Die Melancholie, so der ungarische Essayist László F. Földényi in seiner gleichnamigen Untersuchung, zeichne sich dadurch aus, dass sie sich an der Grenze von Sein und Nicht-Sein aufhalte. Der Melancholiker ist Augenzeuge der Vergänglichkeit und als solcher reiche seine Sprache oftmals nicht hin, um diese Erfahrung an der Schwelle von Tod und Leben auszudrücken. Er neige zum Schweigen, zu innerer Einkehr und Meditation, zum Rückzug aus der flüchtigen Welt und ihrer Erscheinungen. Doch insbesondere, wenn die Melancholie sich zur Sprache erhebt, liege in ihren Wörtern eine “nicht mitteilbare Welt verborgen, die gerade aber auch diesen Wörtern Leben gibt.”
In diesem Sinne sind sie vielleicht beide Melancholiker: Christian Lehnert, geboren 1969 in Dresden und Johannes von Patmos. Letzterer schrieb um etwa 95 n. Chr. das letzte kanonisierte Buch des Neuen Testaments – die Offenbarung; besser bekannt als die Apokalypse. “Ich lausche in die Ratlosigkeit der Wörter”, schreibt Lehnert und formuliert damit gewissermaßen eine Leseanleitung für sein neuestes Buch, in dem er nicht nur den eigenen Wörtern nachspürt.
In Das Haus und das Lamm. Fliegende Blätter zur Apokalypse des Johannes zieht Lehnert alle Register, die ihm als Lyriker, Preisträger für Nature Writing und vor allem studierter Theologe zur Verfügung stehen. Er verbindet in seinem Buch lyrische Prosa, Naturbetrachtung, Essay, Selbstbefragung und nicht zuletzt Bibelexegese. Spiegelbildlich stehen sich in alternierenden Kapiteln Das Haus und Das Lamm Welten gegenüber, die auf den ersten Blick kaum unterschiedlicher sein könnten.
Dort die dichten, apokalyptischen Bilderfluten des Johannes: gläserne Meere, thronende Könige, Scharen von Engeln, apokalyptische Reiter, ein teuflischer Drache und nicht zuletzt das geschächtete Lamm. Hier die Stille des erzgebirgischen Nirgendwo, wohin der Ich-Erzähler sich zurückgezogen hat. Er lebt in einem jahrhundertealten Haus und ernährt sich vom spärlichen Wuchs des Gartens und umliegenden Waldes, fastet, betet, zweifelt, beobachtet. Zurückgeworfen auf die Natur, stellt er sich fundamentale Fragen:
“Die Rippen des toten Tieres lagen frei, aber es hatte kaum Fleisch. Seine Beine hatten wohl nie aufrecht gestanden, eine Totgeburt? In der Leber wimmelten Ohrenbeißer. Ich starrte gebannt, in mitleidloßer Neugier auf den Körper, auf das Getier darin, den Umschlag vom Leib zum bloßen Lebensraum. Ich beobachtete die Maden, die durch die teils offene Speiseröhre krochen. Sie würden in wenigen Tagen als schillernde, blassblaue Florfliegen wie Schleier in der Sonne tanzen. Sinnliches Gewand des Todes: Sieh genau hin! Dort, die eingetrübten Augen, die Wurmlöcher in den Nüstern. Was für eine Welt war das eigentlich, in der ich lebte?”
Der Darwinismus der Natur stellt den Glauben auf die Probe. Angesichts eines Tümpels voller Kaulquappen und der geringen Überlebenschancen des Individuums grübelt der Erzähler: “Was bedeutet diese Verschwendung? […] Zählte die Kaulquappe vor dem Gott so wenig? Fast nichts?”
All diese Fragen nach dem Sinn führen ins Nichts und weisen doch irgendwohin. Ist der Mensch umgeben von leeren Zeichen oder stehen sie doch für irgendwas? Unklar bleibt, ob der christliche Glaube in diese Melancholie führte oder umgekehrt.
Auch sonst erfährt der Leser nicht viel über die Biografie dieses Erzählers. Ein Hund ist bei ihm, Frau und Kinder werden angedeutet, befinden sich aber längst an einem erzählerisch, räumlich und zeitlich nicht fassbaren Ort. “Ich war hier, weil ich allein sein wollte – oftmals auch ohne mich und ohne Wollen.”
Hin und wieder scheint er in einem archaisch anmutenden Dorf seelsorgerische Arbeit zu leisten. Seltene Momente zwischenmenschlicher Interaktion. Wobei nicht immer klar ist, wer spricht, wer handelt. Ein Subjekt, ein heiliger Geist oder die Dinge selbst? “Der sich eben für einen Bewohner hielt, war plötzlich bewohnt vom Haus”, denkt der Erzähler, während er den Dachstuhl repariert.
