, (so der Wortlaut der Mutter) und lebt seine unerfüllte Israel-Sehnsucht andernorts aus.
Zurück bleiben der Schriftsteller Mischa und seine sterbende Mutter, selbst Schriftstellerin, die von Biller immer in Gegensatzdichotomien charakterisiert wird.
Trotz des permanenten Ausstellens von Widersprüchlichkeiten in der Mutterbeschreibung, sublimiert Biller durch das manische Aufschreiben und dadurch Wiederaufleben der Mutter die komplexe Natur ihrer Persönlichkeit und es überwiegt der Eindruck der tiefen Liebe, die dennoch alles übersteigert.
Die Figuren sind in autofiktionaler Manier, nah an Maxim Biller und seine echte Mutter angelegt: die Schriftstellerin Rader Biller, die 2019 gestorben ist.
Die Beziehung der beiden wird erzählt über Briefkontakte, (teilweise Briefe die Mischa erst nach ihrem Tod in ihren Schreibtischschubladen findet), und eine Vielzahl an Dialogen die bei Besuchen oder über Telefonate, (selbstredend abermals mit Blick aus dem Fenster) stattfinden und bei denen es fast immer ums Schreiben geht. So wirft Mischas Mutter ihm vor, er würde sich an den Lebensgeschichten seiner Eltern bedienen. Und Mischa stellt für sich fest:
„Mama wurde als Schriftstellerin geboren, aber sie wurde es zu spät, um wirklich eine zu werden.“
Oder:
„Jetzt war die Wirklichkeit, anders als bei einem Zirkusartisten, mein Trapez und mein Sicherheitsnetz zugleich.“
Das Buch ist ein ständiges Aushandeln von Wahrheit und Fiktion.
„Aber was heißt hier wahr oder nicht wahr? Als ob es darum jemals im Leben und auch sonst gegangen wäre.“
Mischa ist ein absolut egozentrischer und eitler Kerl. Bei manchen Textstellen bekommt man es mit dem kalten Schweiß zu tun, wenn einem das Selbstbild des Protagonisten Mischa entgegen schreit. Wenn er zum Beispiel demonstrativ über einen schiefen Poller im Grindelviertel springt und sich in Gedanken selbst abfeiert für respektlose Interviewkommentare über Handke und Novalis, seine „traurigen Emigrantenromane“ und dass er es schafft mit nur sieben Fragen einem fremden Menschen „so tief in die Seele zu dringen wie es nicht einmal seine besten Freunde tun würden.“
Oder wenn Mischa aus seinem Kinderzimmerfenster aus der Bieberstraße 7, selbstverliebt auf den Innenhof der Kammerspiele schaut, dessen Pausenpublikum er mit einem Klavierkonzert erfreut.
Sich selbst als Sohn, Schriftsteller und Mann verschont er also nicht in der Beschreibung. Man kann Mischa durch die Offenlegung seiner Eitelkeit fast gern haben, wären da nicht diese schablonenhaften und oberflächlichen sexuell aufgeladenen Frauenbeschreibungen. Zwischen denen seine Mutter allerdings, als mehrdimensionaler Mensch greifbar wird. Im Gegensatz zu der berührenden Beschreibung des Sterbens der Mutter, irritieren diese Textstellen auf konstruktive Weise. Der Protagonist flirrt zwischen unsympathisch und extrem ehrlich.
Mischas Mutter Aljona schaut, wenn sie nicht grade in der Küche Patiencen legt, oder auf ihrer „großen roten Rolf Benz Couch“ raucht, durch ihr Fenster, ebenfalls auf einen großen, leeren Platz, neben dem Abaton Kino, mit parkenden Autos und wahllos angeordneten Veranstaltungszelten. Nur mit dem Unterscheid, dass hier bis 1938 eine große portugiesische Synagoge stand. Und gleich daneben, die immer noch vorhandene Talmud-Tora-Schule. Davor eine endlose Reihe niedriger Absperrpoller, die die Kinder und Lehrer vor Anschlägen mit Autobomben schützen sollten.
