Kjell, sagt sie immer wieder, und ich frage mich, was das sein soll. So viele Geheimnisse lauern da draußen und ich habe nichts als ihre Bilder. Hier ist es so dunkel.
Kjell, sagt sie, wenn du erst den Raureif an einem kühlen Wintermorgen siehst, wirst du verstehen, was ich meine. Nichts leuchtet mehr, weißt du. Wie Puderzucker bedeckt er die kargen Äste. Und das dunkle Grün der Fichten ist dann pastell. Selbst der Himmel erstrahlt bleich. Und Kjell, könntest du das Eichhörnchen sehen, das sich geschickt auf den nächsten Zweig schwingt. Könntest du sehen, wie still alles ist. Nur die höchsten Baumwipfel wiegen sanft im Wind. Die Rinde schimmert rot und kein Schnee liegt auf der Wiese in unserem Garten, aber es sieht so aus. Weißt du, wieso es so aussieht? Es ist der Raureif …
Der Raureif. Ich kann ihn vor mir sehen. Er glimmt violett, so wie meine ganze Welt. Und draußen muss es warm sein, so wie alles warm ist. Eichhörnchen schwimmen genauso behände wie ich, sie schweben schwerelos. So muss es sein.
Kjell, Kjell. Es ist ein Zauberwort. Wüsste ich nur, was sie damit beschwören will!
Kjell, sagt sie, wir werden ans Meer gehen. Das musst du sehen! Wie winzige Punkte auf dem azurblauen Spiegel glitzern und niemand weiß, was sie sind! Und wie die Wogen der Wellen das bedrohliche Tief hin und her wiegen wie eine Mutter ihr Kind. Ganz nah beim Strand ist das Wasser heller. Wenn wir dort im Sand sitzen, unsere nackten Füße sich unter die glatt geschliffenen Steine wühlen, die Hände Muster in den Boden malen, dann sehen wir hinüber zu den flachen Bergen, die hinter dem Meer schlafen. Es ist ein Fjord, Kjell. Erst wie ein See, vom Land umrundet, und dann führt er ins Meer. Also, eigentlich ist es das Meer selbst, aber der Name ist anders, Kjell … Kjell … Die Hügel, sie sind moosgrün, sie liegen da wie ein schlummernder Riese, und Riesen, solltest du wissen, die gibt es wirklich. Irgendwann wachen sie auf, genau wie du. Und irgendwann waren sie mal so klein wie du. Alles wächst, Kjell. Ganz langsam, aber es wächst. Nicht immer in die Länge, aber die Dinge wachsen. Die Wolken wachsen. Könntest du sie nur sehen! Sie wachsen vom Westen in den Osten, halten sich, umarmen sich. Sie treiben wie ein Schiff auf dem blassroten Firmament, kitzeln dieses kitschige Licht, ertränken es schwerblau.
Könntest du es sehen, Kjell … Wie sie wachsen! Dann drehen wir uns schwerfällig im Sand und legen uns mit dem Bauch in die Dünen. Und da wächst das Schilf. Lange, elegante Borsten, die der Wind miesepetrig in alle Richtungen zerrt. Er ist ein launischer Geselle, genau wie du, Kjell. Das Gestrüpp ist fast schwarz. Kaum zu glauben, dass so etwas an Land existiert. So muss die Welt unter dem Meer aussehen, aber genau weiß ich das auch nicht. Manche Büsche sind groß und eingebildet. Sie recken stolz das Kinn in die Luft und ihre Äste greifen nach dem Himmel. Aber sie sind auch erhaben. Manchmal denke ich, gleich fangen sie an zu singen. Ein Seemannslied vielleicht. Dann strecken sie sich, sie wollen so gern zu den Bergen auf der anderen Seite des Fjords, aber das geht nicht, denn ihre Wurzeln sind nun mal hier. Das ist ziemlich traurig, Kjell. Aber so ist es. Der kleine, dicke Busch gegenüber ist zufriedener mit seinem Platz. Er ist dicht gewachsen, er kann sich besser gegen die Versuchung des Windes schützen. Ach, könntest du es sehen, Kjell! Wenn das Schilf den Sand wie ein Igelfell bedeckt.
Wie der Albatros fliegt! Mit seiner schwarzen Braue, dem dunklen Blick und dem langen, gebogenen Schnabel. Kaum ein Vogel ist so viel in der Luft. Stell dir das vor, Kjell, du würdest dein ganzes Leben lang nur fliegen.
Aber das tue ich doch, denke ich mir. Ich schwimme, schwebe, fliege, mein ganzes Leben. Mit einer dunklen Braue.
