Dann ist man am Ende des Buches und man fragt sich “Wo ist der Fluss?” und auf Seite 1 steht nämlich “Wo ist der Fluss?” und dann liest man nochmal, weil am Anfang steht schon “Wo ist der Fluss” und dann fragt man sich dennoch am Ende “wo ist der Fluss”, weil viel bleibt nicht an einem, nur der Gedanke an das Gelesene, eine Spur vom Gelesenen bleibt und fordert auf zum erneuten Lesen und auch weil es sprachlich, ja sprachlich so schön ist, möchte man wieder an den Ort zurückkehren und umherschweifen, lädt es ein wieder besichtigt zu werden und Esther Kinsky beantwortet die Frage “wo ist der Fluss” mit “die Spur, die er zieht” und damit ist auch dieses Buch von Esther Kinsky der Fluss, die Spur der Spur, die wir lesen, was aber wiederum die Spur ist.
Und die Landschaft, also der Fluss, also eigentlich das Land liegt umher und es findet die Beschreibung statt, nämlich Esther Kinsky sammelt da Worte auf, aber auch eher Steine und vielleicht eher Wortsteine, und dazwischen verteilt, das darf nicht verloren gehen, dazwischen Birnholzschnitte von Christian Thanhäuser. Die strichigen Gebilde, die bewegenden Standbilder, nämlich die zackige Schrift der Schnitze, sie bilden die Dynamik, also fangen die Dynamik des Flusses auf, und gleichzeitig nämlich im selbigen Schritt schnitzen sie keine Genauigkeit, keine Präzision, keine VERBILDLICHUNG des Geschriebenen, sie stellen nicht das Geschriebene bildlich da, und dennoch unterstützen sie das Gelesene, denn in den Birnholzschnitten sind wir zum Schweifen gezwungen, zum Umherblicken, unaufhörlich ist es eine Abbildung ohne Fixpunkt.
Im Text ergeht es uns ähnlich und wir sind zum Umherschweigen (verschrieben: Umherschweifen) gezwungen und zum Weiterziehen und Weiterfliesen (verschrieben: Weiterlesen) getrieben, vor allem durch die Alliteration, sie verbindet die Worte, die Einzelheiten in ein Gewebe, das immer weiter verweist und uns so nicht stehen lässt.
beiSpiele: “gefallener gehäuftes”, “gescheuert gescharrt”, aber auch Wortähnlichkeiten in kurzen Abständen: “will es scheinen die scheuen rispen”, “Schwarze Schlangen auf den Straßen”.
Die Worte werden Teile der Landschaft und repräsentieren gleichzeitig, und stellen vor allem eine hierarchielose Landschaft da, weil nämlich im ganzen Buch nur wenig das Wasser stattfindet und viel alles andere, und zwar nämlich Steine, viele und Pflanzen und das Land, auch ein Tier, ein Salamander, und Menschen finden statt, aber nicht als Krone der Schöpfung, sondern als gleichberechtigter Anteil an der Landschaft. Im Titel tritt Fluss und Land als ein Wort auf, nämlich FlussLand und so liest es sich auch, die Trennung ist aufgehoben, fest und flüssig zusammen in einem Buch / Begriff. Und noch eine Hierarchie ist aufgebrochen, die des Ich. Der ganze Text, der sich auf knapp 90 Seiten mäandert, enthält kein Ich. Die Landschaft wird zum Subjekt.
Und so meint man nach dem ersten Lesen, es ist ein sprachliches Denkmal der Landschaft gewidmet und auch der Klappentext liest sich so und irgendwann beim 4.Besuch des Buches, wo es wieder gewohnt und doch einzigartig rauscht, öffnet sich eine weitere Dimension: Sprache und Landschaft stehen in Bijektion. Nicht nur von der Sprache gehen wir zur Landschaft, sondern auch von der Landschaft zur Sprache, die Landschaft ist Sprache geworden:
“auch die dünnen sätze / die der fluss sonst sagt”, “wir / sagen die kiesel / wären auch gerne wort”
Was lesen wir? eine Landschaft, die wir nicht sehen, eine sprachliche Landschaft und wir riechen ihre Spurigkeit, ihr abgelöst sein von einer Landschaft, die dort gesehen wurde (wahrscheinlich) und doch nicht sicher, ob die Fußspuren tritte oder Windspiele sind, doch wir lesen wieder, und wir verstehen immer nicht das ganze Ausmaß, aber was könnte es schöneres geben als etwas zu lesen, was sich einem nicht ganz erschließt? Wir als Lesende sind beteiligt, aber ichlos ausgeschlossen aus dem Text und darin hierarchisch, aber es gefällt. Vielleicht diese Kritik mit Esther Kinskys Worten nicht mehr als: “Abseits der sonne die sittsam / zur welke gefalteten blätter / des klees.”
Friedenauer Presse, 2023, 90 Seiten, Broschur
Esther Kinsky
Esther Kinsky, 1956 in Engelskirchen geboren, lebt in Berlin und in Battonya/Ungarn, nahe der Grenze zu Rumänien und Serbien. Sie ist Schriftstellerin und Übersetzerin aus dem Polnischen, Russischen und Englischen (u. a. Henry D. Thoreau, Lob der Wildnis). 2009 war sie für den Übersetzerpreis der Leipziger Buchmesse nominiert und erhielt den Paul-Celan-Preis.