„Was meine Eltern nicht wussten, und was auch die meisten Deutschen nicht ahnten, die damals zwischen Rothenbaumchaussee, Hochallee und Rutschbahn wohnten: Das Grindelviertel, das unser neues kleines Odessa wurde, war vor dem Krieg voll mit Synagogen, koscheren Kantinen, und Rabbinerschulen gewesen.“
Bei Maxim Biller ist der Blick aus dem Fenster kein voyeuristischer wie bei Hitchcock sondern ganz im Gegenteil; einer der nicht andocken kann.
Biller verwebt anachronistisch und assoziativ in kurzen Kapiteln, 3 drei Genrationen jüdischer Geschichte: das sowjetische Odessa im zweiten Weltkrieg, in dem sein Großvater dem Nazi Massaker an den Juden der Stadt 1941 entkommen ist, die Fluchtgeschichte seiner Eltern, seine eigene Kindheit in Odessa und die Gegenwart des Schriftstellers Mischa in den deutschen Metropolen Hamburg, Berlin und München. Dabei ist Mama Odessa leise und reduziert geschrieben. Es wiederholen sich wie in Endlosschleifen etliche Besuche in der Altbauwohnung der sterbenden Mutter. Man wächst mit ihm aus der Wohnung und seiner Kindheit heraus und wieder in die Wohnung und den Tod der Mutter hinein.
Man muss oft grinsen beim Lesen wegen der gestochen scharfen und plastischen Beschreibungen von Figuren und Städten. Man fliegt durch die pointierten Enden der kurzen Kapitel wie zB. in der Stelle in der Mischa mit dem Chefredakteur der „Welt“ im Chinarestaurant sitzt und überredet wird, einen Beitrag über die Judenverbrennung in Odessa zu schreiben:
„Nur eine Kellnerin stand allein hinter der Bar und verschwand im Halbdunkel wie eine gequälte Edward-Hopper-Figur.“(…)
„Euch?“
„Euch Juden“, sagte er völlig unbeschwert.(…)
„Ich wäre gern endlich mal nach Hause gefahren“, sagte ich, „aber es ist immer noch viel zu früh dafür.“
„I feel you“, sagte Ulrich, „ich bin auch nicht mehr gern in Regensburg.“
Vor allem aber wird das Buch immer wieder von kursiv gesetzten Kurzgeschichten der Mutter unterbrochen, die es ermöglichen (durch die geschickte Zusammenstellung des Buches) die Mutter-Sohn-Beziehung zwischen den Zeilen performativ nach zu vollziehen. Dadurch schwingt die Entstehung des Buches durchgehend mit. Die unterschiedlichen Schreibweisen stehen in einem reizvollen Kontrast zueinander. Allerdings wären die gelegentlichen Erklärungen zu den Geschichten nicht nötig gewesen.
Wenn sie unkommentiert zwischen Billers Schreiben stünden, könnten sie eine noch größere Wirkung entfalten. Denn die Geschichten der Mutter verschmelzen Zeitgeschehen und Lebenslinien der Familienmitglieder miteinander. Sie haben etwas Tröstendes indem sie uns, aber auch Mischa ermöglichen durch das Lesen die vergangene Realität zu imaginieren. Was in Mischas Fall dazu führt, mit ihr gemeinsam, und weiter zu schreiben. Das Vergangene verlagert sich in die Zukunft und verbindet sich von selbst mit ihr aber muss nicht kommentiert werden.
In gewissem Sinne ist der Roman als Werk der Liebe zu verstehen. Biller spricht hier nicht von sich als „Liebenden“, sondern es wird zitiert und von dem gesprochen, den man liebt. Diejenigen zu benennen, die man liebt bedeutet ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und für sie Zeugnis abzulegen. So schreibt Biller seine Mutter lebendig und macht sie damit unsterblich. Das „Journal de deuil“ von Roland Barthes erinnert stark an diese Thematik. Es erkundet auch die Grenze zwischen Trauer und Sprache.
Ich möchte die Jubiläumsrede der Mutter Aljona Grinbaum in der jüdischen Abigail Bar zitieren, denn in ihr treffen alle Motive des Romans aufeinander und Mischas Blick auf ihren Humor, ihre kluge und brutale Art zu sprechen, wird hier deutlich.