“Das Gebäude war in mir – mit seiner Konstruktion und seinen vielen Erinnerungen, seinen Geheimnissen, den Gängen und Kammern, den Schlafstätten und Nischen, den Regalen und den Truhen und den Kellern.”
In der Isolation des Hauses, durch das der kalte Wind pfeift, erfährt er leibhaftig das Eigenleben der Objekte, in den Schatten, Balken oder Generationen überdauernden Möbelstücken. Nächtens widmet er sich der Johannes-Offenbarung.
Es ist erstaunlich, welche theologischen, aber auch gesellschaftspolitischen Sinnhorizonte Lehnert aus diesem Text freilegt. Denn angesichts von Kriegen, Klimakatastrophen und politischer Regression ist es wohl kein Zufall, dass der Autor sich ausgerechnet einen Text vornimmt, der sich Apokalypse nennt. Dieser, so Lehnert, habe das europäische Denken über geschichtliche Zeit derart beeinflusst, dass wir uns seitdem stets im Wahrnehmungsmodus der Krise erfahren. Die Gegenwart kennt nur zwei Richtungen: Erlösung oder Untergang. Das ist seit jeher die Rhetorik der politischen Moderne, der Utopisten und Fanatiker, die im Namen der Göttin Zukunft Massengräber hinterließen. Melancholiker, der er ist, kennt Lehnert die Abgründe und Zwecklosigkeit der politischen Heilsbringer und Technik-Avantgardisten.
Doch ist er mitnichten ein plumper Reaktionärer oder möchte eremitengleich den Dingen ihren Lauf lassen. Er ist Zweifler und Suchender. Es gehört zu den Stärken seiner Exegese, eine Ambivalenz aufrechtzuerhalten, die sich weder einem vergangenen noch zukünftigen Jenseits verpflichtet fühlt.
Das Haus und das Lamm ist für den religiös unmusikalischen Leser ein schwer zu greifender Text. Zu reichhaltig und nicht zuletzt abgründig sind die Klänge, die er anstimmt. Er überfordert, denn er versucht von den letzten Dingen zu sprechen. Von Einsichten und Erfahrungen, die in eine schwindelerregende Transzendenz führen und sich zugleich im Hier und Jetzt in jedem Augenblick offenbaren und vollziehen.
Der Melancholiker ist immer auch ein Mystiker, weiß Földényi. Und wie andere vor ihm sucht Christian Lehnert Worte zu finden, wohin Worte nicht reichen. Die theologisch-essayistischen Interpretationen der Johannes-Apokalypse dienen dagegen zunächst als Geländer, mit dem Lehnert in seinen Glauben hinein- bzw. hinausführt. Doch trotz ihrer Gelehrsamkeit: irgendwann bricht das Geländer und alles scheint rätselhaft wie zuvor; wie die Bilder der Offenbarung selbst.
Während etwa der französische Schriftsteller Emmanuel Carrère in Das Reich Gottes seinen Glauben durch zeitliche Rückschau und fiktionalisierte Geschichtsschreibung auf reflexive Distanz hält, stehen Lehnert und dieses Buch mitten im Glauben. Mit ihm und durch ihn hindurch will der Erzähler eine Durchlässigkeit erzeugen, die die Subjekt-Objekt-Trennung des profanen Bewusstseins überwindet.
“Hat Johannes in seiner Apokalypse einen einzigen Augenblick beschrieben? Ein verdichtetes Zeitganzes, das sich für Sekundenbruchteile als Gesang der Cherubim und aller Engel verwirklichte: »Dem, der auf dem Thron sitzt, und dem Lamm sei Lob und Ehre und Preis und Gewalt von Ewigkeit zu Ewigkeit«?”
Darin liegt die Erlösung. “Ewigkeit ist Gegenwart.” Und darin liegt auch das eigentümliche Pathos des Buches. In der Radikalität des Unzeitgemäßen, jenseits eines linearen Fortschrittsdenkens. In der melancholischen Sehnsucht erkennt Lehnert, dass es nur das Jetzt gibt. Liegt in dieser Einsicht ein Mittel gegen das Krisenbewusstsein unserer Tage?
Suhrkamp, 2023, 250 Seiten, Hardcover
Christian Lehnert
Christian Lehnert, geboren 1969 in Dresden, ist Dichter und Theologe. Er leitet das Liturgiewissenschaftliche Institut an der Universität Leipzig. Seit mehr als 25 Jahren erscheinen im Suhrkamp Verlag Gedichtbücher und Prosabände, für die er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurde, zuletzt mit dem Deutschen Preis für Nature Writing (2018).