und wir können zwar die Nationen aufheben, aber nicht das Befremden, wenn zwei Menschen aufeinandertreffen
Von einer Angestellten in den Vereinten Nationen
Man nennt uns Expats, und auch wir selbst nennen uns so, eine lapidare Kurzform, wie hingegossen an den Rand eines Pools, ein Status wie auf einer Vielfliegerkarte und in exklusiven Clubs, und natürlich bedeutet er auch, dass wir nicht dazugehören, nicht dort, wo wir gerade sind, und auch nicht mehr da, woher wir einmal kamen, diese Gegend oder Gemeinschaft, die man gefühlsdusselig Heimat nennt und die eben doch etwas mehr ist als nur Kitsch, was man spätestens dann merkt, wenn man sich nur ungenau an sie erinnert. […] Die Expats sind eine internationale Klasse, zu der nicht nur das Personal der Vereinten Nationen gehört, sondern auch Gesandte der weltweit agierenden Wirtschaftsunternehmen, der Botschaften und die Mitarbeiter der vielen Nichtregierungsorganisationen. Das Wort oder vielmehr seine vollständige Form, Expatriates, hat mich immer an Paria denken lassen, an Staaten- und Heimatlose, was ein blanker Zynismus wäre in einer Welt, die aus Flüchtlingscamps und Vertriebenenbussen, aus fehlschlagenden Repatriierungsprogrammen, aus tatsächlich Staaten- und Heimatlosen besteht. […] Es gab das Plus jamais ca, Never again, Nie wieder, aus dem heraus die UNO gegründet worden war, aber es verhinderte nicht, dass es wieder geschah, die Morde, Massaker, Genozide. […], und wie sehr auch immer diese Institutionen nicht genügten, wie sehr sie auch immer wieder versagten, die Vereinten Nationen, die internationalen Gerichte, glaubte ich ihnen doch, wann immer ich sie sah, den Farbrausch aus so vielen Flaggen hinter einem Pult oder Tisch oder Buffet, der uns daran erinnert, dass wir einmal zuversichtlich gewesen sind. […] und je länger ich […] arbeitete, desto weniger wusste ich, was ich von alldem halten sollte, von den Vereinten Nationen, die ein Traum gewesen waren, nur hatte ich jetzt keine Zeit mehr zum Träumen, ich lag immer öfter schlaflos in der Nacht, und wusste nicht, ob ich noch daran glaubte, an diese schwerfällige Weltgemeinschaft mit all ihren Missverständnissen, aber an was sonst.
Mira Weidner ist Mitarbeiterin der UN. Aufgewachsen in der Nähe von Bonn, geht sich nach Berlin und New York, wird dann nach Bujumbura geschickt, arbeitet schließlich in Genf. Als Verhandlungsführerin in der westlichen Welt schreibt sie Berichte, erarbeitet Statistiken und Lösungsansätze für diplomatische Sackgassen der Konflikte und Krisen in aller Welt und führt Gespräche, die dann wiederum zu Berichten abgefasst werden müssen.
Im globalen Süden ist Mira Expat, Gesicht der UN vor Ort in Burundi, Gesicht der Wahrheitskommission, die es geben soll, bevor ein Tribunal kommt – damit möglicherweise irgendwann der Genozid, oder sprechen wir noch von einem Massaker, nein das tut vermutlich niemand mehr, damit möglicherweise irgendwann die Schuldigen – oder sagt man eher Beteiligten, die Ausführenden – vor Gericht stehen. Mira jedenfalls soll die Geschichten der Menschen hören, soll berichten, von Verbesserungen und am besten nur von denen, von der eigentlich so guten Lage, die in Wahrheit doch so zerbrechlich scheint.
Als Privatleben führt Mira wenig Konstantes mit sich. Sehr viel weiß an den Wände, mal ergänzt durch einen kaputten Pool, immer in Gesellschaft von Leuten, die vielleicht gerade noch als so was wie Kollegen durchgehen. Mit denen man redet, wie schlimm doch alles sei, wie verzwickt und ob der Riesling auch kühl genug sei, in Bujumbura, in Burundi, im Osten Afrikas. Es gibt auch Affären, es gab mal einen festen Freund, doch erst als Mira Milan in Genf wiedertrifft – Milan, der ebenfalls für die UN arbeitet, den es zurückzieht in die Krisengebiete, oder einfach nur wegzieht vielleicht aus seinem Mutter-Vater-Kind-Leben, nein so kann man das nicht sagen – erst als Mira Milan wiedertrifft, der ihr Bruder auf Zeit war, als ihre eigene Familie auseinanderbrach, beginnt die Geschichte, die keine Geschichte sein soll.
Von Konstrukten der getrennten Welten
es gibt Situationen, in denen wir einfach nicht genügend kompetente Unschuld haben, um ein Land, eine Lage oder auch nur eine Liebe anders zu schultern, […] Schuld, Unschuld. Wir spielen uns klare Grenzen vor. Aber jeder Versuch, ein Land mit exakten Grenzlinien zu zeichnen, hat zu nichts als Absurditäten geführt. Daran sind mehr Menschen gestorben als an Malaria. Und dann versuchen wir es auch noch in unserem Alltag, unseren Beziehungen und sind überrascht, wenn wir genau daran scheitern, […] und wir können zwar die Nationen aufheben, aber nicht das Befremden, wenn zwei Menschen aufeinandertreffen
Wie erzählt man von der Welt, also nicht von einer sondern der Welt, die doch eine – und zwar Miras ist – und doch natürlich auch die Welt, die Weltgemeinschaft, die nicht nur Miras Leben (gar nicht so sehr) beeinflusst. Und wie erzählt man davon für eine Welt, die zu oft noch von einer Trennung zwischen privat und öffentlich, zwischen Person und Funktion ausgeht, ihre Institutionen und Handlungsempfehlungen, ja eine ganze Weltgemeinschaft tatsächlich auf dieser gedanklichen Trennung aufbaut?