Und sein Gefieder weiß wie der Schnee, flauschig wie ein neugeborenes Katzenjunges, mit breiten Flügelkanten, ein kurzer, grauer Schwanz, der im Wind wippt, durch die Himmelsströmung steuert. Stundenlang gleitet er über dem Wasser, ohne ein einziges Mal mit den Flügeln zu schlagen. Und irgendwann findet er sein Gegenstück. Seine zweite Hälfte. Sie umtanzen sich, kieken freudig, finden sich, lieben sich und bleiben beieinander. Ein Leben lang. Nur so ist das kalte, raue Land erträglich, in dem sie fliegen, schweben und kieken.
Ich weiß nicht, warum sich die Geschichten dann verändern. Aber das tun sie. Alles ist verkehrt. Vielleicht habe ja nur ich mich gedreht und damit auch die Welt.
Kjell, sagt sie. Kjell. Irgendwann zeige ich dir alles. Es gibt so viel. Dann werde ich dir eine Orchidee zeigen.
Sie klingt anders. Ihre Stimme ist wie der Raureif. Wie das dunkle Meer. Ich würde sie gerne trösten, aber ich weiß nicht wie. Meine Äste haben keinen Raum, um sich auszubreiten, dabei würde ich sie gerne umarmen.
Ich kann so wenig. Nur zuhören.
Kjell. Die Orchidee lässt ihren Kopf hängen. Ganz oben hängt sie an dem langen, giftgrünen Stiel, sie muss furchtbare Angst davor haben, herunterzufallen. Und sie hängt da ganz alleine. Wartet ihr ganzes Leben, bis sie verblüht. Sie kann nicht weg. Sie wartet. Aber worauf, Kjell? Sie hat ja keine Wahl.
Ein Schütteln geht durch ihre Stimme, und es schüttelt auch mich. Wir sind ganz stark verbunden. Alles, was sie sagt, trifft mich tief, weil ich ohne sie gar nicht bin. Jetzt schüttelt die ganze Welt uns hin und her. Wir sind wie ein Schiff, treiben langsam durch die schmale Öffnung, wo der Fjord Meer wird, auf den stürmischen Ozean. Und da draußen kann alles geschehen.
Wir sind allein, Kjell, sagt sie.
Dann hören die Geschichten ganz auf. Das Meer zieht sich zurück, mit dem wehmütigsten Seufzen, das ich je gehört habe, das Schiff landet auf hartem Grund und zerbricht in der Konfrontation mit dem Stein. Ein Gebirge, das vor langer Zeit hier gewachsen sein muss und eines Tages vom Meer überspült wurde. Der Riese, der ertrank. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er tot ist, denn er sagt nichts. Er erzählt keine Geschichten. Alles, was wächst, erzählt aber Geschichten. Ich denke inzwischen, dass Kjell Geschichte bedeuten muss.
Aber es bleibt still. Bis auf das Seufzen des Meeres. Dabei bin ich mir gar nicht mehr sicher, ob es das Meer ist, das seufzt, oder sie, die Geschichtenerzählerin. Es macht mich traurig.
In dieser Zeit stelle ich mir alles noch einmal genau vor. Den Raureif, die Fichten, das Eichhörnchen. Den Himmel. Das Meer, den Sand, die Berge und die Büsche. Das Schilf. Es ist wie ein Igelfell.
Kjell. Hast du je gesehen, wie Bücher fallen? Nein. Irgendwann zeige ich es dir. Es sind so viele Bücher, dass man sie gar nicht zählen kann. Es ist dunkel. Sie fallen. Die roten Buchrücken breiten sich aus wie ein Fallschirm und die weißen Seiten rascheln wie Blätter im Wind, flattern wie Schmetterlingsflügel, Zitronenfalter vielleicht. Was für ein Tohuwabohu! Rambazamba! Kannst du sie hören? Rsch … Rsch … Rsch … Sie stoßen gegeneinander, flüstern sich Buchstaben zu, Sprachen vermischen sich und du stürzt dich mit hinein, springst vom höchsten Regal, von oben, denkst du dir, sehen die Bücher aus wie eine Stadt, Dächer, die schief und schräg überall hinwachsen, wo noch Platz ist. Dann siehst du, dass du aufprallen wirst, dass du zerschellen wirst, zerbrechen wie eine Schneeflocke. Hörst du das Eis knacken? Die Zeit steht still.
Es tut nur kurz weh, Kjell. Dann bist du da.
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Aus: Larissa Böttcher, Elena Groß, Silvie Lang, Valentin Pretzer, Mara Schepsmeier (Hrsg.): Vielleicht waren wir Kinder. Edition Paechterhaus 2017.