„Danach lobte sie mit vielen schönen aber oft auch falschen deutschen Adjektiven – „fantastisch“, „genial“, übernatürlich“ – das Essen, das es im Abigail gab, vor allem die Matzeknödelsuppe, die sie irgendwann selbst nachzukochen begann. Erst zum Schluss und auch nur sehr kurz kam meine Mutter zum eigentlichen Thema ihres Vortrags – zur Nelly-Sachs-Loge. Hier wurde ihre Sprache plötzlich sehr hart und fast fehlerlos. Nein, das alles klang garnicht mehr so rührend weiblich und ungelenk wie davor, das war eine kurze blutige, fast männliche Abrechnung, die ich von ihr nicht erwartet hatte. Jetzt ging es ihr darum, dass nichts was vergangen war wiederkommen konnte. Und dass Leute, die das trotzdem wollten, nur an sich selbst dachten, an ihren Ruhm, ihre eigenen Verletzungen und Sehnsüchte, weshalb sie lieber zum Psychiater gehen sollten, statt die guten Dibbuks von Werfel, Buber und Arendt aus ihren Gräbern herauszuzerren. Und dann das Ende: „Ich habe, liebe Freunde des Café Abigil und der Nelly-Sachs-Loge, in meinem Leben gelernt, dass man sich niemals Umdrehen soll. Dass die Geschichte von Frau Lot, die das trotzdem gemacht hat und dafür bestraft wurde, keine hübsche Grusel-Anekdote ist, sondern die weiseste Stelle in der ganzen Bibel. Auf weiter zehn Jahre, meine lieben Freunde, masel tov!“
Diese Ebenen der Wahrheit, des Wiederbelebens und des Umdrehens (vielleicht wegen Gründen des Selbstzwecks und des Ruhms), auch in Bezug auf das Verschwinden des Judentums in Deutschland werden hier verhandelt. So endet das Buch genial, nachdem das Sterben und der Krankheitsverlauf seiner Mutter so zartfühlend beschreiben ist, auf der letzten Seite des Romans dann doch wieder radikal ehrlich in seiner Selbstgefälligkeit, wenn er in dem Brief des Großvaters liest:
„Du bist noch viel talentierter als sie und ich,(…) das würde sogar ein Kalmücke erkennen, der grade von seinem eigenen Schnaps blind geworden ist.“ Im Gegensatz zum Schnaps des Kalmücken hat der Roman meine Sehkraft gesteigert. Die Hamburger Orte sind jetzt anders Wahrgenommene. Nach der Lektüre des Buches ist noch mehr zu erkennen wenn ich durch die Fenster meines alten Kinderzimmers der Feldstraße 49, den riesigen leeren Platz betrachte oder ganz vielleicht über den schiefen Poller neben dem Abaton gymnastiziere.
Kiepenheuer & Witsch, 2023, 240 Seiten, Hardcover
Maxim Biller
geboren 1960 in Prag, lebt seit 1970 in Deutschland. Von ihm sind bisher u.a. erschienen: der Roman »Die Tochter«, die Erzählbände »Sieben Versuche zu lieben«, »Land der Väter und Verräter« und »Bernsteintage«. Seinen Liebesroman »Esra« lobte die FAS als »kompromisslos modernes, in der Zeitgenossenschaft seiner Sprache radikales Buch«. Billers Bücher wurden in neunzehn Sprachen übersetzt. Bereits nach seinem Erstling »Wenn ich einmal reich und tot bin« (1990) wurde er von der Kritik mit Heinrich Böll, Wolfgang Koeppen und Philip Roth verglichen. Zuletzt erschienen sein Memoir »Der gebrauchte Jude« (2009), die Novelle »Im Kopf von Bruno Schulz« (2013) sowie der Roman »Biografie« (2016), den die SZ sein »Opus Magnum« nannte. Sein Bestseller »Sechs Koffer« stand auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2018. Über den Roman »Der falsche Gruß« (2021) schrieb die NZZ: »Das ist große Kunst.«