Nora Bossong beschreibt die Verschränkung der großen mit der kleinen Welt, der Weltgemeinschaft mit Mira in einer Welt, die letztlich auf Grundlage der gemeinsamen Themen steht. Denselben Aspekte, die sowohl Miras Leben als auch die Weltlage ins Wanken bringen: Macht und Tatenlosigkeit, Streben und Versagen, Ansprüche und Vermessenheit, Beziehung und Abstoßung, Gleichgültigkeit und Hoffnung, Enttäuschung, Widersprüche. Und da Nora Bossong keinesfalls dozierend arbeitet, stehen zu Beginn dieser angestrebten Verschränkung von privat und öffentlich die gleichen Fragen an beide Welten.
Von Formen für Fragen und Antworten
Was haben wir erwartet? Dass wir mal eben aus der Schweiz anrücken, ein bisschen Stacheldraht um ein Gelände spannen und darin den Entwicklungserfolg eines Landes beschließen, für das sich niemand interessiert außerhalb der Mission? Oder doch lieber ein Ausflug nach Kenia, eine Safari mit Nashörnern und Giraffen, die es in Burundi nicht gab? Soll man noch Geduld haben oder sie verlieren? Du könntest zur Abwechslung mal mich retten, oder muss ich dafür die Staatsbürgerschaft irgendeiner verdammten Diktatur annehmen? Sucht man sich ein Leben aus? Oder lebt man es nicht eher? Was soll ich denn tun? Soll ich meinen Pass fälschen, damit man mir keine westliche Hegemonie unterstellt? Oder soll ich zu Hause sitzen, Ökogemüse schälen und den Frieden in meinem Vorgarten feiern? Möchten Sie vielleicht noch eine Beilage zu Ihrem Ketchup? Warum meinen eigentlich alle, die Welt retten zu müssen? Und warum verteidigst du dich so heftig? Verraten sie mir, warum sind Sie wirklich hier? Was suchst du eigentlich am Ende der Welt? Und wohin willst du? In den Himmel oder in den Sicherheitsrat? Wie willst du in der Welt bestehen, wenn du nicht mal Schubert spielen kannst?
Nora Bossong begibt sich auf die Suche, nicht nach Antworten auf die Fragen, sondern nach einer Struktur. Denn – und das bemerkt auch Mira selbst in ihrer Geschichte, die sie gern Märchen nennen würde, aber eins, dass nicht unbedingt weitererzählt werden müsse – es lässt sich wohl kaum linear erzählen, weder vom Weltgeschehen noch von einem Leben, dass in diesem Weltgeschehen beruflich angestellt ist. Rausziehen, aufgeben, abkapseln ist bei Bossong keine Option.
Jeden Satz konstruiert Nora Bossong mit Leichtigkeit zum Denkspiel in sich, das irgendwo anfängt, zwischendrin abschweift, sich fast verliert und dann doch zum Punkt kommt, nur, um im Nichts zu enden und das neue Irgendwo für den nächsten Satz vorzubereiten. Ein ständiges Suchen, nach dem hinter dem Wort, dem Gemeinten, dem, was wohl wirklich wichtig wäre vielleicht. Natürlich gelingen diese Sätze brillant und natürlich zeichnen sie in ihrer intelligenten Form gerade so immer wieder erschreckend klar, was Kausalitäten und reine Hauptsätze einfach nicht allein fassen können.
Das sind zum einen Personen und die Szene der Expats oder Aid-Worker oder UN- Diplomat*innen, die um die Welt ziehen und für deren treffende und scharfe Beschreibung Bossong erschreckend wenig Platz und Satz verwenden braucht. Ja, eigentlich reicht fast der Begriff der mitreisenden Gattin, um bereits vieles zu sagen, vieles, was sonst unbeschreibbar ein Gefühl des Unbehagens bleibt – und sie sagt noch viel mehr für alle, die schon einmal Expats oder Aid-Worker oder UN-Diplomat*innen trafen.
Zum anderen fasst Nora Bossong ebenjene weiten Thematiken, die sie in den Titeln der fünf Teile des Buches festhält: Frieden, Wahrheit, Gerechtigkeit, Versöhnung und Übergang. Antworten vermeidet Bossong offensichtlich paradigmatisch, aber gekonnt, ohne dadurch an Dringlichkeit zu verlieren und ins Allgemeine, Schwammige abzudriften. Denn auch ohne Antworten werden doch die verschiedensten Gefühle – der Tatendrang, die Hilflosigkeit, Unsicherheit oder Müdigkeit und Wut – zu einer Sicht auf die Welt auf unaufdringliche
Weise sehr plastisch; Bossong verdichtet etwas, eine längst vorhandene Ahnung, macht sie fassbar, ohne zu in Stein zu meißeln, ohne zu verkünden. Einfach, um Ausdruck zu geben.
Mit Schutzzone ist Nora Bossong die Konstruktion einer Geschichte gelungen, die sich über ein konkretes Leben an die großen Themen der Welt wagt. Anhand von brillant recherchierten Hintergründen zur UN und den Historien der Konflikte dieser Welt stellt sie neue Zusammenhänge her, in besonderer Weise berührend für alle die, die in die globalisierte Welt geschaut haben und denen das Erzählen von eben diesen Zusammenhängen meist schwerfällt. Doch Bossongs Metafragen der Verantwortung, Macht und Gleichgültigkeit sind Themen, die wohl heute alle angehen.