Der Paradies Garden ist der größte Eisbecher, den das Venezia zu bieten hat. Und Elena Fischers Debütroman. Die Autorin erzählt über Mutter-Tochter-Beziehungen, Freiheit und über das Fehlen und Suchen des biologischen Vaters, doch das bleibt letztendlich irgendwie Nebensache. Ein Familienroman, der, wenn die Tränen erstmal weggewischt sind, auf jeden Fall zum Lächeln bringt.
„Meine Mutter starb diesen Sommer“ – Mit diesen Worten beginnt die Geschichte der 14-jährigen Billie, die sich nichts mehr wünscht, als endlich mit ihrer Mutter in den Sommerurlaub zu fahren. Billie und ihre Mutter Marika leben in prekären Verhältnissen, in einer Hochhaussiedlung am Rande irgendeiner Stadt. Und obwohl das Geld meistens nur noch für Nudeln mit Ketchup reicht, scheint es, dank eines kleinen Gewinns bei einer Radiolotterie, diesen Sommer anders zu sein. Doch der Traum zerplatzt, als Billies Großmutter aus Ungarn plötzlich krank vor ihrer Haustür steht.
„Der Sommer meines Lebens endete, bevor er richtig begann. (…) Sie schloss meiner Großmutter die Tür auf, obwohl manche Türen geschlossen bleiben sollten. In dem Moment, als meine Großmutter unsere Wohnung betrat, hielt ich die Luft an und atmete nicht wieder aus.“
Doch der fehlende Urlaub gerät schnell in Vergessenheit, als Billie, wie aus dem Nichts, ihre Mutter beerdigen muss und fortan ganz alleine dasteht. „Am Tag, als meine Mutter starb, fiel ich auseinander. Übrig blieb eine Buchstabenfolge, die einmal mein Name gewesen war.“ Ihre konservative Großmutter existiert für sie kaum und so macht sie sich, um nicht im Heim bleiben zu müssen, auf die Suche nach ihrem Vater. Sie schnappt sich den alten TÜV-losen Nissan ihrer Mutter und beginnt ihre Reise. „Ich hatte zwei Ortsnamen und ein Foto. Ich hatte Zeit und ein Auto. Und ich hatte keinen Grund hierzubleiben.“
Auch wenn der im Diogenes Verlag erschienene Roman, der 1987 geborenen Elena Fischer, der bereits den Literaturförderpreis der Landeshauptstadt Mainz für junge Autorinnen und Autoren gewann, sowie 2023 für den Deutschen Buchpreis 2023 und den Debütpreis des Harbour Front Literaturfestivals nominiert war, vor allem von der Suche nach dem nie kennengelernten und verschollenen Vater handelt, ist es die Beziehung von Billie und ihrer Mutter, die vordergründig in den Bann zieht. Die Lesenden lernen Marika anhand von Billies Erinnerung kennen. Es sind besonders diese Rückblenden, die die intensive Beziehung von Billie und ihrer Mutter in diesem Familiendrama verdeutlichen.
Die beiden Gilmore Girls, ohne steinreiche Großeltern, führen eine berührende und starke Beziehung, die so wirkt, als könne sie jedes Abenteuer und alle Probleme dieser Welt überstehen. Auch nach dem Tod ihrer Mutter spricht Billie mit ihr, fragt sie nach Rat und erzählt ihr alles, was sie gerade erlebt. Und das, obwohl Billie schnell feststellen muss, dass sie ihre Mutter Marika vielleicht gar nicht so gut kannte, wie immer gedacht: „Meine Mutter war jedenfalls wie ein Gewässer, dem man nicht auf den Grund sehen konnte.“
Die studierte Filmwissenschaftlerin erzählt in ihrem Debüt stark szenisch und greift Themen wie Generationsunterschiede, Armut, Flucht, Identität, Herkunft, Einsamkeit als auch Vaterlosigkeit auf, die von der kraftvollen Ich-Erzählerin poetisch transportiert werden, ohne diese zu idealisieren. „Es war als hätte meine Mutter einen Teil von mir mitgenommen. Manchmal war ich nicht einmal mehr sicher, ob ich überhaupt noch da war.“ Wobei es letztendlich vor allem die Freiheit ist, die in dem häufig mit *Tschick* verglichenen Roman, primär im Vordergrund steht.
Billie fährt 72 Stunden, hört Janis Joplins Me and Bobby McGee aus den Autoboxen, schreibt unentwegt in ihr Notizbuch und erforscht die Grenzenlosigkeit ihres eigenen Daseins. „Vor mir erstreckten sich Felder, die an einen Wald grenzten, hinter mir lag die Stadt, dazwischen unsere Autobahn. Ich aß einen Schokoriegel und zog mein Notizheft noch einmal hervor. Ich schrieb: Der Nissan ist eine Rakete, und ich bin ein Astronaut, aber ohne Ausbildung.“ Denn obwohl Billie ihren Vater sucht, ist es die Freiheit, die sie findet. „Ich fuhr noch so lange weiter, bis die Welt weich gezeichnet vor mir lag.“
Mit der träumerischen Billie hat Elena Fischer eine kluge, fantasiebegabte Protagonistin geschaffen, die allegorisch und metaphorisch über Erwachsenwerden, Trauer, Verlust, Angst, Zweifel und Hoffnung spricht und einfach nicht aufgeben will, sondern sich entscheidet mutig zu sein. Berührend und knallhart mit Wärme und Tiefe schaukelt Billie zwischen dem Kindsein und dem Erwachsensein hin und her.
Ganz selbstverständlich vielleicht, dass die Nachbar:innen Luna, Ahmed und Uta oder Billies beste Freundin Lea, deshalb bloße unschattierte Umrisse bleiben. Ähnlich wie Ort und Zeit. Zudem passieren gerade gegen Ende hin ein oder zwei glückliche Zufälle zu viel, die an der Authentizität der Ereignisse kratzen. Doch trotzdem schafft es Paradies Garden, irgendwo zwischen Weinen und Lachen zu balancieren. Es ist vielleicht unrealistisch, oder einfach märchenhaft.
Der Roman behandelt die Frage: Was ist ein glückliches und gutes Leben? Ohne die Notwendigkeit aufzumachen, überhaupt Antworten liefern zu müssen. Und obwohl es sich, wie bei Tschick, um einen Coming-of-Age- und Road-Novel handelt, sind die beiden Romane kaum miteinander zu vergleichen. Denn Paradise Garden ist eine Entwicklungsgeschichte, vor allem aber ein Familienroman, wie Elena Fischer selbst im Interview mit der Zeit erzählt. Eine ergreifende Geschichte über die Freiheit einer Familie, die aus Mutter und Tochter besteht und auch über den Tod hinaus besteht.
Diogenes, 2023, 353 Seiten, Hardcover
Elena Fischer
Elena Fischer, geboren 1987, hat Komparatistik und Filmwissenschaft in Mainz studiert, wo sie mit ihrer Familie lebt. 2019 und 2020 nahm sie an der Darmstädter Textwerkstatt unter der Leitung von Kurt Drawert teil. Mit einem Auszug aus ihrem Debütroman Paradise Garden war sie 2021 Finalistin beim 29. open mike und gewann den Literaturförderpreis der Landeshauptstadt Mainz für junge Autorinnen und Autoren.